Alessandra Benedetti / Corbis / Getty

Franziskus trat sein Pontifikat im Frühling 2013 mit einer klaren Ansage an: Reform. Grundstürzende Neuerungen gab es allerdings keine. Der Jesuit setzte auf eine Reform der kleinen Schritte. Am Ostermontag ist Franziskus mit 88-jährig gestorben. Ein Nachruf

Er kam vom Ende der Welt und hat den Abschied vom Eurozentrismus in der katholischen Kirche eingeleitet. Schon am Abend seiner Wahl setzte der Argentinier Jorge Mario Bergoglio neue Akzente. Für sein Pontifikat wählte er sich einen Namen, den sich noch kein Papst vor ihm gegeben hatte: Franziskus.

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Die Solidarität mit den Armen, der Gedanke der universalen Geschwisterlichkeit, aber auch die Sorge um das gemeinsame Haus der Erde waren mit dem Namen des Heiligen aus Assisi programmatisch gesetzt. Unmittelbar nach seiner Wahl hielt Franziskus von der Loggia des Petersdoms aus eine Ansprache, in der er den Wunsch äusserte, als Bischof von Rom mit dem Volk Gottes einen gemeinsamen Weg zu gehen. Bevor er den apostolischen Segen spendete, bat er die Gläubigen auf dem Petersplatz, für ihn zu beten.

Sein Pontifikat, das nach dem spektakulären Amtsverzicht von Benedikt XVI. im März 2013 begann, war von drei besonderen Akzenten geprägt. Zunächst war es sein Anliegen, den glaubensmüden Zeitgenossen das Evangelium nahezubringen und eine «Revolution der zärtlichen Liebe» anzuzetteln. Impulse des Konzilspapstes Paul VI. aufnehmend, hat er in seinem ersten apostolischen Schreiben «Evangelii gaudium» (2013) seine Vision einer erneuerten Kirche vorgelegt.

Mystik der offenen Augen

Die Kirche sei keine feste Burg, schrieb er da, sondern ein mobiles «Feldlazarett», das für die psychisch Verwundeten und religiös Suchenden da sein müsse. Statt narzisstisch um sich selbst zu kreisen, müsse die Kirche bereit sein, an die Peripherien zu gehen und sich der Not der anderen auszusetzen. In riskanten Randzonen könne die Freude des Evangeliums neu aufleuchten – eine Freude, die aus einer Mystik der offenen Augen erwachse und anders als Fun und Event das Leid nicht verdrängen müsse, weil sie durch die Erinnerung an die Leiden Christi hindurchgegangen sei.

Mit dem deutungsbedürftigen Stichwort der Evangelisierung hat Franziskus keine subtilen Strategien der Mitgliedergewinnung verbunden, vielmehr wollte er einen Lebensstil fördern, der sich aus dem vertieften Umgang mit der Heiligen Schrift und den spirituellen Angeboten der Kirche speist. Immer wieder sprach der erste Jesuit auf dem Stuhl Petri von der Kunst der geistlichen Unterscheidung, für die es eine Zeit der geduldigen Prüfung brauche.

Allergisch reagierte er auf das, was er geistliche Verweltlichung nannte. Eine satt gewordene Kirche, die ängstlich auf die Sicherung althergebrachter Privilegien ausgerichtet ist; einen Klerus, dem es statt um Dienst um feine Distinktionsmerkmale geht, hat er wiederholt scharf gegeisselt. Orthodoxiebeflissene Rechthaberei war seine Sache nicht. Unvergessen, wie er bei der Weihnachtsansprache 2016 den versammelten Kardinälen und Mitarbeitern der Kurie unverblümt einen Spiegel von Lastern vorhielt.

Der Ursprung des Glaubens

Es gehört zu den optischen Fehleinschätzungen, dass man den argentinischen Pontifex in Deutschland zur Projektionsfläche tiefgreifender Reforminteressen gemacht hat. Gewiss stand Franziskus mit Hans Küng in Kontakt – und hat im brieflichen Austausch auf alle Titel verzichtet. Zum Anhänger der Tübinger Reformagenden hat er sich – anders als manch deutscher Bischof – dennoch nicht gemausert.

Den Zölibat hat er nicht gelockert, das Frauenpriestertum nicht eingeführt, die Tür für die Segnung homosexueller Paare nur einen winzigen Spaltbreit geöffnet. Das hat Enttäuschungen provoziert. Die geradezu monomane Fixierung auf diesen Forderungskatalog hat viele übersehen lassen, dass der Bergoglio-Papst einen anderen Begriff von Reform hatte, der die verschütteten Quellen eines christlichen Lebensstils neu freilegen wollte.

Das oft beschworene Bild, der reformwillige Franziskus sei durch die römische Kurie ausgebremst worden, verkennt, dass er sehr wohl um seine Gestaltungsspielräume als Papst wusste und davon – gerade im Blick auf Personalentscheidungen – Gebrauch gemacht hat. Auf den Ursprung zurückzugehen und dem Glauben in den komplexen Lebenswelten heute ein ansprechendes Gesicht zu geben, war seine vorrangige Option.

Das Neue liegt an den Rändern

Irritiert hat ihn, dass die federführenden Akteure des Synodalen Weges in Deutschland den Primat der Evangelisierung nicht wirklich beachtet haben, den er 2019 in seinem Brief an das pilgernde Volk Gottes in Deutschland als Therapie empfohlen hatte. Das Wort, Deutschland brauche keine zweite evangelische Kirche, hat diesem Unmut öffentlich Ausdruck verliehen. Dabei hat Franziskus auf seine Weise kleine Schritte gesetzt, die die Kirche schon jetzt verändert haben.

Die Reform der Kurie hat ermöglicht, dass Frauen hohe Ämter im Vatikan besetzen können. Das Amt des «Präsidenten der Päpstlichen Kommission für die Stadt des Vatikanstaates» hat er 2025 erstmals in der Geschichte einer Ordensfrau übertragen. Die Tür für den Diakonat der Frau hat Franziskus, obwohl er sich selbst dagegen ausgesprochen hat, nicht ganz geschlossen und den Umgang mit wiederverheiratet Geschiedenen pastoral flexibler gestaltet. Die Änderung aber findet sich nicht im Haupttext der Enzyklika «Amoris laetitia», sondern in einer Fussnote. Auch hier muss man an die Peripherien gehen, um das Neue zu registrieren.

Der zweite Akzent ist seine Theologie der Barmherzigkeit. Schon der betagte Papst Johannes XXIII. (1958–1963) hatte in seiner Ansprache zur Eröffnung des Konzils gesagt, es gelte, um ein Aggiornamento einzuleiten, nicht die Waffen der Strenge, sondern das Heilmittel der Barmherzigkeit anzuwenden. Das Zweite Vatikanum hat diesen pontifikalen Wink aufgenommen und auf lehrhafte Verurteilungen und disziplinarische Grenzziehungen verzichtet.

Der eigentliche Name Gottes

Es wurde ausgeschlossen, andere auszuschliessen! Diesen einladenden Universalismus hat Franziskus fortgeschrieben. Die grosse Vision des Konzils, dass potenziell alle Menschen Adressaten des Heils sind – nicht nur die Gläubigen, sondern auch die Anders-, Halb- und Nichtgläubigen –, diese Vision geht implizit von einem Gott aus, der alle retten will. Das Gottesthema ist in den Texten des Konzils allerdings ekklesiologisch verschlüsselt oder nur knapp angedeutet. Franziskus hat diese Leerstelle gefüllt und 2015 ein Jahr der Barmherzigkeit ausgerufen.

Barmherzigkeit sei der eigentliche Name Gottes, dieses Attribut müsse ins Zentrum der Theologie gerückt werden. Dahinter steht die dialektische Pointe, dass Gott so gross ist, dass er auch klein werden kann, so mächtig, dass er auch die Gestalt der Ohnmacht annehmen kann. Das Kreuz auf Golgatha, der Weg Christi in die Erniedrigung von Armut, Leid und Tod sind für Franziskus Ausdruck dieser alle erreichen wollenden Barmherzigkeit gewesen.

Selbstverständlich ist das kein Freibrief für eine Banalisierung des Gottesbildes. Der Schrei der Opfer nach Gerechtigkeit darf nicht ungehört bleiben. Die barbarischen Exzesse in den politischen Diktaturen des 20. Jahrhunderts hat Franziskus nicht ausgeblendet. Aber anders als manche Theodizee-Theologien, die Gott auf die Anklagebank setzen und ihn als Schöpfer der Welt auch für die sich auftürmenden Trümmer der Leidensgeschichte verantwortlich machen, hat Franziskus die dunkle Seite der Geschichte dem Fehlverhalten der Menschen angelastet.

Wo war der Mensch?

«Wo war der Mensch?», hat er in seiner Rede in der Gedenkstätte in Yad Vashem gefragt. Dabei hat er die abgründigen Verbrechen auf das Mysterium des Bösen bezogen. Die Täter seien hier geradezu zu Werkzeugen des Teufels geworden. Die ungeschützte Rede vom Teufel, die auch in seinen Predigten vorkam, hat erstaunlich wenig Kritik vonseiten der akademischen Theologie gefunden, die sich sonst nicht scheut, dem römischen Lehramt Aufklärungsdefizite vorzuhalten.

Wer wie der Papst offen mit dem Diabolischen als Faktor der Geschichte rechnet, steht ja in Gefahr, einen metaphysischen Dualismus zu befördern und den Teufel zum Gegenspieler Gottes aufzuwerten. Auch ist riskant, mit Verweis auf die Macht des Bösen die Täter zu «Opfern» dämonischer Einflüsterungen zu stilisieren.

Der dritte Aspekt ist die Stärkung kollegialer und synodaler Elemente in der Kirche. Franziskus hat gleich zu Beginn seines Pontifikats gesehen, dass es eine Überforderung ist, die kulturell polyzentrische Weltkirche allein zu leiten. Um den römischen Zentralismus abzufedern, hat er einen Rat von Kardinälen eingerichtet, der die Erfahrungen der kulturellen Grossräume in die Leitung der Gesamtkirche einbringen sollte. Damit hat sich die päpstliche Amtsführung in Richtung eines Communio-Primats fortentwickelt.

Zugleich hat der Bergoglio-Papst einen neuen synodalen Kommunikationsstil in der Kirche implementiert. Tabuthemen und Schweigegebote sollte es nicht mehr geben. Im Sinne des «Freimuts» (parrhesia) sollten alle Probleme offen ausgesprochen werden – und zwar von allen! Die Gläubigen hat er durch Fragebögen in die synodale Verständigung eingebunden und zur Moderation der konfliktträchtigen Themen das Instrument der Bischofssynode gestärkt.

Regionale Reformprojekte

Nach Synoden über Ehe und Familie (2014/15), Jugend (2018) und die Ortskirche in Amazonien (2019) hat er zuletzt der Weltkirche einen mehrstufig angelegten synodalen Prozess verordnet – wohl auch mit der Absicht, bischöfliche Leitung stärker synodal rückzubinden.

Gewiss hat Franziskus auch Einspruch provoziert. Seine pauschale Kritik am globalen Kapitalismus vermochte nicht zu überzeugen, manche seiner spontanen Äusserungen bei fliegenden Pressekonferenzen oder Interviews waren unglücklich. Mit der Ernennung neuer Kardinäle durchkreuzte er immer wieder Erwartungen. Persönliche Sympathie, kirchenpolitische Präferenzen oder die Idee, auch hier die Peripherien zu stärken, waren Franziskus mitunter wichtiger als theologische Kompetenz oder die historische Bedeutung der jeweiligen Bischofssitze. Auch hat sich das Verhältnis zum Judentum zuletzt wegen einer mehr und mehr propalästinensischen Haltung im Gaza-Krieg getrübt.

Anders steht es um die Enzyklika «Laudato si’»: Sie hat auch ausserhalb der Kirche grosse Zustimmung gefunden, da sie das ökologische Bewusstsein geschärft und die Folgen des Klimawandels klar umrissen hat. Um globale Religionskonflikte zu entschärfen, hat Franziskus schliesslich den Dialog mit den nichtchristlichen Religionen, vor allem mit dem Islam, entschieden weitergeführt und sich unermüdlich für Frieden eingesetzt. Am Ostermontag ist Papst Franziskus, der Missionar der Barmherzigkeit, im Alter von 88 Jahren gestorben.

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