Mittwoch, Januar 15

Caroline Darian ist überzeugt, dass sie von ihrem Vater Dominique Pelicot ebenfalls sexuell missbraucht wurde, wie sie in ihrem Buch schreibt. Zu ihrer Mutter war das Verhältnis angespannt. Denn Gisèle Pelicot verdrängte die Schwere des Verbrechens zuerst.

An einem gewissen Punkt hat Caroline Darian Angst, ihre Mutter Gisèle Pelicot zu verlieren. Deren Mann Dominique Pelicot, Carolines Vater, wird der schweren sexuellen Verbrechen beschuldigt und sitzt im Gefängnis. Dorthin schickte ihm Gisèle Pelicot ein Paket mit warmen Kleidern, aus Mitleid, nachdem sich Dominique Pelicot über die Haftbedingungen beklagt hatte und auch darüber, wie einsam er sei.

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Er habe an Gewicht verloren, friere und vermisse die Familie, welcher er Schlimmes angetan habe, schreibt er in einem Brief im November 2020. Vor allem denke er an Gisèle Pelicot, «die Liebe meines Lebens».

Obwohl zu diesem Zeitpunkt bekannt ist, was er seiner Frau angetan hat, scheint er noch immer Macht über sie zu haben. So befürchtet es Caroline Darian, die Tochter, als sie von Gisèles Kleidersendung erfährt: Er manipuliert sein Opfer von fern. Darian ist ausser sich und versteht ihre Mutter nicht. Was passiert ist, droht die Familie zu zerreissen.

Jeder erlebt das Trauma anders

Fast zehn Jahre lang hatte Dominique Pelicot seine Frau regelmässig betäubt, um sie von fremden Männern vergewaltigen zu lassen und selber zu vergewaltigen. Die Taten dokumentierte er in Tausenden von Fotos und Videos. Ende 2024 wurde Pelicot zu zwanzig Jahren Haft verurteilt. Auch alle fünfzig Mitangeklagten wurden schuldig gesprochen.

Über den Fall scheint man alles zu wissen. Er wurde in den vergangenen Monaten im Prozess von Avignon öffentlich verhandelt, weil Gisèle Pelicot das so wollte. Dabei war tröstlich zu sehen, wie die Mutter und die drei Kinder zusammenhielten und sich unterstützten. Die Liebe füreinander, so der Eindruck, ist trotz der Schande und Scham unzerstörbar, die der Ehemann und Vater über die Familie brachte.

Diese Einigkeit erzählt jedoch nichts von den Belastungen, denen die Beziehungen in den Jahren vor dem Prozess ausgesetzt waren. Davon berichtet Caroline Darian in ihrem Buch «Und ich werde dich nie wieder Papa nennen», das in Frankreich bereits 2022 veröffentlicht wurde und nun auf Deutsch erscheint. «Das Kind des Opfers und des Täters zu sein, ist eine schreckliche Last», schreibt Darian.

Die einzige Tochter der Pelicots begann kurz nach der Verhaftung ihres Vaters alles aufzuschreiben über den «Schiffbruch als Familie». Da war sie 42. Sie beschreibt ihre Erschütterung und Wut, schildert die abscheulichen Taten ihres Vaters. Doch interessanter ist der Einblick, den sie in das angespannte Verhältnis zu ihrer Mutter gibt. Jede erlebt ihr eigenes Trauma. Für Gisèle Pelicot bedeutet dies zuerst Verdrängen.

«Er war nicht dieser Teufel»

So sucht Pelicot «mildernde Umstände» für ihren Mann, als er längst überführt ist, was für Caroline Darian unerträglich ist. Nie zieht Pelicot über ihn her, während Darian die Vergangenheit am liebsten «ausradieren» möchte. Sie sieht in ihrem Vater einen «Mörder der Erinnerungen», einen «Totengräber der Familie», der dieser jahrelang etwas vorgespielt hat.

«Mein Hass auf meinen Erzeuger wächst und wächst», schreibt Darian in ihren tagebuchartigen Einträgen. Versucht sie ihre Mutter von der Monstrosität der Verbrechen an ihr, Gisèle, zu überzeugen, antwortet diese: «Du vergisst, dass er nicht immer dieser Teufel war, als den du ihn darstellst. Er hat viel für dich getan, aber auch für deine Brüder. Ich war glücklich mit ihm. Ich habe ihn so sehr geliebt. Ich möchte lieber die guten Momente in Erinnerung behalten. Der Rest bringt mich nicht weiter, ich will weiterleben. So bin ich nun mal.»

Das klingt ungeheuerlich. Caroline Darian findet dafür eine psychologische Erklärung. Ihre Mutter schütze sich selbst: «Denn würde sie die wahre Natur ihres Mannes erkennen, würde sie auf der Stelle zusammenbrechen.»

Gleichzeitig hilft Darian dieses Wissen nicht mehr, als sich bei ihr ein Verdacht erhärtet: «Sein zweites Opfer bin ich.» Fotos tauchen auf, die Darian halbnackt schlafend auf dem Bett zeigen. Bewusstlos und zum Missbrauch gefügig gemacht, davon ist sie überzeugt. Dominique Pelicot streitet bis heute ab, seine Tochter je angefasst zu haben.

Und Gisèle Pelicot? «Hör auf, dich zu quälen, dein Vater kann so etwas nicht getan haben», sagt sie zu Darian. Sie sagt auch, warum: «Ich kann das nicht hinnehmen, es würde mich endgültig zerstören.» Es ist die klassische Reaktion von Müttern, die zu Mittäterinnen werden.

Trauer um den Vater

Obwohl sich Caroline Darian oft alleingelassen fühlt, überwiegt die Bewunderung für Gisèle Pelicot. Diese macht in den vier Jahren offenbar einen Prozess durch: vom Verleugnen und Schönreden zu Wut und Härte. So kennt man Pelicot von ihren öffentlichen Auftritten. Sie sei eine «wahre Heldin, aufrecht in den Ruinen stehend», «zart, erschöpft, aber beherrscht, widerstandsfähig», schreibt Darian. Aus dieser Haltung der Mutter schöpft die Tochter nun für sich selber Kraft.

Für Darian fügt sich im Nachhinein vieles zusammen. Die Gedächtnisausfälle von Gisèle Pelicot, ihre Erschöpfung immerzu. Verdacht auf Alzheimer, Abklärungen. Blutungen, deretwegen sie in gynäkologische Behandlung ging. Dominique Pelicot stimmte die Dosis der Beruhigungsmittel genau ab, mit denen er seine Frau sedierte. Er riskierte, dass ihr Herz zu schlagen aufhört. Manchmal war sie acht Stunden bewusstlos, in denen sich die Männer an ihr vergingen.

Die widersprüchlichen Gefühle, die ihre Mutter anfangs hat, überwältigen auch Caroline Darian. Sie erinnert sich an einen liebevollen Vater, der sie unterstützte und von dem sie auch Gutes geerbt hat, etwa seine Energie. Das macht es so schwer. Sie wird ihn nicht mehr Papa nennen. Aber, so schreibt sie im Vorwort vier Jahre später und als Erinnerung formuliert: «Mein Vater fehlt mir.»

Caroline Darian: Und ich werde dich nie wieder Papa nennen. Aus dem Französischen von Michaela Messner und Grit Weirauch. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2025. 222 S., Fr. 33.90.

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