Samstag, Oktober 12

Sie meiden Konflikte, wollen niemanden enttäuschen und machen alles für andere: Die Psychologin Ulrike Bossmann weiss, was People-Pleaser tun können, um sich nicht selbst zu verlieren.

Frau Bossmann, wann haben Sie das letzte Mal Ja gesagt, aber Nein gemeint?

Das ist schon ein Weilchen her. Ich achte darauf, das nicht zu tun. Aber vor ein paar Wochen musste ich einer Mitarbeiterin eine kritische Rückmeldung geben. Ich fragte mich: Wie nimmt sie’s auf? Wie wird sie darauf reagieren?

Sie haben also kein People-Pleasing betrieben?

Nein, ich habe meine Kritik klar zum Ausdruck gebracht. People-Pleasing ist etwas anderes.

Nämlich?

Es geht darum, Menschen (people) gefallen zu wollen (to please). People-Pleaser wollen es anderen recht machen. Ihnen ist das Wohlbefinden der anderen wichtiger als ihr eigenes. Sie fürchten sich davor, ihre Mitmenschen zu verärgern, zu verletzen oder zu enttäuschen.

In Ihrem Buch über das Phänomen schreiben Sie: «Menschen werden People Pleaser, weil es sinnvoll war und ist, People Pleaser zu sein.» Das kann doch nicht Ihr Ernst sein. Es geht nicht ohne Enttäuschungen, ohne Verletzungen im Leben.

Nein, aber es gibt Menschen, die mit Botschaften wie dieser aufgewachsen sind: «Nur wenn du lieb, brav, nett und angepasst bist, stellst du sicher, dass du geliebt wirst.» People-Pleasing ist eine Strategie, dieses Grundbedürfnis zu befriedigen.

Wie kommt es, dass das eine Kind später mit solchen Leitsätzen durchs Leben geht und das andere nicht, obwohl beide in der gleichen Familie gross geworden sind?

Kinder wachsen unterschiedlich auf. Knaben gelten zum Beispiel als durchsetzungsstark, wenn sie das Buddelförmchen nicht abgeben wollen im Sandkasten. Mädchen wird in der gleichen Situation gesagt, dass andere Kinder ganz traurig würden, wenn sie das Förmchen nicht auch einmal haben dürften. Kinder werden oft entmutigt. Das kann auch zu People-Pleasing führen.

Fällt Ihnen dazu ein Beispiel ein?

Ich hatte einmal eine Klientin, die Fernsehmoderatorin werden wollte und das als Kind oft gespielt hat, mit der Haarbürste als Mikrofon in der Hand. Voller Lebendigkeit, Begeisterung, Enthusiasmus. Doch dann bekam sie von ihrer Familie zu hören: «Jetzt hör doch mal auf mit dem Quatsch.» Oder noch schlimmer: «Leute wie wir kommen nicht ins Fernsehen!» Das macht etwas mit der Bindung und dem Selbstwertgefühl, weil man Kindern dadurch indirekt zu verstehen gibt: «Zwischen uns ist etwas nicht okay. Und du bist nicht okay.» Sie schämen sich und fragen sich: Wie wollen die anderen mich haben? Und dann verhalten sie sich entsprechend.

Lässt sich sagen, welche Persönlichkeiten eher zu People-Pleasing neigen und welche weniger?

People-Pleasing ist kein Persönlichkeitsmerkmal. Es ist eine Verhaltensweise, die man mit Sozialisation erklären kann. Frauen neigen eher dazu. Sie mussten mehr im Haushalt helfen, als sie klein waren. Sie müssen sich kümmern um andere. Von ihnen wird erwartet, dass sie einfühlsam sind, Rücksicht nehmen, ihre eigenen Bedürfnisse zurückstellen – zugunsten ihrer Partner, Kinder und Eltern beispielsweise.

Auch Männer können People-Pleaser sein. Etwa, wenn sie mit dominanten Menschen aufgewachsen sind.

Auch Männer ducken sich weg, klar. Sie können ebenfalls über feine Antennen verfügen. Und auch sie können als Kind gelernt haben, zu beschwichtigen, leise zu sein, sich kleinzumachen, schwierigen Situationen aus dem Weg zu gehen, damit es nur ja nicht kracht.

Es ist halt sehr anstrengend, jedes Argument, jeden Konflikt auszufechten. Gerade mit Menschen, die einem nahestehen.

Klar kann es das sein. Aber es macht einen Unterschied, ob man bewusst entscheidet oder nicht. Ein Beispiel: Es ist mir zu anstrengend, mit Tante Erna über Sinn oder Unsinn von gendergerechter Sprache zu diskutieren. Hier kann ich nichts gewinnen, sie stammt aus einer anderen Generation. Also lass ich es bleiben. Bei anderen Themen aber, die es mir wert sind, gehe ich in den Konflikt. Wer sich das so zurechtlegt, ist kein People-Pleaser. People-Pleasing geschieht eher unbewusst. People-Pleaser trauen sich nie, in den Konflikt zu gehen.

Warum nicht? Wegen Verlustängsten?

Das ist die eine Schiene: Werde ich geliebt, so wie ich bin – oder sollte ich mich besser anpassen, mich selber zurücknehmen, weil mich die anderen sonst zurückweisen?

Und die andere Schiene?

People-Pleaser haben oft mit solchen Gedanken zu kämpfen: «Ich bin ein schlechter Mensch, wenn ich sage oder mache, was ich will – weil mir die anderen das Gefühl geben, peinlich oder daneben zu sein.» So wie beim Mädchen mit der Haarbürste in der Hand. Ja nicht anecken, ja «kein schlechter Mensch» sein: Davor haben People-Pleaser grosse Angst. Also meiden sie diese Situationen. Dummerweise wird alles, was wir meiden, immer mächtiger.

So wie der Hund, bei dessen Anblick man die Strassenseite wechselt?

Genau. Wenn ich immer die Strassenseite wechsle, kann ich nie die Erfahrung machen, dass gar nichts Schreckliches passiert, wenn ich an dem Hund vorbeigehe.

Wie kann man diese Ängste überwinden?

Zunächst hilft es, sich zu fragen: Warum bin ich so geworden? Viele meiner Klienten ärgern sich, weil sie hierzu oder dazu wieder Ja gesagt haben, obwohl sie Nein gemeint haben. Dann will ich von ihnen wissen: Was kostet es sie, weiterzumachen wie bisher? Was hat es sie bisher gekostet in ihrem Leben?

Was passiert dann?

Sie bekommen einen Auftrag: Meine Klientinnen und Klienten sollen beobachten, in welchen Situationen sie gefällig waren, sich zurückgenommen, geschwiegen haben. Mit wem und warum. Die Leute sagen zum Beispiel zu mir: «Der Nachbar hat einen blöden sexistischen Witz gemacht, und ich hab nichts gesagt.» Oder: «Im Meeting im Büro hat ein Kollege einen Sachverhalt völlig falsch dargestellt, und ich habe nicht widersprochen.» Wenn wir über solche Situationen sprechen, merken sie oft: So will ich nicht sein. Das nervt mich! – So wird Energie frei, die man braucht, um wirklich etwas zu ändern.

Wie sagt man denn Nein, wenn man es jahrelang nicht gemacht hat?

Man kann das INGA-Prinzip anwenden: Interesse signalisieren, Nein sagen, Grund nennen, Alternative aufzeigen. Im Job zum Beispiel, wenn eine Kollegin fragt, ob man heute noch dies oder das übernehmen könne. Zum Beispiel so: «Mensch, ich freu mich, dass du mich fragst. Aber heute kann ich nicht länger bleiben, weil ich noch zum Sport gehe. Komm doch morgen noch einmal auf mich zu.» Nein sagen heisst Ja sagen zu etwas anderem. People-Pleaser müssen lernen, dass es okay ist, andere auch einmal zu enttäuschen.

Zumal beim Nein-Sagen fast immer das Gegenteil dessen eintritt, was verunsicherte Ja-Sager befürchten: Sie werden nicht zurückgewiesen, sondern ernst genommen.

Unbedingt. Wir respektieren Menschen mit Konturen. Einen Pudding an die Wand nageln? Das hingegen geht irgendwie nicht. People-Pleaser haben oft das Gefühl, übersehen zu werden. Aber wenn ich mich selbst nicht zeige, wie sollen mich die anderen dann erkennen?

Sie arbeiten auch als Coach in Unternehmen. Was machen Sie mit Führungskräften, die ihren Mitarbeitern am liebsten nur das sagen, was diese hören wollen?

Fähnchen im Wind: Das kann strategisch durchaus klug sein.

Na ja. Über kurz oder lang haben solche Chefs ein Glaubwürdigkeitsproblem, nicht?

Vielleicht, ja. People-Pleasing auf Führungsebene läuft jedoch eher darauf hinaus, dass Vorgesetzte sich schwertun mit Entscheiden: Weil der Chef nicht recht weiss, was er will, bindet er immer mehr Leute ein und fragt sie: «Was meinst du? Und du? Und was findest du am besten?» Oder Entscheidungen werden gar nicht getroffen oder vertagt, weil klar ist, dass nicht alle im Team damit glücklich sein werden. Auch hier kann es hilfreich sein, nach dem Preis zu fragen, den dieses Verhalten mit sich bringt. Viele Vorgesetzte fürchten, dass sie nicht mehr als umgänglich, sondern plötzlich als herrisch wahrgenommen werden könnten: Sie sehen, was sie verlieren, nicht aber, was sie gewinnen könnten, wenn sie etwas weniger People-Pleasing betreiben oder ganz darauf verzichten würden.

Was könnten sie gewinnen?

Sie können lernen, etwas mehr bei sich selber zu sein. Ich arbeite viel mit Werten und will von meinen Klienten wissen: Was zeichnet sie aus? Wie wollen sie sein? Die meisten antworten: «Ich will ein authentischer, ehrlicher, freundlicher Mensch sein, auch als Chef.» Nun ist es nicht besonders ehrlich, wenn ich meine eigene Meinung ständig zurückhalte.

Ehrlichkeit hat ebenfalls einen Preis: Man muss damit rechnen, dass Mitarbeiter irritiert sind.

Möglich. Vorgesetzte können aber auch die Erfahrung machen, dass souveräne Entscheide geschätzt werden. Eine klare Entscheidung ist häufig besser als keine Entscheidung. Aber ja: Führungskräfte, die direkter sein wollen, müssen sich fragen: Wie halte ich es aus, wenn es Widerstände gibt im Team? Wenn meine Mitarbeiter nicht einverstanden sind mit meinen Entscheiden? Was mache ich, wenn ich deswegen ein schlechtes Gewissen habe?

Gute Frage: Was macht man dann?

Wer seine eigenen Werte und Stärken zu schätzen weiss, kann damit besser umgehen. Ein schlechtes Gewissen ist ein Gedanke, keine Realität. Es ist nicht die Wahrheit per se. Es ist das Gehirn, das mir auf Basis gemachter Erfahrungen sagt: «Achtung, wenn du das jetzt machst, ist das egoistisch. Das darf man nicht.» Oder: «Achtung, wenn du das jetzt machst, hat der andere dich nicht mehr lieb.»

Ein bedrückender Gedanke.

Ja, aber die meisten Menschen wollen sich diesen Selbstvorwürfen nicht für immer ausliefern. Die Kunst ist zu sagen: «Ich nehme diesen Gedanken nicht mehr so ernst. Ich lasse ihn nicht mehr so nah an mich ran.» Man kann das schlechte Gewissen wie einen Kinofilm verstehen, aus dem man jederzeit hinauslaufen kann, wenn er einem nicht gefällt.

Viele Menschen wollen ein harmonisches Leben führen. Darum weichen sie den grossen Fragen lieber aus, gerade in der Liebe. Was ist daran falsch?

Nichts. Man kann der einen grossen Frage – was hält uns zusammen? – ein Leben lang ausweichen, weil man die Beziehung nicht gefährden will. Oder weil man sich nicht trennen will wegen der Kinder. Dagegen ist nichts einzuwenden – solange es freiwillig geschieht. Viele Menschen schweigen jedoch um der Harmonie willen, und innerlich zerfrisst es sie fast, weil sie es falsch finden. Das ist problematisch.

Viele tun sich trotzdem schwer mit harten Entscheiden.

Natürlich. Restzweifel sind normal. Ambivalenz ist der Normalzustand des Menschen. Wir tun immer so, als ob das Richtige eindeutig sei. Nein zu sagen, Kritik zu üben, einen Konflikt auszufechten, bedeutet nicht, dass es nicht auch eine leise Stimme in mir geben darf, die sagt: «100 Prozent sicher bin ich mir nicht. Es ist mir klar, dass das dem anderen weh tun wird.»

Wie lautet Ihr wichtigster Tipp für People-Pleaser?

Sie sollen bewusst entscheiden können. Aber ihre Grundeigenschaften sollen diese Menschen auf jeden Fall behalten. Sie dürfen und sollen freundlich, hilfsbereit, empathisch, bescheiden bleiben. Es gibt genug Egoisten auf dieser Welt. Aber sie sollen sich selbst nicht verlieren dabei. Sie sollen nicht an sich selbst vorbeileben, sondern ihre Antennen auch einmal auf sich selbst ausrichten. Die Theaterbühne ist ein gutes Sinnbild: Der Scheinwerfer soll nicht immer auf die anderen gerichtet sein auf der Bühne. Er darf auch einmal einen selbst zum Strahlen bringen.

Ulrike Bossmann: People Pleasing: Raus aus der Harmoniefalle und weg mit dem schlechten Gewissen. Beltz-Verlag, Weinheim, Basel 2023. 270 S., Fr. 29.90.

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