Die unbemannten Fluggeräte haben das Wesen des Krieges radikal verändert. Durch ihre Erfahrungen sieht die Ukraine sich für die Zukunft gerüstet. Sie hofft, zu einem grossen Exporteur von Rüstungsgütern zu werden.

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Der Feind kommt von oben. Fast jeden Tag – und besonders oft in der Nacht – greifen die Russen Kiew mit Drohnen und Raketen an. Das ist laut: Erst ertönen die Sirenen, dann knallen die Explosionen, wenn die ukrainische Flugabwehr versucht, so viele Geschosse wie möglich abzuschiessen. Nicht immer kann sie alles verhindern. Immer wieder gibt es auch in Kiew Verletzte, manchmal sogar Tote. So wie etwa Ende April. Beim heftigsten russischen Angriff in diesem Jahr wurden in der ukrainischen Hauptstadt Autos zerstört und ganze Wohnblöcke dem Erdboden gleichgemacht. Zwölf Personen verloren dabei ihr Leben.

In der Ukraine zeigt sich das neue Gesicht des Krieges: Heute gehen laut dem Oberkommando der Streitkräfte fast zwei Drittel aller erfolgreichen Attacken der Ukrainer auf russisches Militärgerät auf das Konto von Drohnen. Die unbemannten Fluggeräte haben den Krieg auch tödlicher gemacht. Sogenannte FPV-Drohnen (First-Person-View) werden mit einer Ladung Sprengstoff versehen. Soldaten können dann über eine Videobrille aus der Ich-Perspektive den Feind mehrere Kilometer verfolgen und attackieren.

Über drei Jahre Abwehrkampf gegen die Russen haben die ukrainische Rüstungsindustrie in die Zukunft katapultiert. Der Krieg zwingt die Hersteller zur Flexibilität, denn die Verhältnisse an der Front ändern sich sehr rasch. Was heute funktioniere, könne in 45 bis 60 Tagen schon wieder veraltet sein, ist aus der Branche zu hören, zum Beispiel gewisse Funkfrequenzen für Drohnen. «Adapt or die», pass dich an oder stirb, nennt es ein Manager eines Produzenten.

Die ukrainischen Rüstungsunternehmen können mittlerweile mehrere Millionen Drohnen pro Jahr herstellen. Die Branche zählt heute laut offiziellen Angaben rund 800 Unternehmen. Etwa 100 sind staatlich, der Rest gehört Privatunternehmern. Rundherum ist ein ganzes Netzwerk von Startups und Freiwilligenorganisationen entstanden, die Drohnen teilweise in Eigenregie weiterentwickeln, zusammenbauen und an die Front schicken. Inzwischen sind auch erste ausländische Hersteller in der Ukraine präsent.

«Der Gegner arbeitet ständig an neuen Methoden»

Einer von ihnen ist Sven Kruck. Der Co-CEO des deutschen Drohnenherstellers Quantum Systems eilt in diesen Tagen in Kiew von einem Treffen zum nächsten. Er pflegt beste Beziehungen zur Stadtverwaltung und zur ukrainischen Regierung. Sie alle interessieren sich für die Aufklärungsdrohnen des Unternehmens. Kruck kommt rasch zur Sache: Seit dem vergangenen Jahr produziert Quantum Systems Drohnen in der Ukraine. Zwischen 30 und 40 Aufklärungsdrohnen vom Typ Vector stellt das Unternehmen pro Woche hier für die ukrainischen Streitkräfte her. Es ist ein Hightech-Gerät, Stückpreis: 200 000 Dollar. Auseinandergenommen, passt es in einen Rucksack. Die Drohne wiegt rund zehn Kilo, inklusive Zubehör kann sie eine Person allein tragen.

Das Produzieren vor Ort ist riskant. Von aussen gibt es denn auch keine Hinweise darauf, was Quantum Systems herstellt. Der Name der Firma ist am Eingangstor nicht angeschrieben. Auch die Mitarbeiter halten sich an strikte Sicherheitsregeln. Über den Standort der Fabrik werde nicht gesprochen, sagt Kruck. Wer zur Arbeit kommt, schaltet sein Smartphone aus.

Erschallt der Luftalarm, müssen alle in den Schutzraum. Dann stehen die Maschinen still. Damit müsse man leben, findet Kruck. Trotzdem lobt er die geschäftlichen Aussichten in der Ukraine in den höchsten Tönen. Konkrete Umsatzzahlen gibt er keine bekannt. Nur, dass das Geschäft profitabel sei. Fünf Millionen Euro hat Quantum Systems bisher in den Aufbau der Fabrik investiert. Weitere fünf Millionen sollen folgen. Statt der mehreren hundert Drohnen pro Jahr will Kruck in Kiew künftig mehrere tausend Fluggeräte herstellen.

Für die Weiterentwicklung seines Geschäfts ist die enge Zusammenarbeit mit den Streitkräften wichtig. In einem Callcenter nehmen Mitarbeiter rund um die Uhr Anrufe von Soldaten an der Front entgegen, die Fragen haben oder von Problemen mit den Drohnen berichten. «Der Gegner arbeitet ständig daran, die ukrainischen Drohnen mit neuen Methoden vom Himmel zu holen», sagt Kruck. Er will sich aber nicht festlegen darin, wer beim Wettrüsten vorne liegt. Geht es um die unbemannten Fluggeräte, schätzt der Manager das Fähigkeitsprofil der Russen als mindestens ebenso gut wie das der Ukrainer ein. Da die Russen ihre Industrie komplett auf Kriegswirtschaft umgestellt haben, könnten sie rascher neue Drohnen produzieren und diese in immer grösseren Mengen auf das Schlachtfeld werfen.

Schon muss Kruck weiter zu seinem nächsten Termin: Er wird gemeinsam mit dem Minister für strategische Industrien der Ukraine eine Übereinkunft für die Zusammenarbeit mit einem Spezialisten für militärische Robotics-Systeme unterzeichnen. Doch schon kurz nach dem Verlassen des Fabrikgeländes, auf dem Weg in die Stadt, ertönen erneut Sirenen: In Kiew herrscht Luftalarm. Der Feind von oben ist stets präsent.

«Noch 2020 wurde ich ausgelacht wegen meiner Spielzeuge»

«Pass dich an oder stirb» – für Wadim Junik geht das nicht schnell genug. Er ist Präsident von Tech Force in UA, einem nationalen Verband von Drohnenherstellern, und Geschäftsführer der FRDM Group, die unbemannte Fluggeräte und Landroboter herstellt. Nach der Revolution auf dem Maidan und der Annexion der Krim durch Russland 2014 begann er sich als Freiwilliger in der Ostukraine zu engagieren, in einer Brigade für Luftaufklärung. Um die Bewegung der Russen an der Front zu überwachen, setzten er und seine Mitkämpfer schon damals Drohnen ein.

Anerkennung bekamen er und seine Kollegen dafür erst keine. «Noch 2020 hat mich ein General wegen meiner Drohnen ausgelacht und sie Spielzeuge genannt», erinnert er sich. Nun sind die unbemannten Fluggeräte aus den Streitkräften zwar nicht mehr wegzudenken. «Die Entscheidung im Krieg können sie aber nicht herbeiführen», sagt er. Die Ukraine braucht Lieferungen von ausländischen Rüstungsgütern wie Panzern und vor allem Flugabwehrsystemen, um die Bewohner Kiews und anderer Städte vor den Angriffen der Russen zu schützen.

Die Jobs bei den Drohnenherstellern gelten als attraktiv. Insbesondere im Bereich Defense-Tech, der sich mit Drohnen und dem Einsatz von künstlicher Intelligenz im Krieg beschäftigt, sind Arbeitskräfte gesucht. Ständig kämpfen die Unternehmen mit der Abhängigkeit von ausländischen Komponenten. China ist ein wichtiger Lieferant, aber nicht immer erreicht das Material die Ukraine. Peking hat den Export bestimmter Güter wie etwa Batterien oder Kameras in die Ukraine eingeschränkt, da sie auch für militärische Zwecke eingesetzt werden können.

Als Ausweg bestellen viele Unternehmen die Waren nach Polen und führen sie von dort in die Ukraine ein. Das kann aber zu Lieferengpässen und Verzögerungen führen. Wadim Junik verzichtet bei seinen eigenen Drohnen komplett auf chinesische Bauteile und verwendet stattdessen Komponenten aus der Ukraine oder Europa. «Nüchtern betrachtet hätten Unternehmer schon 2022 erkennen müssen, dass es besser ist, auf Lieferungen aus China zu verzichten», sagt er. China sei kein Freund der Ukraine. Als kommunistisches Land stehe es eher auf der Seite Russlands, findet Junik.

Ein weiteres Hindernis ist die Bürokratie bei der Beschaffung. Junik kennt Drohnenhersteller, welche von den Streitkräften genaue Listen zum Gerät bekommen, welches sie an der Front benötigen. Sie könnten liefern, doch das Verteidigungsministerium stellt sich auf den Standpunkt, dass nicht alle Formulare korrekt ausgefüllt worden seien. Mit dem Ergebnis, dass die Streitkräfte das dringend benötigte Gerät nicht in ausreichender Menge erhielten.

Die zusätzlichen Formulare seien eingeführt worden, um Korruption zu verhindern, sagt Junik. In den vergangenen Jahren kam es in der Ukraine im Verteidigungsministerium zu einigen aufsehenerregenden Fällen. «Das verstehe ich, trotzdem ist dadurch alles sehr langsam geworden», sagt er. Es ist absurd: Eigentlich könnte die Ukraine eine grosse Anzahl Drohnen produzieren. Die Unternehmen bleiben aber darauf sitzen oder produzieren erst gar nicht mit voller Kapazität.

«Unsere Priorität ist Russland»

Ist der Krieg auch ein gutes Geschäft für die Rüstungsunternehmer? Vor allem die vielen kleineren Unternehmen in der Branche leben von der Hand in den Mund, wie eine Umfrage der Wirtschaftsuniversität Kiew vom vergangenen Oktober zeigt. Mehr als die Hälfte der Befragten gab damals an, dass ihre Liquidität für weniger als drei Monate reiche. Es ist für sie schwierig, zu wachsen. Denn das ukrainische Verteidigungsministerium kauft ihnen ihre Drohnen nicht zum Marktpreis ab.

Die Regierung hat festgelegt, dass der Preis für Rüstungsgüter nicht mehr als ein Viertel über dem Produktionspreis liegen darf. Zudem dürfen die Produzenten etwa ihre Kosten für die Forschung und Entwicklung neuer Geräte nicht weiter verrechnen – im Wettrüsten mit Russland ist das für die Hersteller ein wichtiger Kostenfaktor.

Nicht alle stört das. Schon aus moralischen Gründen wolle er im Krieg im Geschäft mit der Armee keinen Gewinn erwirtschaften, sagt der Besitzer eines Drohnen-Startups im Gespräch. Hoffnung setzen viele nun in das sogenannte dänische Modell: Dänemark finanziert seit dem vergangenen Jahr direkt ukrainische Rüstungsunternehmen. Diese liefern ihr Kriegsgerät direkt an die Front – ganz ohne Umweg über das Ausland, wie es bis anhin bei ausländischer Militärhilfe üblich war.

Inzwischen haben auch Risikokapitalgeber die Chance erkannt. Offizielle Angaben gehen von bis zu 5o Millionen Dollar aus, die 2024 in Verteidigungs-Startups investiert wurden. Langsam würden auch die ausländischen Fonds ihre strengen Regeln lockern, was Investitionen in Rüstungsgüter anbelangt, sagt Wolodimir Tscherniuk, CEO bei Iron Cluster, einem weiteren Branchenverband.

Vor ein paar Jahren hiess es von den Risikokapitalgebern noch: «‹Ihr wollt Menschen töten? Vergesst es, wir werden nicht bei euch investieren›», erinnert er sich. Viele seiner Kollegen hätten nicht einmal ein Konto bei einer europäischen Bank eröffnen können, so schlecht war der Ruf der Rüstungsindustrie. Vor kurzem war er zu Gesprächen mit potenziellen Investoren in Brüssel. Deren Verhalten habe sich komplett geändert: «Heute sagen sie, ‹ihr verteidigt Europa – hier, nehmt unser ganzes Geld›», sagt er.

Um die wirtschaftlichen Anreize für die Drohnenproduktion zu verstärken, fordern die Hersteller, dass sie ihre überschüssige Produktion ins Ausland exportieren dürfen. Derzeit ist ihnen das untersagt. Politisch ist die Forderung umstritten. Anna Hwosdjar, die Vizeministerin für strategische Industrien der Ukraine, spricht sich gegen einen Export von Drohnen und anderen Waffen aus. «Unsere erste Priorität ist Russland», sagt sie. Die Ukraine müsse ihr eigenes Territorium schützen. Dazu brauchten die eigenen Streitkräfte alles, was in dem Land selbst hergestellt werden könne.

Nach dem Krieg sei die Lage eine andere, meint sie: «Dann wird die Ukraine zu einem der grössten Rüstungsexporteure aufsteigen.» Gerade wegen ihrer Erfahrungen im Kampf gegen Russland sei sie für die Kriege der Zukunft, in denen Drohnen und elektronische Kriegsführung eine wichtige Rolle spielen würden, besser ausgerüstet als andere Länder, sagt Hwosdjar.

«Russen mit Socken zu töten, ist schwierig»

Der Abwehrkampf gegen Russland hat sogar eine eigentliche Crowdfunding-Industrie entstehen lassen. Für viele ist es eine Form des Widerstandes. Für wenige hundert Dollar lassen sich kleine Drohnen im Internet kaufen. In den sozialen Netzwerken oder beim Mittagessen im Restaurant, überall wird man dazu aufgefordert, etwas für die unbemannten Fluggeräte zu spenden.

Eine der wichtigsten Organisationen in dem Bereich leitet der TV-Moderator und Politiker Serhi Pritula. An einem Nachmittag Anfang April steht er mit einigen maskierten Mitgliedern einer Spezialeinheit in Tarnfleck vor der gigantischen «Mutter Heimat»-Statue, die hoch über der ukrainischen Hauptstadt thront. Er übergibt ihnen Angriffsdrohnen, welche mit einer Reichweite von 50 Kilometern Ziele weit hinter der Front angreifen können. Gesammelt hat er das Geld über ein Crowdfunding mit seiner Stiftung. Immer wieder zeichnen sie die Zeremonie auf, bis Pritulas Medienteam zufrieden ist. Trotz der bitteren Kälte. Die Aufnahme wird er später auf seinem Youtube-Kanal veröffentlichen.

Eigentlich seien die Ukrainer zutiefst kriegsmüde, sagt Pritula beim anschliessenden Gespräch im Büro seiner Stiftung in der Altstadt von Kiew. An den Wänden hängen zahlreiche Fahnen und Banner von Kampfbrigaden: Zeichen der Anerkennung von der Front. Trotzdem gebe es im In- und Ausland immer noch viele Leute, die sie bis zum Schluss unterstützen wollten. «Das stimmt mich zuversichtlich», sagt Pritula.

Dann sagt er etwas, ohne das derzeit kein Gespräch mit Ukrainern zu Ende geht: Europa müsse mehr tun. Besonders jetzt, da die weitere militärische Unterstützung der USA unter Präsident Donald Trump mehr als unsicher sei. Für Pritula reicht es nicht, wenn die Europäer nur für humanitäre Zwecke Geld geben, für den Wiederaufbau spenden und der Bevölkerung warme Kleidung für den kalten Winter schicken. Nein, die Ukraine müsse sich auch militärisch wehren können. «Russen mit Socken zu töten, ist schwierig», sagt Pritula.

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