Eine kritische Analyse des Kriegs in Nahost verspricht Pankaj Mishra in seinem neuen Buch. Doch der Blick durch die postkoloniale Brille lässt den indischen Schriftsteller förmlich erblinden.
Schlechte Bücher können informativ, spannend und sogar lehrreich sein, Pankaj Mishras «Die Welt nach Gaza» ist so eins. Für Leser, die wissen möchten, wie radikale Postkolonialisten denken, ist der Versuch des indischen Historikers, die Tötung Abertausender von Menschen in Gaza intellektuell zu verorten, fast schon eine Offenbarung. Mishra präsentiert das ganze Kompendium postkolonialer Weltwahrnehmung mit all seinen verqueren Grundannahmen, Folgerungen, Tabus und blinden Flecken, und das in flüssiger, eleganter Sprache, versehen mit einer Fülle von Zitaten.
Davon abgesehen aber ist «Die Welt nach Gaza» eines der groteskesten publizistischen Elaborate der letzten Jahre. Dies ist Mishras Trick: Einerseits macht er deutlich, dass er die Juden mag, dass er viele von ihnen seit frühester Jugend bewundert, ja verehrt und dass er somit niemals des Antisemitismus bezichtigt werden darf.
Mit Genuss, man spürt es, zitiert er Heerscharen jüdischer Intellektueller von Hannah Arendt und Saul Bellow über Primo Levi bis Stefan Zweig als Zeugen seiner Hauptanklage, die da lautet: Wie kann es sein, dass sich das Volk, das Opfer des grauenvollsten Verbrechens des 20. Jahrhunderts wurde, eine Regierung zugelegt hat, die allem Anschein nach ohne Hemmung, schlechtes Gewissen oder Reue Zehntausende unschuldiger Menschen dahinschlachtet, wohlwissend, dass sie damit auch Sympathisanten in aller Welt verstört? Die Juden sind hier Seher und Mahner.
Anderseits lässt der Blick durch die postkoloniale Brille Mishra förmlich erblinden. Das Massaker der Hamas vom 7. Oktober 2023 wird anfangs kurz erwähnt als Fakt, als eine Art Naturereignis, dann taucht es kaum noch auf. Die Frage, ob es sich hier möglicherweise um Terror, um einen Zivilisationsbruch, also um Unentschuldbares, Böses gehandelt haben könnte, interessiert Mishra nicht.
Der Kolonialismus soll alles erklären
Er geht nicht so weit, Lobeshymnen auf die Hamas anzustimmen. Aber für ihn ist der 7. Oktober, ähnlich wie für die feministische Philosophin Judith Butler, offensichtlich ein legitimer Akt des Widerstandes gegen eine rassistische Kolonialmacht, die Araber vernichten will. Hier sind die Juden die Verbrecher. Über die Beweggründe der Araber aber, ihre Pläne, ihre Zwiste, ihre Hoffnungen, sonderbarerweise auch ihr Leid, erfahren wir bei Mishra nichts.
Dies sind die zentralen Thesen. Der Kolonialismus der Westmächte ist das alles erklärende Paradigma, ähnlich wie bei Marx der Klassenkampf. Ergo liegen die Wurzeln des Nazismus, der die Shoah zu verantworten hat, im Kolonialismus – und nicht etwa in den inhärenten Widersprüchen des Kapitalismus oder der Natur des Menschen.
Die Shoah war schlimm, das würde auch Mishra so sagen, aber sie war ein Verbrechen von vielen, und verhängnisvollerweise hat sich aus ihr ein philosemitischer Kult entwickelt, eine Art Holocaust-Fetischismus, der dafür gesorgt hat, dass breite Teile des Westens es nicht mehr wagen, Israel zu kritisieren. Die Juden sind zum «auserwählten Volk des Westens» geworden, die Erinnerungskultur ist ein reines Konstrukt mit der Zielsetzung, israelische Untaten des Bereichs des Kritisierbaren zu entheben. Oder wie die propalästinensischen Aktivisten in Berlin jeweils schreien: «Free Palestine from German guilt.»
All das ist weder neu noch aufsehenerregend, und einiges ist ansatzweise sogar richtig. Israel ist ein grossartiger demokratischer Staat geworden – aber gleichzeitig eben auch zum Hort ultranationalistischer, rassistischer Juden, die die Araber verachten, die expandieren wollen und, ohne mit der Wimper zu zucken, Gesetze brechen, auch israelische. Natürlich hat Israel in den Dezennien seit der Gründung einen betont maskulinen Kult der Stärke entwickelt, in dem der Tzabar, der starke, mutige, in Israel geborene Jude, die prägende Rolle spielt. Und natürlich hat das westliche Ausland, Amerika an erster Stelle, diese Entwicklung stets begrüsst.
Die Nazis der Gegenwart
Doch wenn sich offenbart, dass Mishra den «Genozid» in Gaza als neue Shoah, als universales Symbol moralischer Verkommenheit schlechthin, zu etablieren sucht, wird es widerwärtig. Kritik am eiskalten Vorgehen Israels in Gaza genügt ihm nicht. Die Juden sollen nicht nur die Bösen sein, sondern die Nazis der Gegenwart, Träger also jener ganz besonderen Dämonie, die die Welt anderen, profaneren Schurken stets vorenthalten hat.
Das entbehrt, erstens, jeder Verhältnismässigkeit und übergeht, zweitens, alle Indizien, die diesen Befund widerlegen könnten, mit fast schon gruseliger Konsequenz. Dass Israels Vorgehen die konsequente Antwort ist auf das fürchterlichste Pogrom seit dem Zweiten Weltkrieg? Egal. Dass es andere Kriege gibt – im Sudan, in Äthiopien und Myanmar – mit höheren Opferzahlen, aber ganz bestimmt nicht weniger ethnisch motiviertem Vernichtungswillen? Kein Wort darüber.
Dass sich eine Figur wie Saddam Hussein, der erst Iran angriff und dann mit genozidalem Furor über die Schiiten und die Kurden in seinem Land herfiel, als Fürst des absoluten Bösen möglicherweise besser eignete als die Juden, die sich gegen Länder und Völker wehren, die sie seit Jahrzehnten angreifen – was soll’s? Was nicht ins postkoloniale Schema passt, hat in diesem Buch keine Chance.
Trotz der kühnen Grundthese: Die kantige Positionierung ist Mishras Sache nicht. Er insinuiert, fragt, stellt zur Debatte oder denkt die Dinge an. Das wäre halbwegs erträglich, wenn es bei ihm nicht so unerhört postkolonial einseitig zuginge. So aber wirkt es lavierend bis feige. «Der Streit über die Frage, wie man die von Israel ausgeübte Gewalt bezeichnen soll – als legitime Selbstverteidigung, als gerechten Krieg in schwieriger städtischer Umgebung, als ethnische Säuberung und Verbrechen gegen die Menschlichkeit –, wird niemals beigelegt werden», schreibt er. In der Tat. Man hat den Eindruck, Mishra habe derartige Passagen auf Anraten seiner Londoner Verleger nachträglich ins Vorwort geschrieben. Zum Credo seines Buches stehen sie in krassem Widerspruch.
Unsinnige Analogien
Vielleicht am betrüblichsten aber ist, dass auch Mishra, wie so viele andere Kritiker des Westens vor ihm, die Menschen, denen seine Sympathie gehört, letztlich entmündigt. Wie schon erwähnt: Die Araber, die Palästinenser und letztlich sogar die Hamas werden kalt übergangen. Das Thema ist zu heikel, Mishra müsste eingestehen, dass seine Analogien unsinnig sind.
Das Buch beginnt mit einem Text des polnischen Dichters Czesław Miłosz, der beschreibt, wie während des Zweiten Weltkriegs die Todesschreie der Juden aus dem Ghetto in den friedlichen Warschauer Abend drangen und wie die Menschen darauf reagierten: «Wir sahen einander nicht in die Augen.»
Unmittelbar danach spricht Mishra von der «Vernichtung Gazas durch Israel», von der Ermordung Hunderter Menschen und Kinder, vom fatalen Komplizentum des Westens und von der grausamen Perversion eines Kriegs, in dem quasi live vor den Kameras der Welt gestorben wird. Die Suggestion ist klar. Die Israeli sind die Nazis, die geplagten Menschen von Gaza sind die jüdischen Opfer von damals, und Widerstand gegen die Nazi-Juden ist legitim.
Das Offensichtliche aber sieht Mishra nicht. Die Juden in Warschau waren so hilflos, wie man nur sein kann. Sie wehrten sich, weil sie wussten, dass sie getötet werden sollten, alle. Aber sie haben nicht jahrelang Raketen auf die Deutschen geschossen. Sie haben Deutschland nicht überfallen. Sie haben keine Frauen vergewaltigt, keine Kinder ermordet, sie haben Deutschland nicht zum Paria-Staat erklärt, der vernichtet werden müsse. Die aufständischen Juden in Warschau waren keine Terroristen. Der Versuch, die Hamas im Licht ihres Heldentums erstrahlen zu lassen, ist abscheulich und jämmerlich.
Mishra war anscheinend nie in Gaza. Er war im Westjordanland, 2008. Hätte er den Streifen besucht, er hätte feststellen können, dass die Politiker der Hamas keine ferngesteuerten Trottel sind, die nur auf den kolonialen Faschismus der Israeli reagieren, sondern Menschen aus Fleisch und Blut, die denken, planen und Böses aushecken können, ganz allein. Doch das passt nicht in die Zwangsjacke der postkolonialen Ideologie, und so kommen denn die Schlächter der Hamas in diesem Buch daher wie Marionetten an den Fäden höherer Mächte, ohne eigenen Willen und vor allem ohne das Privileg, Schuld auf sich zu laden. Die Macher in dieser Erzählung sind immer nur die Israeli und die Westler. Sie allein hält Mishra für intellektuell satisfaktionsfähig.
Schade. Mit einer etwas bescheideneren Analyse, mit harter Kritik an Israel und vernünftigeren Vergleichen hätte Mishra mehr erreicht. So aber, mit seinem absurden, jede Komplexität vernichtenden postkolonialen Zugriff und seinem vermessenen Anspruch, dem Bösen in der Welt eine neue politische Heimat zu geben, scheitert der Autor krachend.
Pankaj Mishra: Die Welt nach Gaza. Aus dem Englischen von Laura Su Bischoff. S.-Fischer-Verlag, Frankfurt am Main 2025. 304 S., Fr. 38.90.