Ohne Absprache ist Éric Ciotti ein Bündnis mit dem Rassemblement national eingegangen. Damit stürzt er die französische Traditionspartei Les Républicains in eine existenzielle Krise. Zu kümmern scheint ihn das nicht.
Für jemanden, der seine Partei innerhalb weniger Tage an den Rand des Abgrunds manövriert hat, ist Éric Ciotti erstaunlich gelassen. Triumphierend blickt er in die Runde, als er am Donnerstagmorgen gemeinsam mit Jordan Bardella, dem Chef des Rassemblement national (RN), den Konzertsaal Salle Gaveau in Paris betritt.
Der Unternehmerverband Medef hat die Parteichefs zur Präsentation ihrer Wirtschaftsprogramme geladen. Ciotti und Bardella sind als Dritte dran. «Wir befinden uns in einem wichtigen, entscheidenden Moment für das Land», sagt der Noch-Präsident der französischen Républicains (LR). «Danke an Jordan Bardella, dass er mich hierher eingeladen hat.» Ciotti gibt sich überzeugt: Nur gemeinsam könnten er und Bardella bei der anstehenden Parlamentswahl den Sieg des linken Parteibündnisses Nouveau Front populaire verhindern, das er als Gefahr für Frankreich ansieht.
Ein König ohne Königreich
Dabei steht Ciottis Parteikarriere kurz vor dem Aus – zumindest die bei den Républicains. Am 11. Juni, zwei Tage nachdem Präsident Emmanuel Macron das Parlament aufgelöst hatte, wagte es Ciotti, eine rote Linie zu überschreiten: Er kündigte an, bei den bevorstehenden Wahlen mit dem rechtsnationalen Rassemblement national gemeinsame Sache zu machen.
Ciotti nahm an, seiner Partei damit einen Gefallen zu tun. Auf diese Weise, rechnete er vor, könnten in 70 bis 80 Wahlkreisen Sitze für eine rechte Koalition gesichert werden. Doch längst nicht alle sahen das als Option, der schwächelnden Partei wieder zu mehr Gewicht zu verhelfen. Hinzu kam, dass Ciotti sich offenbar nicht mit der restlichen Parteileitung abgesprochen hatte, sondern das neue Bündnis selbständig bei einem Mittagessen mit dem RN-Präsidenten Bardella aushandelte.
Das Psychodrama, das dann folgte, verfolgten Medien und Linke mit angehaltenem Atem: Die restliche Parteiführung setzte Ciotti als Präsidenten ab und schloss ihn aus der Partei aus, woraufhin dieser die Tür zur Parteizentrale verriegelte und vom Fenster seines Büros herab beteuerte, der Ausschlussentscheid sei nichtig. Die Parteileitung kam ein zweites Mal zusammen, um ihn auszuschliessen, doch Ciotti sollte mit seiner Behauptung recht behalten: Vergangenen Freitag setzte ein Pariser Gericht den Ausschluss vorläufig aus. Bis zu einem endgültigen Entscheid bleibt Ciotti Präsident, auch wenn seine Partei ihn nicht mehr will.
Ein Skandal oder eine Notwendigkeit?
Eine Woche später scheint es, als dächte er nicht im Traum daran, seinen Posten aufzugeben. «Nichts wird mich zum Rückzug bringen, weder Hass noch Drohungen oder Gewalt», schrieb er am Mittwoch auf der Plattform X und postete dazu das Bild eines Drohbriefes, den er erhalten haben will. Der Zusammenschluss der Rechten sei für Frankreich eine Notwendigkeit.
Rien ne me fera reculer, ni la haine, ni les menaces, ni la violence.
Ce rassemblement des droites est nécessaire pour la France ! 🇫🇷 pic.twitter.com/SGkiheNPL4
— Eric Ciotti (@ECiotti) June 19, 2024
Für die Républicains, die Partei, die durch Charles de Gaulle gross wurde und lange staatstragend war, war ein Zusammenschluss mit dem Rassemblement national stets undenkbar. Die Wurzeln der Partei gehen auf die Bekämpfung des deutschen Nationalsozialismus und die französischen Faschisten zurück. Der Front national, wie das RN früher hiess, hatte einen Gründer, der bei der Waffen-SS diente.
Für Éric Ciotti scheint das kein Problem zu sein. Der 58-Jährige zählt zum rechten Flügel der Républicains, ähnlich wie Marine Le Pen setzt er vor allem auf identitätspolitische Themen. So bezeichnete Ciotti die woke Bewegung als «neuen Terror des Jahrhunderts» und das Kopftuch als «Banner des politischen Islam». Im September 2021 erklärte er, dass er im Falle einer Stichwahl zwischen Emmanuel Macron und dem Rechtsextremisten Éric Zemmour für Letzteren stimmen würde.
Sicherheitsbeauftragter und Sarkozy-Freund
Ciotti stammt aus Nizza und ist in einfachen Verhältnissen aufgewachsen; sein Vater, Italiener, war Eisenwarenhändler. Ciotti selbst hat sein ganzes berufliches Leben in der Politik verbracht: Nach seinem Abschluss an der renommierten Sciences Po in Paris arbeitete er für diverse konservative Politiker, etwa Christian Estrosi (als er noch Abgeordneter war) und Jean-Claude Gaudin (als dieser in den neunziger Jahren das Ministerium für Stadtentwicklung führte).
2007 wurde Ciotti erstmals selbst ins französische Parlament gewählt. Er war ein loyaler Unterstützer von Nicolas Sarkozy, den er auch lange nach dessen Präsidentschaft gegen Kritik verteidigte. Unter Sarkozy war er bei der Partei für Fragen der inneren Sicherheit zuständig und brachte ein neues Sicherheitsgesetz voran, durch das die Streichung von Sozialleistungen für Eltern von Schulschwänzern ermöglicht wurde. Weil das Gesetz ausserdem die Kompetenzen der Polizei im Bereich der Video- und Telefonüberwachung erweiterte, erhielt er den Spitznamen «Beria», nach dem Chef von Stalins Geheimpolizei.
2018 übernahm Ciotti die Leitung des LR-Verbands des Département Alpes-Maritimes mit 10 000 Mitgliedern. Doch er wollte mehr: Bei der Präsidentschaftswahl 2022 versuchte er Kandidat der Republikaner zu werden, unterlag jedoch in einer Stichwahl seiner Konkurrentin Valérie Pécresse. Er musste sich mit dem Posten des Parteichefs abfinden, zu dem er 2022 gewählt wurde. Zu dieser Zeit fiel er wiederholt mit extrem rechten Positionen auf. So sprach er bei einer Debatte im Herbst 2021 von einem «grossen Austausch», der in der französischen Bevölkerung durch die Zuwanderung stattfinde.
Die Republikaner sind endgültig entzweit
Der Unterschied zwischen den Républicains und dem Rassemblement national sei die Regierungsfähigkeit, sagte Ciotti im selben Jahr. Inzwischen scheint er der Partei das Regieren zuzutrauen. Trotz allen Widerständen innerhalb der Républicains werden bei den Parlamentswahlen am 30. Juni 62 Kandidaten unter dem Banner des «Rassemblement des droites» antreten, des Namens der neuen Koalition. Die Républicains selbst stellen in 200 Wahlkreisen Kandidaten auf, die vielerorts gegen Ciottis Kandidaten antreten.
Für die Wähler wird es kompliziert. Denn nicht alle dieser Kandidaten treten unter dem offiziellen Label der Républicains an. «Die meisten unserer bisherigen Abgeordneten führen ihren Wahlkampf mit ihrem Namen und nicht mit dem der Partei, und das ist verständlich», sagte die LR-Vizepräsidentin Agnès Evren der Zeitung «Le Monde». Um die Zerreissprobe für die Partei perfekt zu machen, treten auf der anderen Seite des Spektrums einzelne republikanische Politiker mit der Unterstützung des Macron-Lagers an.
Die Republikaner, in der Marktliberale, Zentristen, Katholiken und Gaullisten seit Jahren in verschiedene Richtungen ziehen, haben ihren gemeinsamen Kompass endgültig verloren. Schon in den letzten Jahren haben sie einen Grossteil ihrer einstigen Bedeutung eingebüsst, bis zur Auflösung der Nationalversammlung hielten sie dort nur 61 von 577 Sitzen. Éric Ciotti hat den tiefsten Riss in der Partei nun zementiert.
Ihn scheint das nicht zu belasten – gerade zählt nur der erfolgreiche Wahlkampf an der Seite von Bardella. Was er vorhat, wenn er als Parteipräsident abgesetzt wird, lässt Ciotti nicht durchblicken. In seinem Wahlkreis Nizza, für den er seit 2007 im Parlament sitzt, haben die Republikaner ebenfalls einen eigenen Kandidaten aufgestellt.

