Sonntag, November 24

Chinas Regierung missbrauche das Gesetz als Waffe, sagt Jacques deLisle, Professor für chinesisches Recht. Gut sichtbar sei dies am Beispiel Taiwans.

Herr deLisle, Sie sagen, dass China das Recht für seine strategischen Ziele missbrauche. Können Sie das mit einem Beispiel illustrieren?

Nehmen wir Taiwan. Die Volksrepublik China versucht, die Welt davon zu überzeugen, dass Taiwan völkerrechtlich gesehen bereits heute ein Teil Chinas ist. Gelingt ihr das, so hat das grosse Auswirkungen. Denn wenn Peking beschliesst, Gewalt gegen Taiwan anzuwenden, so ist dies nach chinesischer Lesart eine interne Angelegenheit. Peking kann dann sagen: Es geht darum, eine Sezession niederzuschlagen. Wenn die Welt dem Argument Chinas hingegen nicht folgt, dann sieht die Anwendung von Gewalt gegen Taiwan so aus, als würde ein Land in ein anderes einmarschieren. Sie sehen: Je nachdem, ob Peking dieses völkerrechtliche Argument gewinnt, ist die globale Wahrnehmung eine ganz andere.

Zur Person

Politologie- und Rechtsprofessor Jacques deLisle

An der Universität von Pennsylvania leitet Jacques deLisle das Center for the Study of Contemporary China. Seine Forschungs- und Lehrtätigkeit fokussiert auf zeitgenössisches chinesisches Recht und chinesische Politik, den Status Taiwans sowie die Beziehungen zwischen Taiwan und Festlandchina.

Wie genau versucht China, seinen Anspruch auf Taiwan mithilfe des Rechts durchzusetzen?

Zum Beispiel, indem Peking die Uno-Resolution 2758 von 1971 uminterpretiert. Mit diesem Entscheid hat die Uno-Generalversammlung den Sitz der Republik China auf Taiwan an die Volksrepublik China auf dem Festland übertragen. China behauptet nun, diese Resolution belege, dass die Uno Taiwan als Teil Chinas betrachte. Nur: Die Resolution erwähnt Taiwan nicht einmal. Der Status der Insel ist da kein Thema. Daneben erlässt China nationale Gesetze, die belegen sollen, dass Taiwan ein Teil von China ist.

Was sind das für Gesetze?

Das wichtigste ist das Antisezessionsgesetz, das bereits 2005 verabschiedet wurde. Es besagt, dass nach chinesischem Recht Taiwan derzeit ein Teil Chinas sei und dass China Gewalt anwenden werde, wenn Taiwan sich von China abspalten wolle. Mit dem Gesetz signalisiert China, dass es sich befugt sieht, Gesetze über Taiwan zu erlassen. Und Anfang dieses Jahres hat das oberste Gericht eine formelle Auslegung veröffentlicht. Danach ist es nach chinesischem Recht eine Straftat, die Unabhängigkeit Taiwans zu fördern oder zu unterstützen.

Na und? Die chinesische Polizei kann dieses Gesetz in Taiwan ja nicht durchsetzen . . .

Das Gesetz ist symbolisch. Es richtet sich in erster Linie an die internationale Gemeinschaft. Es geht wie bei der Uno-Resolution darum, zu argumentieren, dass Taiwan zu China gehört. Wenn China dieses Argument gewinnt, dann kann es jegliche Unterstützung für Taiwan – politische, wirtschaftliche, militärische – als Einmischung in seine internen Angelegenheiten darstellen. Im Moment unterstützen viele Länder, allen voran die USA, Taiwans Unabhängigkeit stark. Das gilt aber nicht für Tibet oder Xinjiang, die innerhalb Chinas liegen. Auch Hongkong erhält kaum noch internationale Unterstützung, weil Hongkong immer stärker in die Volksrepublik integriert wird.

Was kann Taiwan gegen Chinas rechtliche Ansprüche tun?

Taiwan, seine diplomatischen Alliierten und gleichgesinnte Länder wie die USA müssen dem chinesischen Narrativ entgegentreten und zeigen, dass dieses nicht der gängigen Interpretation des Völkerrechts entspricht. Es geht um mehr als Taiwan. China will das internationale Recht auf subtile Art ändern. So versucht China universelle Menschenrechte abzuschwächen, indem es sagt, diese seien staatlicher Souveränität untergeordnet. Wenn sich diese Sichtweise durchsetzt, können Staaten nicht mehr dafür kritisiert werden, dass sie Menschenrechte verletzen.

Aber ist dies nicht die normale Art, wie sich internationales Recht weiterentwickelt? Wenn eine Mehrzahl der Staaten und Juristen die Regeln neu interpretiert, verändern sich diese Regeln . . .

Das stimmt. Und es ist ja auch normal, dass eine aufstrebende Macht versucht, Regeln zu ändern, damit diese ihren Interessen dienen. Doch alle, die mit Chinas Interpretation nicht einverstanden sind, müssen das gleiche Spiel spielen. Sie müssen sich wehren und für ihre Lesart der Regeln einstehen. So funktioniert das Ganze: Es ist ein dezentralisiertes und zersplittertes System, was bedeutet, dass es eigentlich nur darum geht, zu argumentieren. Wenn aber nur eine Seite argumentiert, dann gewinnt sie.

Noch einmal zurück zur Uno-Resolution 2758 von 1971. Das Resultat davon ist, dass Taiwan in der Uno und ihren Unterorganisationen nicht vertreten ist. Ist das ein Problem für die Staatlichkeit Taiwans?

Es ist keine Bedingung für die Staatlichkeit, Mitglied der Uno zu sein . . .

Die Schweiz trat ja erst 2002 der Uno bei und war lange vorher ein Staat . . .

Genau. Wenn ein Land Uno-Mitglied ist, so ist dies ein starkes Zeichen, dass es als Staat anerkannt ist. Wenn die eigene Staatlichkeit umstritten ist, dann ist es schlecht, von der Uno ausgeschlossen zu sein. Fast alle Staaten sind in der Uno, und fast alle Uno-Mitglieder sind ein Staat. Aber es gab immer wieder Ausnahmen: Die Sowjetunion hatte früher drei Sitze: jenen der UdSSR sowie je einen für die weissrussische und die Ukrainische SSR – und diese waren nicht unabhängig von Moskau. Die Schweiz hingegen, unbestritten ein Staat, war lange Zeit nicht in der Uno.

Nur noch ein Dutzend Länder anerkennen die Republik China auf Taiwan diplomatisch an. Es werden immer weniger. Was passiert, falls Taiwan eines Tages gar keine diplomatischen Alliierten mehr hat?

Das wäre schlecht für den Anspruch Taiwans, ein Land zu sein. Aber es ist kein Todesstoss. Es gibt vier Kriterien für die Staatlichkeit: Hat das Land eine Bevölkerung? Hat es ein Territorium? Regiert sich das Land selbst? Und ist es in der Lage, sich in internationalen Beziehungen zu engagieren? Bei der Anerkennung geht es also um das vierte Kriterium. Der Verlust der offiziellen diplomatischen Partner lässt Taiwan schwach aussehen. Taiwan verfügt aber über sehr solide informelle Beziehungen – mit den USA, den Mitgliedern der EU, Japan, Indien und vielen anderen Ländern . . .

Sie alle haben Vertretungen in Taipeh, die zwar anders heissen – etwa American Institute in Taiwan –, de facto aber Botschaften sind.

Genau. Der Test, ob ein Land internationale Beziehungen eingehen kann, ist ein funktionaler Test. Offizielle diplomatische Beziehungen können aufgenommen und abgebrochen werden, ohne dass die Staatlichkeit infrage gestellt wird. Der Mangel an offiziellen Beziehungen schränkt aber Taiwans Möglichkeit ein, sich vollständig auf der internationalen Bühne zu beteiligen.

China argumentiert also, dass eine Eigenständigkeit Taiwans eine Sezession sei. Und dass es diese mit Waffengewalt verhindern dürfe, um seine territoriale Integrität zu schützen. Nun gibt es aber auch ein Recht auf Selbstbestimmung der Völker. Können die Menschen auf Taiwan dieses geltend machen?

Dieses Recht ist schwierig geltend zu machen. Zuerst einmal müsste man argumentieren, dass die Taiwaner ein anderes Volk sind als die Chinesen. Und das ist selbst in Taiwan eine umstrittene Frage.

Immer mehr Taiwaner identifizieren sich als Taiwaner und nicht als Chinesen. Anders gefragt: Wie unterscheidet man Völker? Was unterscheidet den Deutschschweizer vom Deutschen, den englischsprachigen Kanadier vom US-Amerikaner?

Das internationale Recht hat darauf keine klare Antwort. Es gibt viele Fälle, in denen Menschen, die sich auf den ersten Blick sehr ähnlich sind, auf verschiedenen Seiten politischer Grenzen leben. Aber diese Situationen sind entstanden, weil beide Seiten zugestimmt haben oder weil sie sich im Laufe der Zeit organisch entwickelt haben – nicht durch Sezession. Die Situation ist aber ganz anders, wenn die Mehrheit argumentiert, die Minderheit habe kein Recht, sich loszulösen. So spricht Russland der Ukraine auch die Staatlichkeit ab. Und dann gibt es noch ein zweites Problem für Taiwan . . .

. . . und das wäre?

Die Selbstbestimmung in Form eines eigenen Staates kann nur dann geltend gemacht werden, wenn die Besonderheit einer Bevölkerungsgruppe nicht innerhalb eines grösseren Staates geschützt wird oder werden kann. Wenn man einem Volk innerhalb eines Vielvölkerstaates ein hohes Mass an Autonomie einräumt, dann reicht das theoretisch aus, um die Selbstbestimmung zu gewährleisten. China schlägt dies für Taiwan mit dem Modell «Ein Land, zwei Systeme» vor, das in Hongkong angewandt wurde.

In Taiwan glaubt kaum jemand, dass Peking die Autonomie der taiwanischen Bevölkerung respektieren würde . . .

Das ist das Problem: In Taiwan gibt es grosse Zweifel, dass «Ein Land, zwei Systeme» eine Autonomie auf längere Frist sichern würde. Vor allem nach dem, was in Hongkong ab 2019 geschehen ist. Das Gesetz für nationale Sicherheit schränkt die Freiheiten dort stark ein.

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