Seit einem Sturz vor zwei Jahren ist der britische Schriftsteller Hanif Kureishi vom Hals abwärts gelähmt. Sein Buch über das Unglück ist kein Elendsbericht, sondern zeugt von seiner Liebe zum Leben. Und seinem grimmigen Humor.
Hanif Kureishi sass am Tisch und sah sich ein Fussballspiel auf seinem iPad an. Dazu trank er ein Bier. Plötzlich verspürte er einen starken Schwindel und lehnte sich nach vorn. Ein paar Minuten später wachte er in einer Blutlache auf, mit grotesk verdrehtem Kopf.
Es war nur ein Schwindel gewesen, kein Schlaganfall, der den Sturz vom Stuhl verursachte. Hätte er in einem Sessel gesessen oder auf einem Sofa, so räsonierte er später, wäre es wohl anders gekommen. Es war ein Unglücksfall, unvorhersehbar, plötzlich, sinnlos. So kommentiert der britische Schriftsteller den Vorfall später, als er in einem Reha-Spital vielen Leuten begegnet, deren Leben eine ähnlich jähe Wendung nahm.
Seit seinem Sturz vor zwei Jahren ist Hanif Kureishi vom Hals abwärts querschnittgelähmt. Erst ein Jahr später kann er eine Hand wieder minimal bewegen. Dazwischen liegt eine Zeit ununterbrochener Spitalaufenthalte. Der Autor, der als Verfasser des Drehbuchs zu «My Beautiful Laundrette» (1985) und durch den Roman «Buddha of Suburbia» (1990) berühmt wurde, beschreibt diese Zeit in seinem gerade erschienenen Buch «Shattered» («Zerbrochen»). Dieses geht aus Nachrichten hervor, die er vom Krankenbett aus auf Twitter gepostet hat. Kureishi erzählt vom Schock des Ereignisses und seines lebenslangen Nachspiels.
Das Ergebnis ist keine «misery memoir», kein Elendsbericht. Dafür ist Kureishi zu direkt, zu witzig, dafür liebt er die – gelegentlich auch vulgäre, fast kindliche – Provokation zu sehr. Und er liebt das Leben.
Wer lange Zeit als Patient in Spitälern verbracht hat, wird sich in seinen Beschreibungen wiederfinden. Die Gesunden macht er mit den Besonderheiten dieser hermetischen Welt vertraut. Kureishi schreibt, dass es eine Täuschung sei, zu glauben, ein gesundes Leben sei normal. Die meisten würden eines Tages das Gegenteil erleben.
Der Patient wird zum Objekt
Kureishis Welt hat sich durch das Unglück aber nicht etwa verkleinert. «Eingesargt» in seinen Körper «wie eine Edgar-Allan-Poe-Figur» führt der Autor uns in den Mikrokosmos seines Krankenhauszimmers. Dieses Zimmer sieht er zu Beginn nur ausschnittweise, weil er den Kopf kaum drehen kann. Wenn er am Ende lernt, sich im Rollstuhl zu bewegen, liest sich das wie ein Triumph, auch wenn sich sein Aktionsradius nur bis zur Cafeteria erstreckt.
Als Patient fühlt sich Kureishi zuweilen wie ein Objekt. Sein Körper wird zum routiniert beackerten Arbeitsfeld von Ärzten, Krankenschwestern und Physiotherapeuten, seine Körperfunktionen werden zur halböffentlichen Angelegenheit des Personals, das seinen ganzen Ehrgeiz in deren Effizienz setzt. Das malt er so genau und mit robusten Worten aus, dass seine Frau ihn fragt, ob das die Leser denn wirklich interessiere. Genau das interessiere die Leser, antwortet der Autor.
Seine Krankheit wirkt sich auf sein Leben so stark aus, dass sich Fragen der Identität, wie sie ihn immer beschäftigt haben, neu stellen: «Paki, Schriftsteller, Krüppel – was bin ich jetzt?», schreibt er. Dabei kommt Kureishis Vater aus Indien und nicht aus Pakistan, seine Mutter war Engländerin. «Paki» war ein Schimpfwort seiner Mitschüler für ihn. Nur eine Gewissheit bleibt Kureishi: Schreiben ist der Mittelpunkt seiner Existenz. Er bezeichnete sich schon als Schriftsteller, bevor er nur eine Zeile zu Papier gebracht hatte. Weil er wusste, dass er es würde.
Der Versehrte glaubt weiterhin, dass das Verfassen von Literatur vor allem dazu diene, das Publikum zu unterhalten und zu entzücken. Und so hält er es auch in «Shattered»: Momente der allertiefsten Verzweiflung beschreibt er knapp. Qualvolle Nächte, tiefe Einsamkeit, dazu die vielen Abschiede, die er als Schwerstbehinderter von seinem alten Leben nehmen muss. Er verliert seine Bewegungsfreiheit fast vollständig, in seiner Sexualität ist er eingeschränkt. An diese erinnert er sich wie an ein fernes, in ihrer Bedeutung überschätztes Spektakel.
Staunen über selbstlose Helfer
Zugleich erzählt Kureishi mit grimmigem Humor von dem, was ihm nach seinem Sturz zugewachsen ist. «Ich muss sagen, dass gelähmt zu sein eine grossartige Gelegenheit ist, neue Leute kennenzulernen», schreibt er. Damit meint er die Menschen im Spital – das Personal und die Patienten, deren Geschichten er ihnen zu entlocken versucht. Er nimmt sich empathischer wahr, erfährt die Zuneigung und Fürsorge von anderen. Er staunt, «wie viel die Menschen einander geben wollen; wie altruistisch sie sein können». Ob er selbst so wäre, wäre er an ihrer Stelle? Da ist er sich nicht so sicher.
Am tiefgreifendsten verändern sich Kureishis Beziehungen zu den Nahestehenden. Er diktierte das Buch seinen drei Söhnen und seiner Frau Isabella, die es aufschrieben. Die Bombe, die am Tag seines Falls in seinem Leben explodiert ist, trifft auch seine Familie existenziell. Kureishis Erlebnisbericht ist deshalb auch eine Danksagung und eine Liebeserklärung an alle, die ihn unterstützt und begleitet haben. Die Namensliste am Ende des Buchs, das er seiner Frau widmet, ist lang und umfasst Ärzte und Krankenschwestern, unbekannte und berühmte Freunde: den Schauspieler Daniel Day-Lewis, den Regisseur Stephen Frears, seinen verehrten und geliebten Kollegen Salman Rushdie, der jeden Tag mit ihm korrespondierte und der vier Monate vor Kureishis Sturz Opfer eines Attentats wurde – und darüber das Buch «Knife» schrieb.
In einer seltsamen Koinzidenz schreiben sich zwei brillante Autoren fast zeitgleich aus dem Schrecken und der Hilflosigkeit, aus dem Patienten- und Opferdasein heraus und setzen ihr Leben im Kopf und auf dem Papier neu zusammen. Beide glauben an die Kraft der Literatur. Das macht ihre Bücher zu solch denkwürdigen Überlebensgeschichten. Gerade Kureishi zeigt einen grossen Lebenswillen, Kampfstärke, Hoffnung und die Entschlossenheit, aus dem Schlimmsten das Beste zu machen. Für ihn sind Geschichten nicht nur «die raffinierteste Form der Unterhaltung», sondern auch «ein Versuch, etwas über das Leiden zu vermitteln».
Leben in der Erinnerung
Dabei verlässt Kureishi das Krankenbett immer wieder, blickt zurück auf seine Kindheit und Jugend, in denen er Rassismus erfuhr. Er gibt mit Sex- und Drogenabenteuern an. Er kritisiert den Zeitgeist, bekundet seine Mühe mit der Cancel-Kultur, welche Literatur auf eine angebliche Gegenwartstauglichkeit hin zurechtstutzt. Dann wieder erinnert er daran, dass viele Schwerbehinderte mit weniger Unterstützung und Geld aus den Reha-Zentren entlassen werden.
In einem Dokumentarfilm aus der BBC-Reihe «In My Own Words» blickt Hanif Kureishi ausführlicher auf sein Leben zurück, vor allem unter dem Prisma des aufkommenden islamischen Fundamentalismus, dessen Gefahren er früh erkannte. Er schrieb auch darüber. Besonders stolz ist er auf eines der ersten Werke, die sich damit befassten, den Film «Mein Sohn, der Fanatiker» von 1997, der auf seiner gleichnamigen Kurzgeschichte basiert und zu dem er das Drehbuch schrieb.
In der BBC-Dokumentation sagt er, er lebe in einer Zone von Krankheit und Tod. Er lässt sich von seiner Frau mit Glace füttern und erklärt: Im Vergleich zum Beginn seiner Behinderung fühle er sich heute wie Usain Bolt. Er habe viel im Leben erreicht, aber er sei ja noch nicht am Ende. Einen Plan für die nächsten Jahre habe er nicht, antwortet er auf die entsprechende Frage. Denn er habe die Unwägbarkeiten des Lebens am eigenen Leib erfahren, sagt er: Allein schon die Frage, wo er sich in den kommenden Jahren sehe, sei eine spätkapitalistische Schwachsinnsidee.
Hanif Kureishi: Shattered. London, 2024. Hamish Hamilton, an Imprint of Penguin Books. 328 S., Fr. 36.90. – Die deutsche Übersetzung unter dem Titel «Als meine Welt zerbrach» ist für den Herbst 2025 bei Luchterhand geplant.