Sonntag, September 29

Die Bieler Uhrenmarke Horage hat ein Verfahren vorgestellt, das es Uhrenträgern erlaubt, den Gang ihrer mechanischen Uhr selber zu regulieren. Das ist bahnbrechend. Aber hat es auch Zukunft?

Der Uhrmacher schläft. Jedenfalls bildlich gesprochen. Er schläft tief im Uhrwerk von Zeitmessern der Marke ­Horage und ist in Wirklichkeit ein ­winziges ­mechanisches Teilchen, das es sich es in sich hat.

Das Teilchen, Sleeping Watchmaker genannt, tut normalerweise nichts – es ruht. Doch wenn es nötig wird, erwacht es schlagartig. Und hilft, die Ganggenauigkeit der Uhr zu korrigieren. Es braucht keinen Uhrmacher dafür, der die Uhr öffnen müsste – selbst handwerklich unbegabte Menschen können sie von aussen ganz einfach auf Knopfdruck schneller oder langsamer ticken lassen. «Revolutionär!», jubelt Andi Felsl, der Chef von Horage.

Uhren reagieren auf ihre Träger

Tatsächlich hat es die Erfindung in sich. Denn die Präzision einer mechanischen Uhr ist seit jeher ein wichtiges Anliegen und gleichzeitig eine Knacknuss. Einfache Faustregel: Je akkurater die angestrebte Ganggenauigkeit ist, die eine Marke anbieten will, desto teurer wird es, jede zusätzlich gewonnene Präzisionssekunde treibt die Kosten ­exponentiell in die Höhe.

Dazu kommt das grosse Problem, dass eine mechanische Uhr auf ihren Träger reagiert: «Sie wird bei Ihnen anders laufen als bei mir, je nachdem, wie Sie sich bewegen», sagt Felsl. Ein aktiver Mensch, der ausgiebig Sport macht, beeinflusst die Reguliermechanik einer Uhr zum Beispiel anders als jemand, der vor allem am Pult oder auf dem Sofa sitzt.

Genau das kann der schlafende Uhrmacher nun korrigieren, der von ­Horage mit dem Hightech-Unternehmen ­Miniswys entwickelt wurde. Noch ist das Produkt zwar nicht marktreif, aber Prototypen funktionieren. Miniswys, dies nebenbei, wurde vom Ingenieur Elmar Mock mitbegründet, einem der Entwickler der ersten Swatch-Uhr.

Uhren, so muss man wissen, werden von den Marken einreguliert, also auf möglichst korrekten Trab gebracht. Eine gängige Methode besteht darin, die aktive Länge der Spiralfeder – das ist der wichtigste Teil im Regulierorgan einer Uhr – zu verändern, wobei eine sehr ruhige Hand gefragt ist: Eine Kürzung oder Verlängerung von nur einem hundertstel Millimeter Länge verändert laut Horage den Gang der Uhr um eine Sekunde pro Tag.

Einfluss auf die Länge der Spirale

Genau auf die Länge der Spirale wirkt nun der schlafende Uhrmacher: ein kleines Plättli, das im Grunde ­genommen ein Miniaturmotor ist. Über ein flaches Kästchen, das man an die Uhr andockt, kann der Winzling von aussen gereizt werden und dann die Spiralfederlänge in kleinen Schritten von plus oder minus 0,1 Sekunden pro Tag verändern. Dafür sorgt ein sogenannt piezolektrischer ­Effekt: Das Teilchen ist aufgrund des Materials und seiner Form so beschaffen, dass sich eine Art flache Zange spreizt oder zusammenzieht, wenn man daran eine elektrische Spannung anlegt.

Eine entsprechende Uhr namens ­Revolution 3 Microreg hat Horage ­geplant, sie soll ab 2026 für 6900 Franken plus Mehrwertsteuer erhältlich sein. Schnellentschlossene können das Stück jetzt für 3900 Franken vorbestellen.

Dass es bei der Präzision von Uhren um viel Geld geht, zeigt der personelle Aufwand, der für Zertifizierungen betrieben wird: Die Contrôle Officielle Suisse des Chronomètres (Cosc), welche im Auftrag von Marken Uhren prüft, beschäftigt dafür etwa 60 Vollzeitmitarbeiter plus rund 70 Hilfskräfte. Getestet werden die Uhrwerke, also nicht die ganzen Uhren; um eine Cosc-Zertifizierung zu erhalten, ­dürfen sie maximal vier Sekunden nach – oder sechs Sekunden vorgehen.

Eine reife technische Leistung

Das klingt vielleicht nach viel, ist aber technisch eine reife Leistung: «Selbst wenn eine Uhr täglich sechs Sekunden vorginge, würde dies immer noch bedeuten, dass sie bemerkenswert regelmässig geht», schreibt jedenfalls die Cosc. «Auf das metrische System übertragen, würde die Abweichung nach einem Jahr bei 1000 Metern gerade einmal 7 Zentimeter ­betragen.»

Noch pingeliger gehen die Swatch-Group-Marke Omega sowie die zu Rolex gehörende Marke Tudor mit der Präzision um: Sie lassen Uhren nicht nur vom Cosc zertifizieren, sondern ­zusätzlich vom Eidgenössischen Institut für Metrologie, kurz Metas. Die staatliche Stelle prüft die komplette Uhr und nicht nur das Werk. Es gibt zahlreiche Auflagen; unter anderem muss ein extrem starkes Magnetfeld von 15 000 Gauss überstanden werden. Toleriert wird eine maximale Abweichung von 0 bis +5 Sekunden pro Tag, um das Prädikat «Master Chronometer» zu erhalten.

Wie reagiert die Branche?

Doch wie wichtig sind solche Zahlen für normale Uhrenträger? «Dass eine Uhr vor- oder nachgeht, ist die häufigste Klage von Kundinnen und Kunden», sagt Felsl – das müsse die Branche interessieren. Allerdings gibt es auch Skeptiker. Branchen-Doyen Jean-Claude Biver kennt das Projekt zwar nicht im Detail, hält die Gang­genauigkeit einer Uhr aber für ein eher sekundäres Verkaufsargument: «Präzision erhalten Sie heute für etwas über 50 Franken mit einer Swatch», sagt er. «Präzision haben Sie im Auto an der Borduhr, im Handy, am Bahnhof und fast überall – das ist nichts Exklusives mehr.»

Differenzierter sieht es der frühere Swatch-Group-Manager Manuel Emch, der heute diverse Uhrenfirmen berät und bei der Uhrenmarke Louis Erard einen spektakulären Turnaround hingelegt hat. «Höchst interessant», findet Emch das Horage-Projekt: «Solche ­Innovationen sind wertvoll.» Entscheidend sei jedoch, dass nun andere ­Marken einsteigen, allein könne ein Nischenplayer ein solches Projekt nicht bis zum Durchbruch stemmen. «Es braucht einen Branchenleader, der mitzieht, um daraus eine Erfolgsstory zu machen, sonst wird die Sache wohl verpuffen.»

Happiness ist wertvoll

Andi Felsl zeigt sich optimistisch. Das Interesse sei enorm, meint er. Das zeige sich einerseits an den vielen Vorbestellungen, anderseits an den zahlreichen, positiven Reaktionen auf der Internet-Plattform Linkedin: «Alle schauen sich das an.»

Überhaupt rechne sich das Projekt für eine Uhrenmarke, meint Felsl:
Gehe man davon aus, dass jährlich ­vielleicht 1,2 Millionen Uhren wegen Gangfehlern eingeschickt würden und das ganze Prozedere mit rund 500 Franken zu Buche schlage, lande man bei Kosten von 600 Millionen Franken pro Jahr. Komme dazu, dass Marken wohl um die 80 Franken auslegten, um eine Uhr COSC-fähig zu machen. Bei 2,2 Millionen Uhren pro Jahr ergebe das nochmals 176 Millionen Franken.

Nicht eingerechnet, fügt er bei, seien die Effekte der Kundenzufriedenheit, weil sich Besitzer über die Präzision ihrer Armbanduhr freuen. «Dieser Happiness-Faktor hat sehr wohl auch seinen Wert.»

Horage-Uhren

Die von Andi Felsl und seiner Ehefrau Tzuyu Huang gegründete und in Biel domizilierte Marke Horage pflegt einen dezidiert industriellen Ansatz und hebt sich in dieser Beziehung von der traditionellen Uhrmacherei ab. Entwickelt wurden bisher vier verschieden Uhrwerke, jeweils mit 150 bis 220 Bauteilen, stets mit einer Siliziumspirale ausgerüstet. Die Architektur der Werke ist ausgesprochen modern, die Fertigungsstrasse laut Felsl problemlos bis 500 000 Stück hinaufskalierbar. Derzeit baut Horage geschätzt jährlich rund 1000 Uhren unter eigenem Namen, dazu kommen Auftragsarbeiten für Dritte. Horage-Uhren kosten zwischen 2200 und 26 000 Franken.



Beilage in der «Neuen Zürcher Zeitung»

Dieser Artikel ist am Freitag, 20. September 2024, im neuen NZZ-Schwerpunkt «Uhren & Schmuck» erschienen. Weitere aktuelle Storys, Reportagen und Interviews aus der 18-seitigen Beilage sind im E-Paper der «Neuen Zürcher Zeitung» zu finden.

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