Der Genfer Unternehmer und Sammler Oscar Ghez hatte ein gutes Auge für verkannte Künstler. Deswegen umfasst seine Kollektion viele Werke von Malerinnen. Endlich sind die Meisterwerke des Genfer Petit Palais wieder öffentlich zu sehen: In der Fondation de l’Hermitage in Lausanne.
Oscar Ghez war ein Freigeist. Insbesondere, was die Kunst betrifft. Als Sammler verfolgte er seine eigenen Fährten. Auf Experten hörte er nicht. Abstrakte Kunst lehnte er kategorisch ab, sie war ihm zu seelenlos. Er liebte Bilder mit Menschen. Und unter den Künstlern die Vernachlässigten und Verkannten. Monet, Matisse, Picasso: Die Preise für diese Stars der klassischen Moderne hielt er für überzogen. Dafür befindet sich heute Gustave Caillebottes Pariser Ansicht «Le pont de l’Europe» in seiner Sammlung. Nachdem Caillebotte als visionärer Maler des Pariser Grossstadtlebens wiederentdeckt wurde, gilt nun dieses Gemälde als eine Ikone der französischen Malerei des 19. Jahrhunderts.
Das Werk zeigt eine Pariser Stadtansicht in kühner Perspektive. Passanten flanieren auf der Brücke über dem Bahnhof Saint-Lazare. Rauch von einer darunter vorbeifahrenden Dampflokomotive steigt auf. Der Blick verliert sich am Horizont in einer Häuserzeile. Das Bild eröffnet einen lichten Ausblick in die Zukunft der Moderne. Oscar Ghez kaufte es als eine Art Trost, nachdem er aus seinem jahrelangen Exil in den Vereinigten Staaten nach Frankreich zurückgekehrt war.
Geboren 1905 in Tunesien, machte Ghez als Unternehmer sein Vermögen in der Kautschukindustrie, erst in Italien, danach in Frankreich, bis 1938. Kunst begann der aus einer jüdischen Familie stammende Ghez erst nach dem Krieg zu sammeln. Ab 1945 durchstöberte er in seiner Freizeit die Pariser Antiquitätenläden. Sein Interesse galt zuerst chinesischen Jaden, Porzellan und Elfenbein, sodann alten Büchern. Mit seinem Sohn schlenderte er nach den Museumsbesuchen über die Pariser Flohmärkte und durch die Galerien der Stadt. Caillebottes Brücke kaufte er 1957. Das war der Anfang seiner Gemäldesammlung.
Ghez interessierte sich für die figurative Malerei. Die menschliche Figur zieht sich wie ein roter Faden durch sämtliche Stilrichtungen, die Eingang in seine Sammlung gefunden haben: vom Impressionismus über den Neoimpressionismus bis zu den modernistischen Bewegungen im Frankreich des frühen 20. Jahrhunderts wie Fauvismus, Kubismus, oder Surrealismus.
In den vierziger Jahren liess sich Ghez mit seiner Familie in Genf nieder. Dort erwarb er Mitte der sechziger Jahre unweit der Genfer Altstadt ein Haus im Stil der Neorenaissance. 1960 hatte sich Ghez von seinen Fabriken getrennt, um sich fortan auf seine Sammeltätigkeit zu konzentrieren. Sein Genfer Stadthaus in eleganter klassizistischer Architektur sollte ein Museum werden. Oscar Ghez gründete das Musée du Petit Palais.
Ab 1968 war die Sammlung eine bedeutende Adresse der Genfer Museenlandschaft. Nach der Schliessung der Institution für die Öffentlichkeit im Jahr 2000 waren die Werke der Sammlung von Oscar Ghez, der 1998 verstarb, nur noch verstreut als Leihgaben in Sonderausstellungen oder auf Sammlungstourneen ausserhalb der Schweiz rund um den Globus zu sehen. Die jetzige Präsentation der Kollektion in der Fondation de l’Hermitage in Lausanne ist daher ein Schweizer Kunstereignis. Im Fokus der Schau mit 136 ausgewählten Meisterwerken stehen die grossen Kunstströmungen der klassischen Moderne.
Verkannte Künstlerinnen
Es ist Oscar Ghez’ Eigensinn zu verdanken, dass sich seine Sammlung nicht wie viele andere Kollektionen der klassischen Moderne allein nach den grossen Künstlernamen ausrichtet. Weil Ghez ein Auge für die Verkannten und links liegen Gelassenen hatte, ist es nicht verwunderlich, dass sich in seiner Kollektion besonders viele Werke von Malerinnen befinden. In seinem antikonformistischen Geist kam er zur Überzeugung, dass diesen Künstlerinnen zu lange eine angemessene Anerkennung verweigert wurde.
Malerinnen wie Marie Bracquemond, Suzanne Valadon, Nathalie Kraemer oder Tamara de Lempicka fristeten lange ein Dasein gleichsam hinter dem Schleier der offiziellen Kunstwahrnehmung. Sozusagen symbolisch für diesen Missstand steht in der Sammlung von Oscar Ghez ein skizzenhaftes Ölporträt von Berthe Morisot – auch sie eine lange verkannte Malerin. Das Werk hat Édouard Manet gemalt. Es zeigt das blasse Gesicht der Künstlerin unscharf hinter einem schwarzen Schleier.
Viele dieser Malerinnen traten erst allmählich hinter dem Schleier der Missachtung hervor. Heute sind die meisten von ihnen anerkannte Grössen der Kunstgeschichte. Zu ihnen zählt etwa Tamara de Lempicka. Die aus einer polnisch-jüdischen Familie stammende Künstlerin ist heute berühmt für ihre weiblichen Ikonen. Für diese machte die Künstlerin Anleihen bei Picasso und den Kubisten, aber auch bei italienischen Altmeistern.
Während des Art-déco-Fiebers in Paris wurde Tamara de Lempicka zu einer der gefragtesten Malerinnen und verdiente mit ihrer Kunst viel Geld. Wie viele andere Künstlerinnen starb aber auch sie in Vergessenheit. In der Sammlung Ghez befindet sich das aus Art-déco-Ausstellungen gut bekannte Werk «Les deux amies» von 1923. Es zeigt zwei laszive Frauenakte mit knallrotem Lippenstift in kubistischem Interieur.
Tragische Liebesgeschichte
Hinter dem Schleier der Vergessenheit taucht in der Lausanner Ausstellung das Gesicht einer anderen Frau wie aus dem Nichts auf. Es ist das Selbstporträt von Jeanne Hébuterne aus dem Jahr 1916. Man kennt diese Frau beinahe nur als Muse und Geliebte von Amedeo Modigliani, der sie unzählige Male porträtiert hatte. Lange kaum bekannt war, dass Jeanne Hébuterne selber eine begnadete Malerin war, wie ihr berückendes Selbstbildnis offenbart. Es zeigt sie mit dichter, aufgesteckter Frisur und skeptischem Seitenblick.
Ihr Werk stand lange im Schatten ihres weltberühmten Lebensgefährten. Die von Modigliani gemalten Porträts einer jungen Schönheit mit blau schimmernden Augen sind denn auch der Grund, warum Jeanne Hébuterne der Nachwelt in Erinnerung geblieben ist.
Überdies steht ihr Name in Verbindung mit einer der tragischsten Liebschaften der Kunstgeschichte. Jeanne Hébuterne hegte eine intensive Liebe zu Modi, wie Amedeo Modigliani in den Künstlerkreisen von Montparnasse – in Anklang an das französische Wort «maudit» für «verflucht» – genannt wurde. Sie war dem dreizehn Jahre älteren Beau aus Italien und ausschweifenden Bohémien auf tragische Weise verfallen.
Jeanne Hébuterne wuchs in bürgerlichen Verhältnissen auf. Schon früh wurde ihr zeichnerisches Talent entdeckt. Gemeinsam mit ihrem ebenfalls künstlerisch talentierten, älteren Bruder konnte sie in Paris eine private Kunstschule besuchen. Es war damals die einzige Akademie, die weiblichen Schülern die Möglichkeit bot, Aktmalerei nach männlichen Modellen zu studieren. Die als still und zurückhaltend beschriebene Kunststudentin mit dem langen kastanienbraunen Haar lernte Modigliani in den Kreisen von Pablo Picasso, Diego Rivera, Constantin Brancusi und Jean Cocteau kennen. Und verliebte sich in ihn mit grosser Entschlossenheit.
Mit dieser Entscheidung wurde sie sozusagen zum Outlaw. Modigliani war zwar kein Unbekannter in der Pariser Kunstszene, aber völlig mittellos und ein exzessiver Trinker. Zusammen mit Jeanne Hébuterne bekam er eine Tochter und versprach ihr wiederholt, sie zu heiraten. Die Verbindung währte allerdings nur kurz. Gezeichnet von seiner Alkohol- und Drogensucht, starb Modigliani 1920 mit 35 Jahren im Hôpital de la Charité in Paris an Tuberkulose. Weniger als 48 Stunden später folgte ihm Jeanne Hébuterne in den Tod. Nachdem sie von ihrer streng katholischen Familie verstossen worden war, sprang sie, 21 Jahre alt und im achten Monat erneut schwanger von Modigliani, aus dem fünften Stock des elterlichen Hauses.
Die meisten von Jeanne Hébuternes Bildern – rund zwanzig Werke, darunter Gemälde, Zeichnungen und Aquarelle – wurden 1992 in einem Keller gefunden. 2018 erzielte eines ihrer Selbstporträts auf einer Auktion bei Christie’s knapp 250 000 Dollar.
«Kunstschätze aus dem Genfer Petit Palais», Fondation de l’Hermitage, Lausanne, bis 1. Juni. Katalog: Fr. 45.–.