Mittwoch, November 6

Gibt es Berufe, die objektiv sinnlos sind? Und warum leiden auch Menschen in produktiven Tätigkeiten unter einem Gefühl der Sinnlosigkeit? Ein Soziologe der Uni Zürich gibt Antworten.

Herr Walo, kommt Ihnen Ihr eigener Job manchmal sinnlos vor?

Ja, immer wieder. Als ich mein Doktorat begonnen habe, war ich rasch frustriert: von meinem Thema, meiner Dissertation, dem wissenschaftlichen Betrieb. Ich hatte das Gefühl, dass ein grosser Teil der Forschung vor allem von Karrieredenken getrieben war und nicht davon, was einen Sinn oder einen praktischen Nutzen hat. Deswegen habe ich angefangen, mich mit dem Thema Bullshit-Jobs zu beschäftigen.

Was ist ein Bullshit-Job?

Die Theorie geht zurück auf den Anthropologen David Graeber. Er hat die Behauptung aufgestellt, dass es Jobs gebe, die objektiv Bullshit seien, weil sie der Gesellschaft keinen Nutzen brächten. Grob zusammengefasst nennt Graeber fünf Kategorien, von denen sich drei konkreten Berufen zuordnen lassen: Die erste betrifft Tätigkeiten, die nur existieren, damit sich jemand anderes wichtig fühlt, etwa Assistenten oder Rezeptionistinnen. Die zweite umfasst Jobs, bei denen unter Umständen mehr Schaden angerichtet wird als Nutzen generiert, etwa im Finanzwesen oder im Lobbyismus – aber auch durch Vertriebsmitarbeiter, die Menschen Dinge andrehen, die sie nicht brauchen. Und die dritte bezieht sich auf Personen, die ihre Zeit damit verbringen, unnütze Tätigkeiten für andere zu erfinden, also Manager.

Das sind aber gewagte Behauptungen – diese Tätigkeiten und Wirtschaftszweige haben doch ihre Berechtigung.

Graeber sagt auch nicht, dass all diese Berufe sinnlos seien. Es gibt schliesslich zahlreiche Chefs, die wirklich eine Assistenz brauchen, und Vertriebsmitarbeiter, die sinnvolle Produkte verkaufen. Auch die Finanzbranche an sich ist natürlich nicht sinnlos. Aber die erwähnten Tätigkeitsfelder sind laut Graeber besonders anfällig für die Entstehung von Bullshit-Jobs.

Wenn man in einem dieser Bereiche tätig ist, ist es also wahrscheinlicher, dass man am Sinn der eigenen Arbeit zweifelt. Und doch geht es auch vielen Menschen in ganz anderen Berufen so.

Das stimmt. Verschiedene Umfragen in Europa und den USA zeigen, dass zwischen 5 und 37 Prozent aller Arbeitnehmer das Gefühl haben, in ihrem Job keinen sinnvollen Beitrag zur Gesellschaft zu leisten. Davon sind zu einem gewissen Ausmass alle Berufsgruppen betroffen. Graebers Theorie behandelt allerdings nur objektiv sinnlose Jobs. Dabei können für dieses Gefühl auch subjektive Faktoren ausschlaggebend sein.

Welche sind das?

Ein langweiliger Arbeitsalltag oder ein nerviger Chef können dazu führen, dass man frustriert ist und die eigene Tätigkeit als sinnlos erachtet, obwohl sie objektiv betrachtet einen Sinn hat. Das zeigt sich etwa im Transportwesen, in der Produktion oder im Service: In Umfragen geben Personen in diesen Berufen oft an, ihre Arbeit als sinnlos zu empfinden. Diejenigen, die mit ihren Arbeitsbedingungen zufrieden sind, stufen den Sinngehalt in denselben Tätigkeiten aber viel höher ein.

Die Arbeitsbedingungen entscheiden darüber, wie sinnvoll man seinen Job findet?

Teilweise ja. Eine wichtige Rolle spielt auch die Entfremdung vom Resultat der Arbeit. Durch zunehmende Arbeitsteilung wird es in vielen Berufen schwieriger, den eigenen Beitrag zum Produkt oder zum Unternehmen zu sehen. Gerade Leute, die repetitive Routinearbeiten durchführen, etwa in der Fertigung oder beim Maschinenbau, sehen als kleiner Teil des Ganzen den Wert ihrer eigenen Arbeit oft kaum.

Trägt der Trend zum Home-Office auch zu dieser Entfremdung bei?

Ja, definitiv. Soziale Interaktion hat einen grossen Einfluss darauf, wie man die eigene Arbeit wahrnimmt. Wer in einem Team arbeitet, hat viel eher das Gefühl, zu etwas Grösserem beizutragen. Und wer Kundenkontakt hat, sieht direkt, wem er mit seiner Arbeit hilft.

Es geht also auch um Wertschätzung.

Was ich ebenfalls interessant finde: Meine Untersuchungen haben gezeigt, dass Angestellte im öffentlichen Sektor viel eher das Gefühl haben, einer sinnvollen Arbeit nachzugehen – was ja dem gängigen Klischee des trägen Beamten widerspricht. Im privaten Sektor, der als schnelllebiger und produktiver gilt, glauben viel mehr Leute, einen Bullshit-Job zu haben.

Sinn kann aber für jeden etwas anderes bedeuten. Macht es das nicht schwierig, die Sinnhaftigkeit von Jobs zu messen?

Sinn ist tatsächlich eine individuelle Angelegenheit und wesentlich schwieriger zu definieren als etwa Glück oder Zufriedenheit. Sinnhaftigkeit kann zum Beispiel auch bedeuten, dass man sich im Beruf verwirklichen kann. In meinen Untersuchungen habe ich mich deshalb nur darauf konzentriert, ob Leute das Gefühl haben, mit ihrer Arbeit einen gesellschaftlichen Beitrag zu leisten.

Was sind denn Tätigkeiten, die Menschen als gesellschaftlich besonders sinnvoll erachten?

Da sind zum einen die offensichtlichen Kandidaten: Gesundheitswesen, Pflege, allgemein soziale Berufsfelder. Aber unter Berücksichtigung der Arbeitsbedingungen liegt ein anderer Bereich an der Spitze: die Baubranche. Wenn man darüber nachdenkt, leuchtet das ein, gebaut werden muss schliesslich immer. Berufe, die als sinnvoll wahrgenommen werden, stammen oft nicht aus einem akademischen Umfeld.

Heisst das, dass akademische Berufe weniger sinnvoll sind? Oder denken Akademiker einfach mehr über Sinnfragen nach?

Ich denke, zu einem gewissen Grad trifft beides zu. Denken wir an die klassische Bedürfnispyramide: Zunächst müssen die Grundbedürfnisse gedeckt sein und das Einkommen für ein gutes Leben reichen. Erst wenn man den Luxus hat, über Sinnfragen nachzudenken, werden sie relevant. Sinn im Beruf zu suchen, ist natürlich ein Wohlstandsphänomen. Aber deswegen ist das Thema nicht weniger wichtig. Leute leiden darunter, wenn sie ihre Arbeit sinnlos finden.

Hatte Graeber also am Ende unrecht mit seiner Theorie? Gibt es gar keine Bullshit-Jobs, sondern nur schlechte Arbeitsbedingungen?

Ja und nein. Die Arbeitsbedingungen haben zweifelsfrei einen wichtigen Einfluss, den Graeber nicht bedacht hat. Wenn man allerdings Personen mit ähnlichen Arbeitsbedingungen vergleicht, zeigt sich, dass in den von Graeber definierten Berufsfeldern tatsächlich besonders viele Angestellte ihren Job sinnlos finden – auch wenn ihre Arbeitsbedingungen und das Umfeld gut sind. Das betrifft laut meinen Untersuchungen Tätigkeiten in der Büroassistenz, im Vertriebswesen, im Finanzbereich und im Management.

Das heisst, es gibt zu viele Manager – und diese sehen das selbst auch so?

Ich kenne das aus meinem persönlichen Umfeld: Leute werden in höhere Positionen befördert und müssen sich ihre Aufgaben erst einmal zusammensuchen. Dann fragen sie sich, wofür es sie überhaupt braucht. Ich denke, dass tatsächlich teilweise unnötige Positionen geschaffen werden – etwa weil im höheren Management das Verständnis dafür fehlt, was nötig ist. Aber auch das Karrieredenken spielt eine Rolle. Für Personen, die schon länger bei einem Unternehmen arbeiten, werden künstliche Aufstiegsmöglichkeiten geschaffen.

Kann bei sinnlosen Aufgaben nicht auch Automatisierung eine Lösung sein?

Gewisse repetitive Tätigkeiten, die Menschen als sinnlos erachten, könnten wahrscheinlich automatisiert werden. Bei Managertätigkeiten ist das schon schwieriger. Die Daten sprechen bis anhin jedenfalls nicht dafür, dass Automatisierung sinnlose Jobs verdrängt: In den vergangenen 30 Jahren ist deren Anzahl in Europa relativ konstant geblieben.

Was kann man dann gegen Sinnlosigkeit im Job tun?

Das ist eine schwierige Frage. Verhältnismässig einfacher ist ihre Beantwortung für die subjektiven Faktoren. Hier sind HR-Abteilungen und das Management in der Verantwortung, den Arbeitsalltag für die Angestellten angenehmer zu gestalten: weniger Routinearbeiten, mehr sozialer Austausch, mehr Wertschätzung, weniger sinnlose Aufgaben. Mich als Soziologen interessieren aber die objektiven Faktoren, also die tatsächliche Sinnlosigkeit von Berufen. Hier gibt es keine einfachen Lösungen. Sollte man etwa Geschäftspraktiken, die keinerlei Nutzen, sondern im Zweifelsfall eher Schaden bringen, verbieten? Oder braucht es strengere Auflagen?

Welche Rolle spielt die Branche, in der man tätig ist?

Es gibt in der Wissenschaft sogenannte Sin-Industries, nach dem englischen Wort für Sünde. Dazu gehören zum Beispiel die Tabakbranche oder die Rüstungsindustrie. In Experimenten konnte gezeigt werden, dass Leute für dieselben Jobs in diesen Branchen deutlich mehr Gehalt verlangen – weil sie nicht durch eine sinnstiftende Tätigkeit für ihre Arbeit entschädigt werden. Wenn man seinen Job als sinnlos erachtet, sollte man sich fragen, ob das an den Umständen oder an der Tätigkeit an sich liegt. Davon hängt es ab, ob man den Arbeitgeber, die Branche oder sogar den kompletten Beruf wechseln sollte. Hier können Berufsberatungen eine Unterstützung sein. Viele Leute wissen oft nicht genau, worauf sie sich einlassen, wenn sie einen Beruf ergreifen. So war das auch bei mir: Ich hatte ein bestimmtes Bild von wissenschaftlichem Arbeiten im Kopf – und musste dann feststellen, dass die Realität anders aussieht. Da kann man sich schon einmal die Sinnfrage stellen.

«Bullshit-Jobs» – ja oder nein?

Der Soziologe Simon Walo beschäftigte sich in seiner Dissertation an der Universität Zürich mit verschiedenen Themen der Arbeitssoziologie, darunter die Auswirkungen des technologischen Wandels, die historische Bedeutung von Arbeit und die Theorie der «Bullshit-Jobs».

2021 kam eine empirische Studie in EU-Staaten zu dem Schluss, dass der Anteil von Bullshit-Jobs geringer sei als von Graeber geschätzt und dass sich Sinnlosigkeit im Job vor allem mit schlechten Arbeitsbedingungen erklären lasse.

Walo kommt in seiner 2023 publizierten Studie, die mit amerikanischen Daten arbeitet, zu einer anderen Erkenntnis: Zwar sehen Beschäftigte mit schlechten Arbeitsbedingungen ihre Arbeit häufiger als sinnfrei an. Wenn jedoch Personen mit ähnlichen Arbeitsbedingungen verglichen werden, geben etwa Erwerbstätige in Finanz- und Verkaufsberufen mehr als doppelt so häufig an, ihre Jobs als gesellschaftlich nutzlos zu erachten.

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