Samstag, Oktober 5

José Ramos-Horta hat die Unabhängigkeit seines Landes wesentlich mitgeprägt. Er erklärt, warum sein Land seine Beziehungen zu China intensivieren möchte und warum er die Entwicklungen im Nahen Osten mit grosser Besorgnis sieht.

Der Präsidentenpalast im Herzen der timoresischen Hauptstadt Dili symbolisiert die Offenheit eines jungen Landes, dessen Demokratie und Medienfreiheit eine Vorbildfunktion für Südostasien hat. Sicherheitskontrollen gibt es keine, der Gast muss sich nicht einmal ausweisen.

Der Präsident empfängt im Konferenzzimmer. José Ramos-Horta tritt unprätentiös auf und bricht das Eis, als er davon erzählt, wie er als professioneller Fotograf mit analogen Kameras arbeitete. Ramos-Horta ist leger gekleidet, trägt ein weisses Hemd und eine blaue Weste. Seine Kleidung entwirft er selbst und lässt sie in Dili schneidern.

Ramos-Horta ist eine der prägendsten Figuren von Osttimors Kampf für Selbstbestimmung. Das Land war 450 Jahre lang eine Kolonie Portugals, bevor es Indonesien 1975 mit Zustimmung der Vereinigten Staaten okkupierte. Die Besetzung war blutig, Hunderttausende starben.

Während dieser Jahre kämpfte Ramos-Horta bei der Uno für die Unabhängigkeit Osttimors. Für sein Engagement erhielt der in den Niederlanden und Frankreich ausgebildete Völkerrechtler 1996 den Friedensnobelpreis.

Wenige Jahre später waren die Timorer am Ziel: 1999 stimmten sie in einem Referendum für die Unabhängigkeit. Seit dem 20. Mai 2002 ist das Land mit seinen nunmehr 1,3 Millionen Einwohnern selbstbestimmt, mit einer Verfassung, die an die portugiesische angelehnt ist. Ramos-Horta hat seither die Politik Osttimors in verschiedenen Ämtern (mit)bestimmt.

Herr Präsident, Indonesien hat 24 Jahre lang Ihr Land besetzt. An der Spitze von Spezialeinheiten der indonesischen Armee stand Prabowo Subianto, ihm werden Beteiligungen an Massakern vorgeworfen. Was haben Sie empfunden, als die Indonesier Prabowo kürzlich zum Präsidenten gewählt haben?

Ich war das erste Staatsoberhaupt, das Prabowo anrief und ihm gratulierte. Mein Kollege und Freund, der Regierungschef Xanana Gusmão, kennt ihn noch besser als ich, weil er ein Führer des Widerstands und damit ein Widersacher Prabowos während der Besetzung war. Sie sind inzwischen gute Freunde. Wir begrüssen seine Wahl. Prabowo ist hochgebildet, kennt die Welt. Für uns ist Vergangenheit Vergangenheit. Indonesien ist demokratisch, wir sind frei. Darin besteht für uns die grösste Gerechtigkeit.

Sie haben während der indonesischen Besetzung Geschwister verloren. Wie gelingt es Ihnen, trotz solchen Erfahrungen zu vergeben?

Die Jahre im Ausland, insbesondere bei den Vereinten Nationen, waren zu Beginn frustrierend, weil niemand viel über Osttimor wusste. Amerikas Regierung war meinem Land feindlich gesinnt. Sie unterstützte die Okkupation Osttimors. 90 Prozent der Waffen des indonesischen Militärs kamen aus den Vereinigten Staaten. Die Parallelen zur derzeitigen militärischen Unterstützung Israels sind unverkennbar. Natürlich war ich innerlich zornig. Im amerikanischen Kongress liess ich mir jedoch nichts anmerken, sondern baute Brücken. Wir brauchten Freunde. Und am Ende hatten wir viele Freunde unter den amerikanischen Politikern.

Können andere Völker im Kampf um Selbstbestimmung von Osttimor lernen?

Ich weiss nicht, ob jemand etwas von uns lernen sollte. Aber ich kann ein wenig von unserer Erfahrung berichten. Vor 20 Jahren habe ich einen Vortrag an der London School of Economics gehalten. Danach kam ein junger Palästinenser zu mir und sagte: ‹Bitte erklären Sie mir, warum Osttimor so klein und dennoch unabhängig ist. Millionen Palästinensern ist es dagegen nicht gelungen, in den vergangenen 60 Jahren ihre Unabhängigkeit zu erlangen.› Ich sagte ihm, dass jedes Land, jedes Volk seine eigene Geschichte, seine eigenen Erfahrungen, Emotionen und Motivationen hat. Und vielleicht reagieren sie auch unterschiedlich. Mein Land ist während seines Kampfes für Unabhängigkeit nie dem Hass erlegen. Wir haben Indonesien, die Indonesier als Volk oder Muslime (Osttimor ist mehrheitlich katholisch, Anm. d. Red.) nicht gehasst. Und wir haben die Chance ergriffen, als sich ein Fenster für unsere Unabhängigkeit öffnete.

Wie beurteilen sie die Lage in Gaza?

Wir haben viel Respekt gewonnen, weil wir während der 24-jährigen Besetzung Osttimors nie Gewalt gegen indonesische Zivilisten verübten. Zehntausende Zivilisten, Lehrer, Bauern, Beamte, Familienmitglieder von Militärs aus Indonesien waren in meinem Land stationiert. Wir töteten oder entführten jedoch nicht einen einzigen. Weil wir die Indonesier nie verteufelt haben, fiel es uns leichter, Amerikaner und Europäer von unseren Anliegen zu überzeugen. Hätten wir unschuldige Menschen entführt und getötet, wären wir heute nicht frei.

Was halten Sie von dem Strafbefehl des Internationalen Strafgerichtshofs ICC in Den Haag gegen drei Führer der Hamas, den israelischen Verteidigungsminister sowie den Regierungschef Benjamin Netanyahu?

Die Barbarei der Hamas am 7. Oktober ist unverzeihlich. Man kann seine Wut, seine Überzeugungen niemals mit der Tötung unschuldiger Menschen rechtfertigen. Die Führer der Hamas verdienen es, angeklagt zu werden. Aber der Vergeltungsschlag Israels, angeführt von Netanyahu, die Bombardierung des Gazastreifens, bei der Tausende von Menschen getötet und verwundet wurden, die totale Zerstörung, die Verweigerung humanitärer Hilfe. Das alles sind Kriegsverbrechen. Die Verfolgung Netanyahus durch die Richter in Den Haag ist gerechtfertigt.

In Ihrer Nachbarschaft gibt es auch Spannungen. Die Rivalität zwischen Amerika und China wird auch in Südostasien immer mehr spürbar. Wie ordnen Sie Osttimor in dem amerikanisch-chinesischen Konflikt ein?

Wir haben gute Beziehungen mit den Vereinigten Staaten und mit China. Aber wir sehen China mit anderen Augen als die Amerikaner. Die Chinesen stellen für niemanden eine Bedrohung dar, sie sind auf Frieden und Stabilität in Asien bedacht. Die chinesische Regierung weiss, dass sich ihr Land in einem fragilen regionalen Umfeld befindet. Jede falsche Massnahme in der Region, sei es in Taiwan, im Südchinesischen Meer oder im Territorialstreit mit Indien, würde eine Kette von Ereignissen in Gang setzen, die China und die ganze Welt für lange Zeit in den Abgrund ziehen würde. Die Chinesen sind umsichtig und pragmatisch.

Teilt China die gleichen Werte wie Osttimor?

Selbst in den sechziger Jahren, als China noch bitterarm war, halfen die Chinesen afrikanischen Ländern. Damals wollten Tansania und Sambia die Eisenbahnstrecke Tanzam Railway bauen. Alle westlichen Länder lehnten mit der Begründung ab, das Projekt ergebe keinen Sinn. Die Chinesen bauten die Strecke dennoch. Sie unterstützten auch die Unabhängigkeit Moçambiques, Kenyas und Angolas. So zeigten sie ihre Solidarität mit den Ländern der Dritten Welt. Auch das sind Werte.

Aber China ist keine Demokratie.

Ja, aber Demokratie ist nicht die einzige Regierungsform. Schauen Sie nach Amerika und Europa. Wegen des Versagens der liberalen Demokratie kommen extreme Rechte auf. Aber sie versprechen wie Linksextremisten zu viel. Wenn sie an die Macht kommen, herrscht das totale Chaos und Ernüchterung.

Im September vergangenen Jahres hat sich Osttimor mit Peking auf eine umfassende strategische Partnerschaft verständigt. Bindet sich Osttimors Militär an China?

Wir haben keine Verteidigungs- und Sicherheitszusammenarbeit mit China. Die Formulierung in der umfassenden strategischen Partnerschaft kann alles bedeuten. Es könnte zum Beispiel sein, dass China uns Drohnen mit Satellitenkommunikation zur Verfügung stellt, die wir für humanitäre Hilfsaktionen bei Erdbeben benötigen. In den 22 Jahren seit der Unabhängigkeit haben wir in Sicherheits- und Verteidigungsfragen hauptsächlich mit zwei Ländern zusammengearbeitet: mit dem Nato-Mitglied Portugal und Australien. Beide Länder bilden unsere Verteidigungskräfte aus. Australien arbeitet auch mit unserer Polizei zusammen. Die militärischen Ausrüstungen kommen grösstenteils aus dem Westen. Kein einziger Soldat hat an einer chinesischen Militärakademie studiert.

Wären Sie bereit, einem der beiden Grossmächte einen Militärstützpunkt in Ihrem Land anzubieten?

Nein, wir haben kein Interesse und keinen Bedarf. Wir haben zwischen 30 und 40 australische Militärberater, dann beraten uns noch rund 30 Portugiesen. Das ist alles.

Hat Osttimor schon von Chinas Belt-and-Road-Initiative profitiert, oder lehnen Sie chinesische Investitionen ab?

Unsere Staatsverschuldung beträgt nur 13 Prozent im Verhältnis zur Wirtschaftsleistung. Wir sind bei der Asiatischen Entwicklungsbank ADB, der Weltbank und der Japan International Cooperation Agency verschuldet. Wir haben keinen einzigen Cent an Krediten aus China. Wir setzen bei Investitionen auf öffentlich-private Partnerschaften. Unser grösster Frachthafen Tibar hat rund 400 Millionen Dollar gekostet. Der französische Mischkonzern Bolloré bekam den Zuschlag und betreibt ihn für 35 Jahre. Den Auftrag für den Bau bekam ein chinesisches Unternehmen. Aber China ist kein Investor.

Aber Sie schliessen nicht aus, dass Chinesen in Osttimor investieren.

Nein, ich wünsche mir das sogar und werde im Juli bei meinem China-Besuch versuchen, die Handelsbeziehungen auszubauen. Bisher haben wir auch noch nicht von der Belt-and-Road-Initiative profitiert. Wir haben keine Gelder von der asiatischen Investitionsbank AIIB mit Sitz in Peking erhalten. Das wird sich hoffentlich ändern.

Osttimor ist eines der ärmsten Länder der Welt. Würden Sie dennoch sagen, dass sich der Kampf für die Unabhängigkeit gelohnt hat?

2002 hatten wir gerade einmal 20 Ärzte. Heute haben wir 1200 Mediziner. 2002 hatten wir einen einzigen Doktor. Heute haben wir eine Handvoll Doktoren in den Sozial- und Geisteswissenschaften, Naturwissenschaften, in der Wirtschaft, der Landwirtschaft, der Technik. 2002 hatten wir eine einzige Universität, heute 17. Im Jahr 2002 lag die Lebenserwartung eines Timorers bei nicht einmal 60 Jahren, heute beträgt sie fast 70 Jahre. Wenn man sich unsere Hauptstadt Dili ansieht, ist sie nicht mehr mit 2002 zu vergleichen, als alles ausgebrannt war. Es ist also nicht alles so negativ, wie es die Medien darstellen.

Sie sind 74 Jahre alt, Regierungschef Gusmão ist 77-jährig. Wann machen Sie Platz für die Jungen?

Das Land wird nicht nur von uns beiden geführt. Viele junge Timorer gehören der Regierung an. Die Parlamentarier sind jung, nicht einer stammt aus der Generation der Widerstandskämpfer. Mehr als 30 Prozent der Abgeordneten sind Frauen. Es bleiben jedoch offene Fragen, weil es der jungen Generation noch an Erfahrung und der Pflege von Kontakten fehlt. Aber sie werden es lernen.

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