Mittwoch, Januar 15

Frankreichs Hauptstadt bietet schon vor 220 Jahren eine gewaltige Kulisse für Wettkämpfe. Anders als später bei den ersten Olympischen Spielen der Neuzeit kommen die Teilnehmer aus allen sozialen Schichten.

Das Champ de Mars, das Marsfeld, gehört zu den beliebtesten Grünflächen von Paris. An der nördlichen Seite überragt der Eiffelturm das historische Stadtzentrum, am südlichen Rand steht die École Militaire, die Militärschule, mit Kuppel und Säulen.

Das Marsfeld ist in diesem Sommer ein Zentrum der Olympischen und Paralympischen Spiele. In einem temporären Stadion finden hier zunächst die Wettbewerbe im Beachvolleyball und später im Blindenfussball statt. Spitzensport mit Postkartenmotiven, vor Tausenden Zuschauern in historischer Kulisse.

Beim Eiffelturm erinnert heute wenig daran, dass der olympische Trubel an eine alte Tradition anknüpft: Bereits in den 1790er Jahren, kurz nach der Französischen Revolution, fanden auf dem Marsfeld bei mindestens drei Revolutionsfesten Dutzende Wettkämpfe statt. «Die Stimmung war offenbar sehr ausgelassen und euphorisch», sagt der Politikwissenschafter Martin Krauss. «Man könnte diese Ereignisse als Sport vor dem Sport bezeichnen.» Denn diese Wettkämpfe in Paris fanden ein Jahrhundert vor den ersten Olympischen Spielen der Neuzeit statt, die dann 1896 in Athen über die Bühne gehen sollten.

Krauss, der auch als Journalist arbeitet, hat es sich zur Aufgabe gemacht, historische und politische Entwicklungen mithilfe des Sports verständlicher zu machen. In seinem neuen Buch «Dabei sein wäre alles» beschreibt er, wie unterschiedliche Gruppen für ihre sportliche Teilhabe kämpfen mussten. Krauss erinnert unter anderem an Wettbewerbe, die schon früh von einer grossen gesellschaftlichen Vielfalt geprägt waren. Eine solche herrschte bei den Revolutionsfesten in Paris.

Eine Mischung aus Kundgebungen, Jahrmärkten und sportlichem Wettstreit

Die Quellenlage ist überschaubar, doch mithilfe von Aufsätzen, Zeitzeugenberichten und Zeichnungen gelingt Martin Krauss eine detaillierte Rekonstruktion. So fanden ab 1796 mehrtägige Feste auf dem Marsfeld mit Sport statt, einige Quellen berichten von bis zu 300 000 Menschen, die anwesend waren – pro Tag. Einige von ihnen fanden auf eigens errichteten Tribünen Platz. Noch hatten diese Bauten wenig mit einem modernen Stadion zu tun. Zwischen den Tribünen wurde auch ein Hügel aufgetürmt, eine Art Podest für Theater und Kleinkunst.

Die Feste waren eine Mischung aus Kundgebungen, Jahrmärkten und sportlichem Wettstreit. Es wurden Pferderennen, Laufwettbewerbe oder Ringkämpfe dokumentiert, zudem auch Tänze, das Schiessen auf Lebensmittel oder das Klettern an rutschigen Stangen. Als Sensation galten Heissluftballons, aus denen Männern aus beträchtlicher Höhe mit Fallschirmen heruntersprangen. «Die Menge soll so begeistert gewesen sein, dass sie das Marsfeld stürmte», schreibt Krauss. «Die Menschen haben sich damals nicht nur für ihre politische Teilhabe eingesetzt, sondern auch für ihre sportliche Beteiligung.»

Aus alten Berichten geht hervor, dass die Teilnehmer aus allen gesellschaftlichen Milieus stammten. Auf der Laufstrecke, die an der École Militaire ihren Anfang nahm, traten Grafen gegen Unteroffiziere an. An einem anderen Rennen beteiligten sich Barbiere und Arbeiterinnen aus einer Brauerei. Im Ringen waren ein Metzger und ein Hutmacher erfolgreich. In einigen Disziplinen wurden Dutzende Vorläufe gezählt. Es gab Wettbewerbe für beeinträchtigte Menschen, die als «Krüppel» bezeichnet wurden. Die Gewinner konnten sich über neue Pferde und Pistolen freuen, über Säbel und Vasen. Historiker fassten diese Spektakel später unter dem Namen «Republikanische Olympiade» zusammen.

Krauss indes hinterfragt die kulturelle Verknüpfung zur «Olympiade». Zum einen hatten die demokratischen Wettbewerbe von Paris wenig gemeinsam mit den Olympischen Spielen der Antike. An diesen ab dem achten Jahrhundert vor Christus stattfindenden Spielen durften ausschliesslich «freie Männer» griechischer Herkunft auf der Halbinsel Peloponnes gegeneinander antreten – im Publikum sassen unverheiratete Frauen. Die Revolutionsfeste in Paris griffen dann zwar auch Bestandteile der Spiele aus der Antike auf, doch ihre Symbolik bediente sich auch bei ägyptischen Pyramiden, arabischen Gesängen und chinesischen Tempeln.

Einige Historiker versuchten, eine mehr oder weniger direkte Linie von den 1790er Jahren in Paris bis nach Athen 1896 zu ziehen. Als Beleg gilt das 1996 erschienene Buch von Alain Arvin-Bérod «Les Enfants d’Olympie», Die Kinder von Olympia. Das Grusswort stammte von Juan Antonio Samaranch, dem damaligen Präsidenten des Internationalen Olympischen Komitees (IOK). Die Herren der Ringe rückten sich in die kulturelle Nähe zu den demokratischen Errungenschaften der Französischen Revolution. Doch Krauss hält diese Verbindung für unglaubwürdig.

An den Olympischen Spielen 1896 gingen 241 Sportler an den Start, weisse Europäer und Amerikaner europäischer Herkunft, überwiegend christlich. Aber keine Frauen. Zugelassen waren sogenannte Amateure, die ihr Geld nicht mit dem Sport verdienten. «Olympia war ein elitärer Klub von Adligen und Grossbürgern», sagt der britische Soziologe David Goldblatt. «Das Ethos englischer Privatschulen wurde in die Welt getragen. Auch Sport sollte den Charakter junger Männer formen, um über ein Imperium zu herrschen.»

David Goldblatt hat eines der wichtigsten Bücher über die Olympischen Spiele geschrieben: «Die Spiele. Eine Weltgeschichte der Olympiade». Darin geht er auch auf jene Sportfeste ein, die weit vor den Olympischen Spielen Tausende von Menschen anlockten. Zum Beispiel die Cotswold Olimpick Games, die ab 1612 in England stattfanden. Mit der Unterstützung des Königs Jakob I. brachte der Anwalt Robert Dover wohlhabende und arme Menschen zusammen, für Pferderennen, Ringkämpfe, Hammerwerfen – und Schienbeintritte. Sie glaubten, das Königreich mit körperlicher Ertüchtigung besser verteidigen zu können.

Als Folge der Cotswold Games entstanden in Grossbritannien andere Sportfeste. Und so kommentierte der französische Philosoph Voltaire nach einem Besuch von Wettbewerben an der Themse: «Ich glaube, zu den Olympischen Spielen versetzt worden zu sein.» David Goldblatt erinnert an weitere Wettkämpfe, die während politischer Umbrüche stattfanden, etwa der Glorious Revolution in England am Ende des 17. Jahrhunderts oder der Unabhängigkeitsbewegung in Nordamerika in den 1770er Jahren. Goldblatt schreibt: «Auch im Sport konnte man Moralvorstellungen und Nationalgefühl ausdrücken.»

In Paris werden die Zeiten von Läufern und Rennpferden mit neuen Instrumenten aufgezeichnet

Weitere vorolympische Ereignisse waren die Wenlock Olympian Games im Westen Englands, das Liverpool Grand Olympic Festival oder die Sportinitiative des Kaufmanns Evangelos Zappas in Griechenland in den 1850er Jahren. Und doch stechen die Revolutionsfeste in Frankreich heraus. Denn in Paris kamen erstmals auch neue Messsysteme zum Einsatz. Mithilfe des französischen Astronomen Alexis Bouvard sollten die Zeiten von Läufern und Rennpferden aufgezeichnet und damit für andere Wettbewerbe vergleichbar gemacht werden. «Das ist ein Wesensmerkmal des modernen Sports», sagt Krauss. Und ein wichtiger Unterschied zu den sportlichen Dorffesten und Jahrmärkten im Mittelalter.

Die Sieger von Paris durften sich in einer Parade präsentieren, die von einer Militärkapelle begleitet wurde. Viele siegreiche Athleten trugen Lorbeerkränze und die republikanischen Farben Blau, Weiss, Rot. Die Zeitung «Le Moniteur Universel» schrieb, dass die französischen Sportler den «jungen Spartanern glichen, die, in der Arena der Olympischen Spiele geschart, der versammelten griechischen Bevölkerung ein leuchtendes Beispiel der Sitten der Nation gaben». Es waren «Spiele, Rennen, Übungen voller Bewegung und Pracht». 1798 kamen Forderungen auf, diese Spiele auch in andere Länder zu bringen.

Doch schon bald mussten die Anliegen der Französischen Revolution in den Hintergrund treten. Napoleon Bonaparte griff nach der Macht und krönte sich 1804 selbst zum Kaiser. An demokratische Wettbewerbe war nicht mehr zu denken.

In diesem Sommer nun, mehr als 220 Jahre später, kehrt der Sport mit den Olympischen Spielen auf das Marsfeld von Paris zurück. Die Spuren der Revolutionsfeste aber sind verblasst.

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