In Jenin gehen die Sicherheitskräfte des Palästinenserpräsidenten Mahmud Abbas hart gegen militante Gruppen vor – das hat auch mit den Verhandlungen über einen Waffenstillstand im Gazastreifen zu tun.
Ein junger Mann aus Jenin fährt auf einem Motorrad vor ein gepanzertes Fahrzeug und hält an. Vor ihm sitzt offenbar sein jüngerer Bruder, der seinen Arm in die Höhe reckt. Eine Sekunde später ereignet sich die Tragödie: Schüsse fallen, das Motorrad und die beiden Menschen fallen um – der 19-jährige Palästinenser Rahbi Shalabi ist tot.
Vorfälle wie dieser ereignen sich nahezu täglich in der Stadt im nördlichen Westjordanland, wo Zusammenstösse militanter Palästinenser mit der israelischen Armee besonders häufig sind. Nur war das gepanzerte Auto, vor dem der 19-jährige Shalabi am vergangenen Montag hielt, kein israelisches, sondern eines der Palästinensischen Autonomiebehörde (PA).
Drei Tage nach dem Tod des jungen Mannes übernahm die PA die Verantwortung für den «Märtyrertod» des 19-Jährigen. Die Milizen aus Jenin, unter ihnen die Hamas und der Palästinensische Islamische Jihad, warfen der PA in einem Video vor, sich der gleichen Methoden wie die Israeli zu bedienen.
Wütende Männer mit Sturmgewehren zogen durch die Strassen Jenins und forderten den Sturz des Palästinenserpräsidenten Mahmud Abbas. Am Samstag töteten die Sicherheitskräfte der PA einen weiteren Mann, offenbar ein Mitglied der lokalen «Jenin-Brigaden», eines Zusammenschlusses von bewaffneten Gruppen in der Stadt. Palästinenser gehen mit grosser Härte gegen Palästinenser vor – droht dem Westjordanland ein Bürgerkrieg?
Die Demütigung der Autonomiebehörde
Dem Grosseinsatz der palästinensischen Sicherheitskräfte war eine Provokation der bewaffneten Gruppierungen in Jenin vorausgegangen. Vermummte Männer mit Sturmgewehren fuhren auf von der PA gestohlenen Autos durch das Zentrum der Stadt im nördlichen Westjordanland. Davon zirkulierten Videos in den sozialen Netzwerken, die ohnehin schon schwache Autonomiebehörde war gedemütigt.
Abbas und sein Ministerpräsident beschlossen zu handeln: Sie verlegten Sicherheitskräfte aus Ramallah und Jericho in den Norden, um gegen die Milizionäre vorzugehen. Ihr Ziel: die Fahrzeuge zurückbringen und die Verantwortlichen verhaften.
Es ist nicht das erste Mal, dass die PA gegen die bewaffneten Gruppen in Jenin vorgeht. Die korrupte Behörde hat dort schon lange nichts mehr zu sagen. «Aber dieses Mal ist es vollkommen anders», erzählt Ismael, ein junger Mann aus Jenin, in einer Sprachnachricht am Donnerstag. «Wir erleben eine tägliche Eskalation von beiden Seiten.» Verhandlungen zwischen den verfeindeten Palästinensergruppen seien erfolglos verblieben. «Viele können wegen der stetigen Schusswechsel ihrem normalen Leben nicht mehr nachgehen.»
Die Situation im Gazastreifen spielt eine Rolle
Im sogenannten Flüchtlingslager von Jenin gehe derweil ein Gerücht um: Die PA greife mit dieser Härte durch, weil die Verhandlungen über einen Waffenstillstand im Gazastreifen wieder einmal Fahrt aufgenommen hätten. Mit dem Einsatz wolle Abbas zeigen, dass er in der Lage sei, das Westjordanland unter Kontrolle zu bekommen – und sich damit auch als zukünftiger starker Mann im Gazastreifen präsentieren.
Ibrahim Dalalsheh hält das für plausibel. «Wichtig zu verstehen ist, dass die PA von den bewaffneten Gruppen extrem unter Druck gesetzt wurde – indem sie in gestohlenen Autos durch die Innenstadt fuhren, haben sie eine rote Linie überschritten», sagt der Leiter der palästinensischen Horizon-Denkfabrik mit Sitz in Ramallah im Gespräch. «Aber sicher gibt es auch eine Verbindung zum Gazastreifen, wo die PA darauf beharrt, dass sie die einzige legitime Kraft ist, die nach Kriegsende die Kontrolle übernehmen kann.»
Die Autonomiebehörde hat daher ein starkes Interesse daran, ein Zeichen zu setzen. Sollte sich der Eindruck verfestigen, dass Abbas nicht einmal im Zentrum von Jenin die öffentliche Ordnung aufrechterhält, kann er den Anspruch auf eine Regierungsbeteiligung im Gazastreifen aufgeben. Am Sonntag hielt der seit Tagen dauernde Einsatz der palästinensischen Sicherheitskräfte immer noch an.
Israel will keinen Einfluss der PA in Gaza
In den vergangenen Tagen hatten amerikanische und israelische Politiker immer wieder durchscheinen lassen, dass ein baldiges Ende der Kämpfe und die Freilassung der israelischen Geiseln möglich seien. Laut einem kürzlich veröffentlichten Bericht des «Wall Street Journal» hat die Hamas einer israelischen Truppenpräsenz in dem Küstenstreifen zugestimmt, auch nach dem Ende der Kämpfe.
Die Islamisten aus dem Gazastreifen sind in den vergangenen Wochen noch stärker unter Druck geraten. Nicht nur ist ihre Führungsriege weitgehend dezimiert, sondern auch ihr Unterstützer Iran ist nach den Hammerschlägen Israels gegen den Hizbullah und dem Sturz seines Verbündeten Bashar al-Asad in Syrien entschieden geschwächt.
Sollten beide Seiten tatsächlich einer Feuerpause zustimmen und der zerstörerische Krieg nach über einem Jahr enden, ist die Zukunft des Gazastreifens noch vollkommen offen. Israels Position ist unklar. Geht es nach dem Ministerpräsidenten Benjamin Netanyahu, sollen nicht näher definierte lokale Beamte die Verwaltung im Gazastreifen übernehmen.
Eine Beteiligung der PA an einer Nachkriegsordnung werde Israel jedoch um jeden Preis verhindern wollen, sagte ein enger Mitarbeiter Netanyahus vor wenigen Wochen einem westlichen Diplomaten im vertraulichen Gespräch. Sollten die Kämpfe zwischen Abbas’ Behörde und den Milizionären in Jenin eskalieren, hätte Israel damit leichtes Spiel.

