Die Talsperre am Yarlung Tsangpo soll der grösste Staudamm der Welt werden und drei Mal mehr Strom produzieren als der riesige Drei-Schluchten-Damm am Jangtsekiang. Indien fürchtet ernste Folgen für das fragile Ökosystem an dem Fluss.
Es ist erst wenige Wochen her, dass China und Indien ihren Grenzstreit im Himalaja entschärft haben. Doch schon droht ein neuer Konflikt zwischen den Nachbarn: Das indische Aussenministerium legte am Freitag offiziell Protest ein gegen Pekings Pläne, am Oberlauf des Brahmaputra-Flusses einen riesigen Staudamm zu errichten. Indien habe China dazu aufgerufen, sicherzustellen, dass die Interessen der Anrainer des Brahmaputra durch das Projekt nicht beeinträchtigt würden, sagte ein Sprecher des Aussenministeriums in Delhi.
Die staatliche chinesische Nachrichtenagentur Xinhua hatte in der Woche zuvor gemeldet, dass die Regierung in Peking den Bau des Staudamms am Yarlung Tsangpo genehmigt habe. Die Medog-Talsperre im Süden Tibets soll der grösste Staudamm der Welt werden. Laut Medienberichten soll das Wasserkraftwerk nach der Fertigstellung mit einer Kapazität von 60 000 Megawatt drei Mal mehr Strom erzeugen als der riesige Drei-Schluchten-Damm am Jangtsekiang.
Das Projekt an der Grenze zu Indien, das 137 Milliarden Dollar kosten soll, ist seit Jahren in Planung. Indien und Bangladesh haben bereits früher Vorbehalte geäussert, da der Damm das fragile ökologische Gleichgewicht am Flusssystem zu beeinträchtigen droht. Auch haben Experten Bedenken gegen den Bau, da in der seismisch aktiven Gebirgsregion die Gefahr von Erdbeben hoch ist und in dem steilen Gelände durch den Stausee Erdrutsche drohen.
Der Yarlung Tsangpo fliesst durch die tiefste Schlucht der Welt
Der Yarlung Tsangpo entspringt am Berg Kailasch im Westen Tibets und fliesst nördlich des Himalaja über das tibetische Hochplateau, bevor er nach einer Strecke von gut 1100 Kilometern die Grenze zum indischen Teilstaat Arunachal Pradesh passiert. Dort wird er Siang genannt, bevor er nach dem Zusammenfluss mit anderen Flüssen in Assam zum Brahmaputra wird. Dieser Strom mündet letztlich im Süden von Bangladesh in einem weiten Delta in der Bucht von Bengalen.
Bevor der Yarlung Tsangpo die indische Grenze erreicht, macht er um den 7782 Meter hohen Namchabarwa eine scharfe Kurve und fliesst durch die über 500 Kilometer lange Yarlung-Tsangpo-Schlucht. Mit einer Tiefe von bis zu 6000 Metern ist dies der tiefste Canyon der Welt. Auf dieser Strecke verliert der Fluss über eine Reihe von Wasserfällen mehr als 2000 Meter an Höhe. Die Schlucht ist so schwer zugänglich, dass sie erst ab den neunziger Jahren komplett erforscht wurde.
Für das Staudammprojekt sollen vier Tunnel durch den Namchabarwa gebohrt werden, um den Yarlung Tsangpo umzuleiten. Die Regierung in Peking präsentiert das Wasserkraftwerk als wichtigen Beitrag zum Klimaschutz und versichert, sie habe bei der Planung die Interessen der Nachbarn berücksichtigt. Staudammprojekte am Oberlauf des Mekong, die in Thailand, Vietnam und Kambodscha zu ernsten Problemen geführt haben, wecken aber Zweifel an solchen Zusicherungen.
Es bleiben viele Konflikte zwischen den Nachbarn
China und Indien haben erst im Oktober ihre Grenzstreitigkeiten in Ladakh beigelegt. In der von den beiden Ländern beanspruchten Gebirgsregion war es im Juni 2020 wegen eines indischen Strassenbauprojekts im Galwan-Tal zu Zusammenstössen mit Dutzenden Toten gekommen. Beide Seiten zogen daraufhin Zehntausende Soldaten an der Grenze zusammen, setzten die Flüge zum Nachbarn aus und legten politische Kontakte auf Eis.
Nach der Einigung im Oktober wurden die Patrouillen an der Grenze wieder aufgenommen und eine Reihe temporärer Bauten entfernt. Zudem kamen der indische Premierminister Narendra Modi und der chinesische Präsident Xi Jinping seit längerem wieder zu Gesprächen zusammen. Im Westen, wo Indien als Gegengewicht zur aufstrebenden Grossmacht China gesehen wird, wurde die Annäherung mit Sorge verfolgt. Der Streit um den Staudamm zeigt aber, dass auch in Zukunft viele Konfliktpunkte zwischen den Nachbarn bleiben.