130 Milliarden Franken weniger Börsenwert, schwaches Wachstum, schlechte Presse: Kann Paul Bulcke den Nestlé-Konzern wieder aufrichten?
Es klang wie eine Beschwörung. Oder war es eine Rechtfertigung? Als Paul Bulcke, Verwaltungsratspräsident des Schweizer Milliardenunternehmens Nestlé, im Spätsommer 2024 an einer Telefonkonferenz zu den Investoren und Analysten sprach, sagte er: «Ich kenne dieses Unternehmen. Ich weiss, was uns dauerhaften Erfolg gebracht hat.»
Kurz zuvor war etwas geschehen, das für Nestlé ganz und gar untypisch war. Der Konzernchef Mark Schneider musste abtreten, der neue CEO hiess Laurent Freixe. Die Aufgabe von Verwaltungsratspräsident Bulcke war es nun, den Wechsel zu erklären. Doch in seinen Worten schwang mehr mit: Bulcke rückte zurecht, was ihm Jahre zuvor entglitten war.
Der Auftritt steht sinnbildhaft für die Krise von Nestlé. 130 Milliarden Franken weniger Börsenwert, schwaches Wachstum, schlechte Presse: Bei dem Konzern kam in letzter Zeit einiges zusammen. Die Aktie verzeichnete im vergangenen Jahr einen der grössten Verluste der Geschichte. Der neue CEO konnte den Abstieg auch nicht bremsen. Als Laurent Freixe übernahm, stand der Aktienkurs bei 90 Franken. Heute liegt er bei 77 Franken.
Je tiefer die Aktie fällt, desto mehr gerät der Verwaltungsratspräsident unter Druck. Paul Bulcke, 70 Jahre alt und seit 46 Jahren bei Nestlé, muss den Konzern wieder aufrichten. Es ist seine letzte Mission – und vielleicht auch seine schwierigste. In zwei Jahren endet seine Amtszeit. Kämpft Bulcke für Nestlé, kämpft er auch für sein Vermächtnis.
Die Firma ist grösser als der Mann
Paul Bulcke wuchs in dem belgischen Küstenstädtchen Ostende auf. Fast frisch von der Universität und getrieben vom Wunsch, ins Ausland zu gehen, begann er im Jahr 1979 bei Nestlé. Nach einem Jahr als Trainee am Hauptsitz in Vevey und in Spanien zog Bulcke für den Konzern nach Peru. Später ging er nach Ecuador, Chile, Portugal, Tschechien, Deutschland.
Ab 2004 verantwortete er als Zonenleiter von Amerika eine Region von Alaska bis Feuerland. Im Jahr 2008 wurde er Konzernchef von ganz Nestlé. Müsste Bulcke seine Karriere zeichnen, es wäre eine Linie. Schnurgerade und steil nach oben.
Bulcke ist ein Nestlé-Mann, wobei Nestlé immer grösser war als der Mann. Das Unternehmen funktioniert nach eigenen Regeln. Es ist eine Welt für Insider, umgänglich im Ton und bedächtig im Geschäft. Wer sich hier nach oben arbeitet, hat sich mit den Marken und Märkten vertraut gemacht und respektiert die Firmenkultur ebenso wie seine Vorgänger.
Bulcke war so ein Mann. Er fühle sich immer dort zu Hause, wo er gerade sei, sagte er einmal in einem Interview. Und meinte: wo Nestlé ihn gerade hin schickte. Bulcke wohnt heute mit seiner Frau im Kanton Freiburg. Die drei Kinder leben über die Welt verstreut.
Der stille Aufpasser des CEO
Als Konzernchef hatte Bulcke die Nachfolge von Peter Brabeck angetreten und sollte ihm 2017 auch als Verwaltungsratspräsident folgen. Solche Stabwechsel sind bei Nestlé seit langem üblich. Sie garantieren, dass die Granden im Hintergrund die Kontrolle behalten.
Mit Bulcke als designiertem Verwaltungsratspräsidenten stand die Wahl eines neuen CEO an. Mehrere interne Kandidaten standen zur Auswahl, unter ihnen Laurent Freixe. Es heisst, Bulcke habe für ihn schon damals Sympathien gehegt. Doch Peter Brabeck hatte andere Pläne. Er sah in den beiden kein starkes Gespann: zu ähnlich, zu unauffällig. Beide waren Nestlé-Männer, fleissig und loyal. Doch Brabeck wollte mehr. Er holte Mark Schneider, einen angesehenen Manager aus Deutschland, die grosse Nummer beim Gesundheitskonzern Fresenius.
Bulcke und Schneider seien grundverschieden gewesen, erzählen Personen, die beide erlebt haben. Schneider galt als der analytische Stratege, nüchtern im Ton und streng in der Führung. Bulcke hingegen ist ein geschickter Netzwerker, der sechs Sprachen spricht, und ein Lebemann – einer, der Journalisten einst mit Gipsbein empfing, weil er kurz zuvor vom Töff gefallen war.
Mit Schneiders Wahl zum CEO wurde erstmals seit fast hundert Jahren gegen das ungeschriebene Nestlé-Gesetz verstossen, wonach der Konzernchef aus den eigenen Reihen zu kommen hat. Für gewöhnlich befördert Nestlé langjährige Mitarbeiter auf diese Position, während sich Aussenseiter beweisen müssen. Doch Mark Schneider war die Ausnahme.
Unter Schneider wuchs Nestlé wieder schneller, nachdem Bulcke das traditionelle Wachstumsziel von 5 bis 6 Prozent mehrmals verfehlt hatte. Er sortierte ein Fünftel des Produktportfolios aus und investierte stark in den Rückkauf eigener Aktien. Die Investoren waren begeistert, denn Nestlé konzentrierte sich nun stärker darauf, ihren Gewinn zu steigern.
Mit der Pandemie stiegen die Umsätze und die Profitabilität weiter. Im Jahr 2020 lag die Betriebsgewinnmarge bei 17,7 Prozent. Ende 2021 erreichte die Nestlé-Aktie mit knapp 130 Franken ihren Höchststand – und mit ihr Schneiders Einfluss.
Doch einer beobachtete ihn genau: sein stiller Aufpasser, Verwaltungsratspräsident Bulcke.
Er sah in Schneiders Kurs eine Bedrohung für Nestlé. Schneider wollte den Konzern modernisieren, indem er Firmen aus dem Gesundheitsbereich kaufte und das Geschäft mit Fleischersatz und pflanzlichen Milchalternativen ausbaute. Doch Produkte wie vegane Shrimps haben es nie über die Testphase hinaus geschafft. Die Nachfrage fehlte.
Viele von Schneiders Ideen blieben deshalb teure Experimente. Dafür fehlte das Geld nun in den traditionellen Bereichen von Nestlé. Massenprodukte wie Milchpulver, Schokolade und Fertiggerichte wurden vernachlässigt, obwohl der Konzern mit ihnen gross geworden war.
Bulckes Kriegsbild
Eine Zeitlang konnte Schneider seinen Kurs fortsetzen, durchsetzen, doch dann kippte die Stimmung. Als die Inflation im Jahr 2022 weltweit anstieg und die Nestlé-Aktie fiel, wurde er angreifbar. Der Wertverlust hatte auch hausgemachte Gründe. IT-Probleme bremsten das Gesundheitsgeschäft, und Skandale um illegale Filtermethoden belasteten den Mineralwasserbereich. Gleichzeitig rächte sich, dass Nestlé weniger für die Vermarktung ihrer Produkte ausgegeben hatte. Der Konzern verlor Marktanteile.
Mark Schneider wirkte zunehmend rat- und ideenlos. In Vevey klagten die Mitarbeiter über seine fehlende Strategie. Die letzten Unterstützer verlor er, als er im Juli 2024 die Halbjahreszahlen vorlegte und das Wachstumsziel nach unten korrigieren musste. Einen Monat später, am 22. August, war Schneider weg.
Paul Bulcke nannte zunächst keinen konkreten Grund für den Wechsel an der Spitze. In einem Interview mit der NZZ von Ende August sagte er, es habe nicht am Aktienkurs gelegen – obwohl dieser seit 2022 um 30 Prozent gefallen war. Stattdessen beunruhigten ihn die Verkaufszahlen. Nestlés starke Preiserhöhungen, mit denen der Konzern die gestiegenen Kosten weitergab, trieben viele Kunden zu der günstigeren Konkurrenz. Irgendwann, so Bulcke, sei der Punkt gekommen, «an dem wir uns gefragt haben, welche Kombination von Eigenschaften es an der Spitze nun braucht».
Für ihn war klar: Nestlé braucht jetzt keinen Superstar von aussen, sondern jemand Vertrautes. Eine Person mit Erfahrung «aus dem Schützengraben», jemanden, der «die Truppen versammeln und eine Einheit bilden» könne. Mit diesen Worten stellte Bulcke in der Telefonkonferenz den neuen CEO Laurent Freixe vor.
Bulcke liess es nicht bei dem Kriegsbild bewenden, er verkündete auch einen neuen Schlachtruf: Es gehe nun «forward to basics», vorwärts zu den Grundlagen. Nestlé will künftig wieder mehr in Werbung und Marketing investieren, um die wichtigsten Marken des Konzerns zu stärken. Dazu gehören Kitkat, Nescafé oder Maggi. Bulcke kehrt damit dorthin zurück, wo es ihm am wohlsten ist; in die alte Nestlé-Welt, die lange so erfolgreich war.
Die Anleger hat er noch nicht überzeugt. Auch der neue Konzernchef Laurent Freixe ist bisher daran gescheitert, bessere Stimmung unter den Investoren zu verbreiten. Die Aktie, an der fast jede Schweizerin und jeder Schweizer über die Pensionskasse beteiligt ist, hat in den letzten sechs Monaten weiter an Wert verloren. Am Donnerstag folgt ein neuerlicher Test: Dann legt Nestlé die Geschäftszahlen für das vergangene Jahr vor.
Kein Drama, dafür Plattitüden
Die verfehlten Finanzziele und der plötzliche Chefwechsel belasten das einstige Wirtschaftswunder Nestlé. Verwaltungsratspräsident Paul Bulcke bemüht sich, optimistisch zu sein. «Ich sehe kein Drama», sagte er damals in dem Investoren-Call. Später erklärte er in dem Interview mit der NZZ, dass es nun «Leidenschaft für unsere Marken» und «die richtige Person im richtigen Moment» brauche. Es klang ein wenig nach jemandem, der noch nach den passenden Antworten suchte.
Paul Bulcke muss an der Generalversammlung 2027 altershalber als Verwaltungsratspräsident abtreten. So schreiben es die Statuten vor. Ihm bleiben etwas mehr als zwei Jahre, um zu zeigen, dass seine Vision einer traditionellen Nestlé noch trägt. Gelingt ihm das, stünde mit Laurent Freixe wieder ein CEO für seine Nachfolge bereit.
Noch will man sich bei Nestlé zu dieser Frage nicht äussern. Auch das gehört zu Bulckes neuer Methode: sich bewusst zurückhalten und anschliessend die Erwartungen übertreffen. Nun müssen das nur noch die Investoren verstehen.