Dienstag, April 29

Parlamentarier können in der Schweiz freier abstimmen als in Deutschland. Doch auch ohne offiziellen Fraktionszwang fordern die Parteien Disziplin ein.

Im Koalitionsvertrag, den CDU/CSU und SPD in Deutschland vereinbart haben, steht: «Im Deutschen Bundestag und in allen von ihm beschickten Gremien stimmen die Koalitionsfraktionen einheitlich ab. Das gilt auch für Fragen, die nicht Gegenstand der vereinbarten Politik sind. Wechselnde Mehrheiten sind ausgeschlossen.» Dies widerspricht der Bestimmung des Grundgesetzes, wonach die Abgeordneten des Bundestags an keine Weisungen gebunden und nur ihrem Gewissen unterworfen sind. Zwingt die neue Koalition die Parlamentsmitglieder verfassungswidrig in ein Korsett?

Optimieren Sie Ihre Browsereinstellungen

NZZ.ch benötigt JavaScript für wichtige Funktionen. Ihr Browser oder Adblocker verhindert dies momentan.

Bitte passen Sie die Einstellungen an.

In gewisser Weise schon. Nur: Neu ist diese Disziplinierung nicht. Die gleiche Formulierung stand auch schon in früheren Koalitionsverträgen, man kann sie zurückverfolgen bis zum Kabinett Schröder von 1998, als Sozialdemokraten und Grüne die Regierung bildeten. Und ähnlich, wenn auch nicht so apodiktisch, versuchte schon 1961 die Regierung von CDU/CSU und FDP unter Adenauer wechselnde Mehrheiten zu vermeiden. Wie sie mit dem Dilemma zwischen Parteidisziplin und freiem Mandat im Alltag umgehen, wollten Bundestagsabgeordnete von CDU und SPD auf Anfrage der NZZ nicht sagen.

28 Kampfabstimmungen in der kleinen Kammer

Im parlamentarischen Regierungssystem stehen die Abgeordneten in der Zucht des Regierungswillens. Um auszuscheren, müssen sie Gewissensgründe vorbringen. Sie sind weniger frei als die Parlamentarier in der Schweiz, wo die Gewalten schärfer getrennt sind. Aber in der Schweiz, wo die Verfassung ebenfalls vorsieht, dass die Mitglieder der Bundesversammlung ohne Instruktionen stimmen, besteht das umgekehrte Problem: Die Fraktionen leiden immer wieder darunter, dass zu viele Mitglieder ausscheren und dass sie nicht geschlossen abstimmen.

Greifen wir den Ständerat heraus. Dort fanden in der Frühjahrssession 129 Abstimmungen per Knopfdruck statt. Viele dieser Abstimmungen waren reine Formsache, weil im Voraus klar war, dass praktisch alle zustimmen. Um zu überprüfen, wie geschlossen oder wie zersplittert die Fraktionen abstimmen, konzentrierten wir uns auf die 28 Kampfabstimmungen, die alle mit einem Nein endeten. Die 28 Kampfabstimmungen betrafen die ganze Palette von Themen, es handelte sich um Bundesratsvorlagen, um indirekte Gegenvorschläge zu Volksinitiativen oder um parlamentarische Vorstösse.

Eine genauere Analyse zeigt, dass nur die Grünen in der Mehrzahl der 28 Abstimmungen geschlossen abgestimmt haben. Allerdings stellt die GPS auch nur drei Mitglieder in der kleinen Kammer. Die Sozialdemokraten votierten in einem knappen Drittel der Fälle einheitlich, bei den bürgerlichen Fraktionen aber war der einheitliche Auftritt selten. Die Ständeräte der Mitte stimmten nur 2-mal alle gleich, 10-mal wiesen sie sowohl Ja- als auch Nein-Stimmen auf. Die SVP zerfiel sogar 13-mal in zwei Lager.

Sehr häufig kommen Enthaltungen vor, wobei anzumerken ist, dass hier auch Abwesenheiten als Enthaltungen gezählt wurden. Denn die Abwesenden können Gründe haben, die mit der Abstimmung nichts zu tun haben (wie Krankheit, wichtige berufliche Verpflichtungen, Empfang von Besuchern); sie können sich aber auch bewusst von der Abstimmung drücken. Nicht in die Analyse einbezogen wurden die Grünliberalen, die mit der Zürcher Ständerätin Tiana Angelina Moser ihre einzige Vertreterin haben: Eine Einzelperson kann weder geschlossen noch zersplittert abstimmen.

Anhand der auf der Website der Bundesversammlung publizierten Abstimmungsdaten kann man auch den Grad der Geschlossenheit errechnen. Die Berechnung stützt sich auf eine Formel, die amerikanische Politologen in den sechziger Jahren entwickelt haben (Rice Index of Cohesion). Beträgt der Index 100, hat eine Partei immer geschlossen gestimmt. Bei 0 heben sich die Ja- und die Nein-Stimmen faktisch auf. In diesem Fall ist eine Fraktion im Parlament bedeutungslos.

Die Grafik zeigt, dass die Grünen und die Sozialdemokraten ihre Stimmkraft am wirkungsvollsten einsetzen, während der Wirkungsgrad der Mitte gewissermassen halbiert ist. Ein Teil der Mitte-Ständeräte nimmt den Verfassungsauftrag, ohne Instruktionen zu stimmen, immer wieder sehr wörtlich.

Freiwillig auferlegter Zwang

Was heisst eigentlich: ohne Instruktionen stimmen? Gemeint ist, dass niemand eine Haltung einnehmen sollte, von der er nicht überzeugt ist. Eine Haltung also, die mit Geld erkauft oder durch Druck und Erpressung erwirkt wurde. Die Überzeugungen der eigenen Partei, auf deren Basis die Abgeordneten ja ins Parlament gewählt wurden, zählen nicht dazu. Dennoch können sich immer wieder einzelne Parlamentsmitglieder in ihrer Freiheit beschränkt fühlen, wenn ihre Fraktion den «Fraktionszwang» anwendet, also beschliesst, dass man in einer umstrittenen Frage so und nicht anders abstimmen müsse.

Der FDP-Parteipräsident Thierry Burkart wies auf Anfrage darauf hin, dass die FDP-Fraktion den Fraktionszwang sehr selten anwende. Es handle sich allerdings nicht um einen von der Partei- oder der Fraktionsspitze verordneten Zwang, «sondern um eine Regelung, die sich die Fraktion in ihrer allgemeinen Gültigkeit im Reglement und in ihrer konkreten Anwendung selber gibt. Wenn die Fraktion mit Zweidrittelmehrheit die konkrete Anwendung beschliesst und sich ein Fraktionsmitglied diesem Fraktionsbeschluss nicht unterziehen sollte, würde eine Sanktionsmöglichkeit fehlen. Das heisst: Der sogenannte Zwang ist im Endeffekt eine freiwillige Befolgung der sich selber gegebenen Regeln durch die Fraktionsmitglieder», unterstrich Burkart. Ein Verstoss gegen die Bundesverfassung liege somit nicht vor.

In Deutschland ist das Korsett enger. Da stimmen Abgeordnete nicht nur für Überzeugungen der eigenen Partei, für die sie in den Bundestag gewählt wurden, sondern auch für die Überzeugungen der Koalitionspartner, an die sie vertraglich gebunden sind. Da müssen sie oft eine Kröte schlucken. Wer immer wieder ausschert, könnte aus der Fraktion ausgeschlossen werden. Das Bundesverfassungsgericht hält dies mit dem Grundsatz des freien Mandats für vereinbar.

Nicht statthaft wäre es jedoch, Abtrünnigen Geldstrafen aufzuerlegen oder ihnen das Mandat zu entziehen. Letztlich muss es den Fraktionsspitzen gelingen, mit Appellen immer wieder die für eine kontinuierliche Regierungstätigkeit nötige Geschlossenheit der Koalitionsfraktionen zu erreichen.

Exit mobile version