Der Personalmangel der reformierten Landeskirchen droht zur finalen inhaltlichen Aushöhlung ihrer Glaubensgrundlagen zu führen. Was wird davon noch übrigbleiben?
Er heisst «Plan P» und wird derzeit von reformierten Schweizer Landeskirchen diskutiert: der Plan, dass über 55-jährige Akademiker ohne Theologiestudium nach dreimonatigem Einführungskurs ein Pfarramt übernehmen können. Hintergrund ist der akute Personalmangel, der sich bei den Reformierten trotz verheirateten Pfarrern und Pfarrerinnen zeigt.
Bis jetzt sind die Reaktionen auf den unkonventionellen Vorschlag mehrheitlich ablehnend. Wenn man jedoch die Entwicklung der reformierten Schweizer Staatskirchen betrachtet, muss man sagen: zu Unrecht. Denn seit der Reformation haben sich die heutigen Landeskirchen stets an staatlichen und gesellschaftlichen Standards orientiert und diese autonom nachvollzogen. «Plan P» wäre so betrachtet gewissermassen die letzte Eskalationsstufe.
Huldrych Zwingli war noch ein durch und durch mittelalterlich denkender Mensch. Ihm schwebte ein christliches Gemeinwesen vor, das als Ganzes unter dem Wort Gottes steht. Die Kirche sollte dabei für das geistliche Wohl der christlichen Republik zuständig sein. In ihrer äusseren Organisation jedoch sollte sie von der staatlichen Obrigkeit abhängen. Die Kirche geriet so in Zürich zum «Kirchenwesen», das neben dem Armenwesen und dem Schulwesen zu einem weiteren Sektor staatlicher Fürsorge wurde. Schon der Begriff lässt es erkennen.
Frei, nach aussen und innen
Das ging so lange gut, als der Staat seine Rolle als christlicher Staat spielen wollte. Im 19. Jahrhundert, nach der Aufklärung und der Französischen Revolution, war das aber nicht mehr der Fall. Es gab nun zwei Möglichkeiten. Ein freisinniger Zürcher Kirchenreformer hat es im Jahr 1848 so auf den Punkt gebracht: «Entweder gibt es der Staat als eine ihn nichts angehende Privatsache einem jeden völlig frei, ob er überhaupt zu einer, und zu welcher religiösen Genossenschaft (Kirche) er gehören will: hier ist die Kirche nach aussen frei. (. . .) Oder der Staat als die sittliche Allgemeinheit eines Volksganzen legt jedem seiner Angehörigen die Nöthigung auf, auch an der Kirche als einem Moment des öffentlichen Lebens sich zu betheiligen, wenn er vollberechtigt diesem angehören will. Hier ist der äussere Umkreis kein auf Freiwilligkeit basierender. Aber gerade daraus erwächst für den Staat die Pflicht darauf bedacht zu sein, dass die Kirche innerlich frei sei, und aus der Unfreiwilligkeit, mit der man zu ihr gehört, für die Gewissen kein Zwang erwachse». Anders formuliert: «Der Staat gebe die Kirche entweder ganz frei oder mache sie frei».
In Deutschland wurden ab dem 19. Jahrhundert die evangelischen Landeskirchen allmählich in die Selbständigkeit entlassen. Dieser Prozess des «Freigebens» war 1918 abgeschossen. In Zürich und in den meisten Schweizer Kantonen entschied man sich jedoch dafür, die Kirche «frei zu machen». Das heisst: Sie wurde als «Kirchenwesen» in den politischen Demokratisierungsprozess einbezogen.
Die Religionsfreiheit wurde dadurch in der Kirche eingeführt. Das wiederum hatte zur Folge, dass die Landeskirchen jegliches verbindliche Glaubensbekenntnis verloren. Wer das Apostolische Glaubensbekenntnis beten und damit seinen Glauben an die Gottheit Jesu Christi und dessen Auferstehung von den Toten zum Ausdruck bringen wollte, durfte das zwar weiterhin tun. Wer diese zentralen Inhalte des Glaubens aber nicht bekennen wollte, blieb mit gleichem Recht Mitglied der Landeskirche.
Nur ja kein Zwang
Bekenntnisfreiheit nannte man dieses Modell. Denn wenn die Kirche ein verpflichtendes Bekenntnis weiterhin vorgeschrieben hätte, wäre dadurch «Zwang» ausgeübt worden. Was wohl Zwingli dazu gesagt hätte, der noch einen Kommentar zum Apostolischen Glaubensbekenntnis, an das er selbstverständlich glaubte, verfasst hatte?
Auch die Taufe durfte nicht mehr als Erfordernis für die Kirchenzugehörigkeit gelten. Denn auch dies hätte ungehörigen «Zwang» in der «frei gemachten» Kirche bedeutet. Die Taufe ist seither nur noch ein «Zeichen» für die Kirchenmitgliedschaft, aber nicht konstitutiv dafür. Man kann zur reformierten Kirche gehören, ohne getauft zu sein.
Wenn nun die Anstellung von Pfarrern und Pfarrerinnen ohne theologische Bildung in den Raum gestellt wird, würde dies eine weitere Selbst-Säkularisierung der Kirche, eine Selbst-Verweltlichung, bedeuten. Denn was könnten solche Personen inhaltlich Christliches fundiert bezeugen und verkünden? Sie würden dazu beitragen, die durch Mitgliederschwund überdimensionierten Kirchenstrukturen personell aufrechtzuerhalten, allerdings um den Preis des Verzichts auf eine theologisch sattelfeste Verkündigung.
Insofern liegt der «Plan P» jedoch gerade auf der Linie der Schweizer Staatskirchen. Denn sie würden durch diese «Reform» einmal mehr eine Entwicklung autonom nachvollziehen, die in Staat und Gesellschaft stattgefunden hat: den Abschied vom Christentum.
Jenseits der Heiligen Schrift
Die Vorstellung des «säkularen» Pfarrers ist freilich nicht neu. Bereits vor knapp hundert Jahren wurde an der Universität Zürich beim renommierten Rechtsprofessor Fritz Fleiner eine Dissertation eingereicht. Deren Verfasser, Walter Tobler, stellte 1928 fest, an der demokratischen Kirchenorganisation, die ein verbindliches Glaubensbekenntnis ausschliesst, könne nicht mehr Wesentliches geändert werden.
Gleichwohl könne die reformierte Kirche ihre Tore noch weiter öffnen, um bei verstärkter gesellschaftlicher Säkularisierung im öffentlichen Interesse zu bleiben. Es stelle sich die Frage, «ob nicht in einer künftigen Zeit die Aufrechterhaltung der öffentlichen Zweckbestimmung der reformierten Landeskirchen erfordern wird, dass als Prediger in der reformierten Kirche nicht nur Leute auftreten dürfen, welche eine einseitig theologische Bildung erhalten haben, sondern dass die Gemeinden auch die Möglichkeit haben, eine Persönlichkeit rein darum zu ihrem Prediger zu wählen, weil sie das Wort dieser Persönlichkeit schätzt und sich an den Erfahrungen und Lebensweisheiten dieser Persönlichkeit seelisch und geistig bilden kann. Die Wählbarkeitserfordernisse sollen nur allgemeine persönliche Werte des Predigers garantieren, ohne ihn zu zwingen, seine Predigt in die überlieferte Form einer Rede aus dem Worte Gottes kleiden zu müssen.»
Der reformierte Staatskirchenpfarrer als säkularer Prediger, der mit seinen persönlichen Erfahrungen und Lebensweisheiten jenseits der Heiligen Schrift seine Zuhörer erbaut: Es wäre die ultimative Fortentwicklung der reformierten Schweizer Staatskirchen.
So rein wie Wasser
Was noch im Jahr 1830 bloss der Spott von Heinrich Heine war, würde nun Realität. Denn in seinem Werk «Reisebilder» sagte er über die bereits von Schleiermacher sowie von der aufklärerischen Bibelkritik inhaltlich arg gebeutelte protestantische Staatskirche: «Diese Religion schadet nichts und ist so rein wie ein Glas Wasser, aber, sie hilft auch nichts». Und er doppelte nach mit der Pointe: «Gäbe es in der protestantischen Kirche keine Orgel, so wäre sie gar keine Religion.»
Weltkirchlich betrachtet ist die katholische Kirche nicht den Weg der reformierten Schweizer Staatskirchen gegangen. Sie hat, so gut es ging, immer versucht, von den nicht mehr länger christlich geprägten Staaten «freigegeben» zu werden. In der Schweiz jedoch hat sie die auf Bekenntnisfreiheit, innerkirchliche Religionsfreiheit sowie Demokratie zugeschnittenen Strukturen der reformierten Landeskirchen übernommen und kopiert zusehends deren Politik der Selbstsäkularisierung.
Denn sie befasst sich vorwiegend mit sich selbst und führt Strukturdiskussionen. Zudem tritt sie gerne mit Moralismus, der ihr nach den Missbrauchsskandalen umso weniger ansteht, und mit linksgrün-gutmenschlichen politischen Botschaften an die Öffentlichkeit. Was Heinrich Heine über die katholische Kirche geschrieben hat, darf man deshalb zumindest auf ihren Schweizer Ableger münzen: «Es ist eine Religion als wenn der liebe Gott, Gott bewahre, eben gestorben wäre, und es riecht dabei nach Weihrauch, wie bei einem Leichenbegängnis, und dabei brummt eine so traurige Begräbnismusik, dass man die Melancholik bekömmt».
Martin Grichting war Generalvikar des Bistums Chur. Er beschäftigt sich publizistisch mit philosophischen und theologischen Fragen.