Sonntag, März 16

Tausende von Menschen baten den Papst im Zweiten Weltkrieg, gegen das Unrecht der Nazis Stellung zu nehmen. Alle wurden mit der gleichen Antwort abgefertigt.

«So fühlt man schon jetzt, dass von Pius XII. nur sein Schweigen zu diesen Taten übrig bleiben wird. Die Geschichte wird ihn kennen als den Papst, der schwieg.» – So kommentierte Sebastian Haffner die Uraufführung von Rolf Hochhuths Theaterstück «Der Stellvertreter» am 7. April 1963 im «Stern».

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Bis heute kommt keine Annäherung an den wohl umstrittensten Papst des 20. Jahrhunderts um eine Auseinandersetzung mit seinem «Schweigen» herum. Die Gegner von Pius XII. (1939–1958) gehen so weit, ihn als «Hitler’s Pope» abzustempeln, während seine Verteidiger ihn zum grössten Wohltäter des jüdischen Volkes während der Shoah stilisieren.

Seit langem werden die Fragen gestellt: War Pius XII. über den Holocaust ausreichend informiert? Taucht der Vorwurf des Schweigens erst nach seinem Tod auf, oder wurde er bereits während des Zweiten Weltkriegs zum Reden gedrängt? Schwieg er zur Shoah aus antisemitischen Gründen? Und schliesslich: War er sich seines Schweigens und der Folgen dieses Schweigens selbst bewusst?

Bis 2020 konnten diese Fragen nicht beantwortet werden, weil die Akten der vatikanischen Archive für die Zeit Pius’ XII. nicht zugänglich waren. Man war auf die offiziellen Texte Pius’ XII. und die Edition «Actes et documents du Saint Siège relatifs à la Seconde Guerre mondiale» mit ihren über 5000 Dokumenten angewiesen, die Paul VI. zur Verteidigung seines Vorvorgängers in den 1970er Jahren hatte erstellen lassen.

Die Notizen des Papstes

Die von Johannes Paul II. vor dem Heiligen Jahr 2000 eingesetzte jüdisch-katholische Historikerkommission, die das heikle Thema «Pius XII. und der Holocaust» kritisch aufarbeiten sollte, scheiterte nicht zuletzt an der Weigerung des Vatikans, ihr unmittelbare Akteneinsicht zu gewähren.

Nach der Öffnung der vatikanischen Archive durch Papst Franziskus am 2. März 2020 hat sich die Situation grundlegend geändert. Jetzt stehen Tausende von Archivschachteln mit Millionen von Blättern aus der Amtszeit Pius’ XII. zur Verfügung. Es dürfte Jahrzehnte dauern, diese gewaltige Menge an Quellen auszuwerten und mit den bisher bekannten Informationen abzugleichen.

Besonders aufschlussreich sind die zahlreichen Änderungen, die Pius XII. mit seiner kleinen, akkuraten Handschrift an den Vorlagen seiner Mitarbeiter vornahm, und seine persönlichen Entscheidungen, die der Substitut Giovanni Battista Montini, der spätere Papst Paul VI., regelmässig nach seinen Privataudienzen handschriftlich festhielt.

Für grosse seriöse historische Monografien zum «Schweigen Pius’ XII.» ist es dezidiert noch zu früh, auch wenn Bücher mit diesem Anspruch schon auf dem Markt sind. Nach fünf Jahren intensiver Arbeit mit den neu zugänglichen Quellen können hier aber immerhin erste belastbare Hypothesen zu den wichtigsten Fragen zur Diskussion gestellt werden.

«Juden. Schreckliche Situation»

Alle Versuche, das Schweigen Pius’ XII. mit seinem mangelnden Wissen über den Holocaust zu entschuldigen, werden durch die vatikanischen Akten eindeutig widerlegt. Der Papst war auf dreifache Weise über die Entwicklung der Judenverfolgung in Europa genau informiert.

Erstens durch Hunderte von Berichten seiner diplomatischen Vertreter aus den einzelnen Ländern, den Nuntien und Delegaten. Zweitens durch rund 10 000 bisher unbekannte Bittschreiben jüdischer Menschen aus ganz Europa von 1939 bis 1945, die Pius XII. um Hilfe baten und ihre Not und Verfolgung minuziös schilderten – und denen Papst und Kirche tatsächlich nicht selten zu helfen versuchten. Und schliesslich durch ein geheimes jesuitisches Informationsnetzwerk, dessen Fäden beim Geheimsekretär des Papstes, dem Jesuiten Pater Robert Leiber, zusammenliefen. Er legte die entsprechenden Schriftstücke im Privatarchiv von Pius XII. ab.

Hier findet sich auch ein Brief von Leibers Ordensbruder Lothar König vom 14. Dezember 1942, in dem es heisst: «Die letzten Angaben über ‹Rawa Ruska› mit seinem SS-Hochofen, wo täglich bis zu 6000 Menschen, vor allem Polen und Juden, umgelegt werden, habe ich über andere Quellen bestätigt gefunden. Auch der Bericht über Oschwitz (Auschwitz) bei Kattowitz stimmt.»

Ende 1942 wusste der Papst also Bescheid über die Existenz der Massenvernichtungslager Belzec und Auschwitz. König konnte Angaben, die er in einem früheren, leider nicht erhaltenen Brief an Leiber gemacht hatte, bestätigen. Im Winter 1942/43 wurde die «Endlösung» der Judenfrage im Vatikan schreckliche Gewissheit. In einer internen Notiz des Staatssekretariats vom 5. Mai 1943 kann man lesen: «Juden. Schreckliche Situation.» Von den ehemals 4,5 Millionen Juden in Polen seien nur noch 100 000 am Leben. Und es wird klar festgehalten: «Spezielle Todeslager in der Nähe von Lublin (Treblinka) und bei Brest-Litowsk.»

Dringende Bitten

Die Forderung an den Papst, als Stellvertreter Jesu Christi auf Erden unbedingt öffentlich gegen das Menschheitsverbrechen der Shoah unter Nennung der Täter zu protestieren, wurde nicht erst nach dem Krieg an Pius XII. herangetragen. Im Gegenteil: Die vatikanischen Archive sind für die Jahre 1939 bis 1945 voll von dringenden Bitten an den Papst, sich eindeutig öffentlich zu äussern.

Sie kamen von allen Seiten: von beim Heiligen Stuhl akkreditierten Diplomaten wie dem Briten Francis Osborne, der den «Kleinmut des Papstes» als «immer jämmerlicher» bezeichnete. Von Kurienkardinälen wie Eugène Tisserant, der den Papst mehrfach bestürmte, eine Protest-Enzyklika zu veröffentlichen, und ihm eine falsche «Politik der Bequemlichkeit» vorwarf.

Auch Rabbiner wie die Mitglieder der «Orthodoxen Rabbiner-Union in den USA und Kanada» forderten Pius XII. in einem Telegramm vom 12. März 1943 im Namen der Humanität ultimativ zu einer offiziellen Intervention angesichts der drohenden Liquidation des Warschauer Ghettos auf.

Alle erhielten ein und dieselbe Standardantwort, wie zahllose Entwürfe im Archiv belegen: «Der Heilige Stuhl hat sich stets für die verfolgten Juden eingesetzt und setzt sich auch weiter für diese ein» – ohne weitere Spezifizierung des Engagements und ohne jede öffentlich hörbare Äusserung.

«Heiligkeit, jetzt ist die Stunde»

Auch zahlreiche Privatpersonen wandten sich an Pius XII. und forderten ihn mit zum Teil drastischen Worten auf, sein Schweigen umgehend zu beenden. In einem Brief vom 19. September 1939 heisst es: «Kann man überhaupt daran denken, dass die Neutralität des politischen Chefs des kleinsten Staates der Vatikanstadt den geistlichen Chef von Millionen Gläubigen zum Schweigen zwingen könnte?»

Die Antwort, die der Briefschreiber selbst gibt, fällt eindeutig aus: Eine abwartende «Neutralität zwischen Mördern und Opfern» ist für den Papst schlicht unmöglich: «Heiligkeit, jetzt ist die Stunde für den Stellvertreter Jesu Christi auf Erden, die Peitsche herauszuholen, um die Verdammung der Mörder und ihre Exkommunikation zu verkünden.» Pius XII. holte die Peitsche nicht ein einziges Mal heraus, eine öffentliche Verdammung Hitlers und seiner Helfershelfer blieb aus.

Als Gründe für sein Schweigen wurden oft seine angebliche Judenfeindschaft und sogar ein päpstlicher Antisemitismus angeführt. Diese Karte würde aber nur stechen, wenn Pius XII. bei anderen Verbrechen gegen die Menschlichkeit laut protestiert und nur zur Ermordung der Juden geschwiegen hätte. Das war aber nicht der Fall, wie die Quellen klar belegen.

Der erste Genozid, zu dem der Papst sich nicht äusserte, war die Ermordung von einer Million katholischer Polen durch die Deutschen in den Jahren 1939/40. Polnische Bischöfe und Laien, aber auch Katholiken aus der ganzen Welt baten den Papst flehentlich um eine öffentliche Verurteilung der Mörder. Eine französische Bittstellerin schrieb Pius XII. im September 1939: Nach den Greueltaten im Zuge des deutschen Überfalls auf Polen erwarte «die ganze Welt von Ihnen ein Wort von solcher Wucht, wie wenn es direkt von Gott käme».

Strikte Neutralität

Das Schweigen zum Genozid an katholischen Polen lässt sich dezidiert nicht mit einem «Antisemitismus» von Pius XII. erklären. Es muss andere Gründe haben. Diese erhellen aus innervatikanischen Diskussionen, die sich in internen Aktennotizen niedergeschlagen haben: Der Papst wollte über den Parteien stehen und strikte Neutralität wahren, zumal er nach seinem Selbstverständnis als «Padre comune» für Katholiken auf allen Seiten der Fronten da sein musste.

Er fürchtete, seine Äusserungen könnten von einer Kriegspartei instrumentalisiert werden. So könnten die Alliierten eine Verurteilung der Deutschen als Parteinahme des Papstes zu ihren Gunsten werten. Weil er zum Genozid an den katholischen Polen geschwiegen hatte, konnte er später nicht gegen den Genozid an den Juden protestieren. Das hätte kein Katholik, zumal in Polen, verstanden. Der entscheidende Grund für das Schweigen von Pius XII. zur Shoah liegt in seiner Neutralitätspolitik und nicht in antisemitischen Motivationen.

Ein weiterer Grund, der in den Quellen zumindest immer wieder angedeutet wird, lautet: Öffentliche Proteste des Papstes machten die Lage der Juden, die sich in der Hand der Nationalsozialisten befanden, nur noch schlimmer und päpstliche Hilfe im Verborgenen auch im Einzelfall noch viel schwieriger.

Hier schliesst sich die Frage an, ob sich Pius XII. seines Schweigens und der möglichen Folgen bewusst war. 1940 sagte er dem Botschafter Italiens beim Heiligen Stuhl, Dino Alfieri, dass er als Papst unbedingt mehr zu den Verbrechen sagen müsste, doch die Angst vor der Rache der Deutschen an den Opfern in ihrer Gewalt lasse ihn davor zurückschrecken.

«Was sagt man zu meinen Schweigen»?

Den päpstlichen Delegaten in Istanbul, Angelo Roncalli, seinen Nachfolger Johannes XXIII., fragte er bei einem Treffen in Castelgandolfo im Sommer 1941 ganz direkt: «Was sagt man zu meinen Schweigen»? Wörtlich «miei silenzi» – also Schweigen im Plural. Das zeigt: Pius XII. war sich seines Schweigens und der damit verbundenen Probleme voll bewusst.

Es war ihm bewusst, dass er den Holocaust und die Täter eigentlich mit lauter Stimme verurteilen müsste. Nicht umsonst hatte er als Kardinalstaatssekretär unmittelbar nach Beginn der Judenverfolgung durch die nationalsozialistische Regierung im April 1933 die moralische Rolle des Papstes als Anwalt der Menschenrechte festgehalten.

«Es liegt in der Tradition des Heiligen Stuhls», sagte er damals, «seine universale Friedens- und Liebesmission für alle Menschen auszuüben, unabhängig davon, welcher sozialen Schicht oder Religion sie angehören.» Es steht dahin, ob Pius verstand, dass er durch diese Politik das Hauptziel seiner Neutralitätspolitik torpedierte: sich als von allen Kriegsparteien akzeptierter Mediator anzubieten. Mit dem Schweigen zum Massenmord untergrub er seine eigene moralische Autorität, die Grundvoraussetzung für jede erfolgreiche Mediation sein musste.

Pius XII. war ein sehr verschlossener Mensch. In seinen Aufzeichnungen lässt er sich kaum einmal ins Herz schauen oder an seinen innersten Gedanken teilhaben. Zumindest zwischen den Zeilen wird aber deutlich, dass ihm sein Schweigen nicht leichtgefallen ist und ihm das Schicksal der Verfolgten nicht gleichgültig war.

«Wo der Papst laut rufen möchte»

So wies er in einem Schreiben an den Würzburger Bischof Matthias Ehrenfried vom 20. Februar 1941 auf das «gewaltige Geschehen im ausserkirchlichen Raum» hin, «dem gegenüber der Papst die Zurückhaltung beobachten will, die ihm unbestechliche Unparteilichkeit auferlegt».

Die Situation sei derzeit aber so «verhängnisvoll», dass er sich schmerzhaft an das Wort Jesu an Petrus, «den ersten Papst», erinnert fühle, «ein anderer werde ihn gürten und führen, wohin er nicht wolle». – «Wo der Papst laut rufen möchte», schrieb er weiter, «ist ihm leider manchmal abwartendes Schweigen, wo er handeln und helfen möchte, geduldiges Harren geboten.»

Pius XII. war weder «Hitler’s Pope» noch der grösste Wohltäter des jüdischen Volkes während der Shoah. Die vatikanischen Quellen, die bisher ausgewertet werden konnten, verbieten eine Schwarz-Weiss-Malerei. Tausende von Schachteln harren noch der Bearbeitung und halten wahrscheinlich noch die eine oder andere Überraschung bereit.

Hubert Wolf ist Professor für Kirchengeschichte an der Universität Münster.

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