In Südkorea, Japan, Taiwan und den Philippinen geht es in der Politik drunter und drüber. Amerikas erste Verteidigungslinie im Westpazifik bröckelt.
China hat eine Küste von rund 14 500 Kilometern Länge. Das riesige Land grenzt ans Gelbe Meer, das Ostchinesische Meer und das Südchinesische Meer. Doch all diese Gewässer sind Binnenmeere. Hunderte von Inseln trennt sie vom offenen Pazifik – die breiteste Durchfahrt, die Miyako-Strasse in der japanischen Okinawa-Kette, ist weniger als 250 Kilometer breit.
Diese geografische Gegebenheit wäre für Peking kein grösseres Problem, wenn die Länder vor seiner Küste – Südkorea, Japan, Taiwan und die Philippinen – nicht alle eng mit den Vereinigten Staaten verbunden wären. Seoul, Tokio und Manila haben seit mehr als sechzig Jahren Verteidigungsabkommen mit Washington. Insgesamt fast 80 000 amerikanische Soldaten sind vor allem in Japan und Südkorea stationiert.
Amerikas Netzwerk in Asien ist komplex und fragil
Was aus Pekinger Sicht eine Einengung ist, präsentiert sich für die Amerikaner als erste Verteidigungslinie. Darum sprechen sie von der ersten Inselkette (eine zweite liegt weiter östlich und zieht sich von Japans Ogasawara-Inseln über Guam und Palau nach Indonesien). Dank eigenen Stützpunkten und Informationen ihrer Alliierten wissen die Amerikaner immer, wenn Schiffe und U-Boote der Marine der Volksbefreiungsarmee in den Pazifik fahren.
Gegenwärtig dürften chinesische Strategen etwas weniger besorgt auf die Inselkette blicken als auch schon. Denn in allen vier Ländern herrscht politische Lähmung oder geradezu Chaos – die Demokratien zeigen sich von ihrer schwächsten Seite. Und das in einer Zeit, wo die klare Führung aus Washington fehlt. Wohin die Reise unter Trump 2.0 geht, ist unklar.
Donald Trumps Vorgänger Joe Biden hatte viel Wert darauf gelegt, das Netzwerk von Verbündeten und Partnern im Indopazifik zu stärken, zu dem auch Australien und Indien in der Quad zählen. In diesem losen Verbund arbeiten Japan, die USA, Indien und Australien in sicherheitspolitischen Fragen zusammen. Da die Beziehungen nicht bloss bilateral zwischen Washington und den einzelnen Partnern laufen, sondern auch zwischen ihnen, sprechen die Amerikaner von einem «latticework», einem Gitternetz.
Japan hatte unter Trump 1.0 die Führungsrolle übernommen
Dieses Gebilde ist komplex. Und fragil. Viel geschickte Diplomatie ist nötig, um es zu erhalten und zu entwickeln. Dafür ist Trump nicht bekannt. Wenn Washington die Führung vernachlässigt, müssten seine Partner diese Rolle zumindest teilweise übernehmen.
Wie das ginge, zeigte Japan, als Trump zum ersten Mal ins Amt kam. Als eine seiner ersten Amtshandlungen als Präsident zog er sich aus der Trans-Pacific Partnership zurück. Damit warf er ein multilaterales Freihandelsabkommen über Bord, das sein Vorgänger Barack Obama mit dem Ziel aufgebaut hatte, den Ländern am Pazifik eine wirtschaftliche Alternative zu China zu bieten.
In die Bresche sprang der damalige japanische Ministerpräsident Shinzo Abe. Er erhielt das Abkommen am Leben. Mit dem Austritt der USA, der grössten Volkswirtschaft der Welt, verlor dieses allerdings an Bedeutung. Dafür bewirbt sich China um eine Mitgliedschaft.
Abe war auch massgeblich daran beteiligt, dass 2017 die Quad-Gruppe wiederbelebt wurde. Sein Konzept eines «freien und offenen Pazifiks», das auf internationales Recht und allgemein akzeptierte Regeln pocht, wurde von den USA und zahlreichen Partnern übernommen.
Japans heutiger Regierungschef kann die Rolle, die Abe spielte, nicht einnehmen. Die Position von Shigeru Ishiba ist schwach: Seine Regierung hat im Parlament keine Mehrheit – eine Seltenheit im Japan der Nachkriegszeit.
Kurz vor seinem Amtsantritt im Oktober brachte Ishiba die Idee einer «asiatischen Nato» auf. Das war diplomatisch ungeschickt: Peking beschwört immer wieder ein «Zusammenrotten» von Amerika wohlgesinnten Ländern gegen sich herauf. Ishiba verschreckte auch alle in der Region, die eine Balance zwischen den rivalisierenden Grossmächten China und USA zu finden versuchen. Seither hält sich Ishiba mit grossen sicherheitspolitischen Ideen zurück.
Die Annäherung Südkoreas an Japan ist in Gefahr
Während Japan politisch gelähmt ist, herrscht in Südkorea Chaos, seit Präsident Yoon Suk Yeol Anfang Dezember kurzfristig das Kriegsrecht ausgerufen hat. Zwar hat Koreas Demokratie den Härtetest bestanden: Das Kriegsrecht wurde nach Stunden aufgehoben, und Yoon sitzt mittlerweile in Haft. Doch es wird Monate dauern, bis das Amtsenthebungsverfahren gegen Yoon und wahrscheinliche Neuwahlen wieder stabile Verhältnisse schaffen.
Damit ist ein wichtiger Knotenpunkt im amerikanischen Gitternetz gefährdet, die trilaterale Zusammenarbeit zwischen Washington, Seoul und Tokio. Seit Jahrzehnten versuchen die USA ihre beiden engsten Alliierten in Ostasien zur Zusammenarbeit zu bewegen. Trotz der gemeinsamen Bedrohung durch Nordkorea und dem Druck durch China konnten sich Tokio und Seoul dazu lange nicht durchringen.
Es war Yoon Suk Yeol, der über historische Animositäten hinwegschaute, die Beziehungen zu Tokio verbesserte und so eine vertiefte Kooperation mit den USA ermöglichte. So teilen die drei Partner heute Daten über nordkoreanische Raketenstarts in Echtzeit. Wenn Yoon abgesetzt wird und die Opposition die Wahlen gewinnt, könnte dies schnell wieder Vergangenheit sein.
Taiwan riskiert, es sich mit Trump zu verscherzen
Die politische Situation in Taiwan ist ähnlich, wie jene in Südkorea vor Yoons Putschversuch war. Die Demokratisch-Progressive Partei stellt mit Lai Ching-te den Präsidenten, im Parlament hat jedoch die Kuomintang dank der Unterstützung einer Kleinpartei das Sagen. Taiwans beide politischen Pole sind sich wie in Südkorea spinnefeind – und schenken sich nichts.
So hat die Kuomintang grosse Budgetposten der Regierung Lai gestrichen oder eingefroren. Auch solche für die Verteidigung. Das ist bedenklich in Anbetracht der stetigen chinesischen Drohungen und jahrelangen rasanten Aufrüstung der Volksbefreiungsarmee. Zusätzlich setzen Taiwans streitsüchtige Politiker damit die Unterstützung der USA aufs Spiel, obwohl klar ist, dass die Insel einem chinesischen Angriff allein nicht standhalten könnte.
Dabei war man gewarnt: Im Wahlkampf hatte sich Donald Trump darüber beklagt, dass Taiwan Amerikas Chip-Geschäft gestohlen habe und die USA für die Verteidigung bezahlen müsse. Er forderte, dass Taiwan sein Verteidigungsbudget auf 10 Prozent seines Bruttoinlandprodukts erhöhen solle. Gegenwärtig liegt der Anteil bei knapp 2,5 Prozent – eine Vervierfachung ist völlig unrealistisch.
Für Chinas Führung ist die Frage, ob die USA Taiwan im Kriegsfall beistehen, die grösste Unbekannte. Washington lässt dies seit Jahrzehnten bewusst offen – signalisiert aber immer wieder, dass es einen chinesischen Angriff als Kriegsgrund sehen könnte. Joe Biden sagte gar mehrmals explizit, dass Washington die Insel verteidigen würde.
Taiwans innenpolitischer Streit schwächt die Abschreckung gegenüber China gleich doppelt: Taipeh sendet das verheerende Signal aus, dass es nicht bereit ist, seine eigene Verteidigung zu stärken. Und es setzt die Unterstützung seines wichtigsten Partners und einzigen namhaften Waffenlieferanten aufs Spiel. Peking könnte sich zu Abenteuern ermuntert sehen.
Heftige Familienfehde in den Philippinen
In den Philippinen, Amerikas südlichstem Anker in Ostasien, tragen die beiden mächtigsten politischen Familien eine offene Fehde aus. Die Marcos stellen mit Ferdinand Marcos den Präsidenten, die Dutertes mit Sara Duterte, der Tochter von Marcos’ Vorgänger, Rodrigo Duterte, die Vizepräsidentin. Statt zusammenzuarbeiten, beschimpfen sich beide Seiten, decken sich gar mit Morddrohungen ein. Die beiden höchsten Vertreter des philippinischen Staates werden separat gewählt – Marcos kann seine Vizepräsidentin also nicht einfach absetzen.
Derweil weitet China seine Präsenz in der Westphilippinischen See stetig aus. So bezeichnet Manila jenen Teil des Südchinesischen Meeres, den es als seine exklusive Wirtschaftszone betrachtet. Auf drei aufgeschütteten Inseln hat Peking riesige militärische Stützpunkte gebaut.
Und Chinas mächtige Küstenwache lässt nicht locker – immer grössere Teile des Südchinesischen Meeres werden für philippinische Fischer und Behörden unzugänglich. Denn Peking betrachtet fast das ganze Meer als sein Gewässer. Will Manila dem etwas entgegenhalten, braucht es nicht nur eine durchdachte und konsequente Strategie, sondern auch die Unterstützung der USA.
Ist die Demokratie die schlechteste Regierungsform?
«Die Demokratie ist die schlechteste Regierungsform», sagte der britische Premierminister Winston Churchill einst. In Peking dürfte man dieses Bonmot in Anbetracht der Blockaden und internen Streitereien in den ostasiatischen Demokratien gegenwärtig ziemlich wörtlich nehmen. Und dabei über Churchills alles entscheidenden Nachsatz – «abgesehen von allen anderen» – nur müde lächeln.
Die politische Spaltung in den demokratischen Ländern eröffnet der Kommunistischen Partei Chinas Möglichkeiten zur Einflussnahme, indem sie einzelne Gruppen umwirbt oder den lokalen Diskurs mit Fehlinformationen zu beeinflussen versucht. Gerade weil die führende Hand Washingtons gegenwärtig unstet ist, müssen sich die Politiker – und wenigen Politikerinnen – zusammenraufen und die Interessen ihrer Länder über ihre eigenen stellen.