Der abtretende Chef des Weltpharmaverbands und langjährige Direktor von Interpharma nimmt kein Blatt vor den Mund: Die Arbeit des Wirtschaftsdachverbandes Economiesuisse hält er für ungenügend, und den Pandemievertrag der Weltgesundheitsorganisation lehnt er in der jetzigen Fassung ab.

Herr Cueni, Sie treten nach 36 Jahren als Lobbyist der Pharmaindustrie in den Ruhestand. Bestechen Medikamentenhersteller noch immer Ärzte, oder ist die Branche sauberer geworden?

So plump war es wohl nie, doch die Gepflogenheiten haben sich komplett verändert. Heute dürfen Pharmafirmen in den USA an einem medizinischen Kongress nicht einmal mehr eine Kaffeemaschine an ihrem Stand aufstellen.

Das heisst, die armen Ärzte bekommen nicht einmal mehr einen Gratiskaffee serviert?

Alles ist heute viel strenger geregelt – vollkommen zu Recht.

Weil früher mit Geschenken und Einladungen über die Stränge geschlagen wurde?

Es gab früher sicher Exzesse. Ich erinnere mich noch, wie in den Neunzigerjahren zwei Ärzte darüber sprachen, von welcher Firma sie sich nach Bologna an einen Weltkongress einladen liessen. Der eine sagte zum anderen: Ich entscheide erst vor Ort, wenn ich sehe, welche Firma mir das schönere Hotelzimmer gebucht hat. Das war aber schon damals extrem.

Wie schätzen Sie das heutige Image des Pharmasektors ein?

Vor zwanzig Jahren rangierte die Pharmabranche in den USA unweit der Waffenindustrie, so gering war ihr Ansehen. Heute geniesst sie weltweit viel mehr Respekt, vor allem wegen ihrer Innovationskraft. Umfragen aus zahlreichen Ländern belegen dies. Die meisten Leute anerkennen, dass die Pharmaindustrie mit der raschen Entwicklung von Impfstoffen und Medikamenten einen zentralen Beitrag zur Bewältigung der Pandemie leistete.

Nach wie vor stark kritisiert wird die Pharmaindustrie wegen der hohen Kosten für moderne Therapien. Medikamente gegen Krebs beispielsweise kosten heute nicht selten über 100 000 Franken im Jahr. Sind solche Preise nicht völlig übertrieben?

Es ist so, dass die Pharmabranche stärker denn je von Innovationen getrieben ist. Vor diesem Hintergrund sind auch die Blockbuster, also Medikamente, die mehr als eine Milliarde Dollar Umsatz pro Jahr erzielen, nicht ausgestorben, wie dies Jürgen Drews als damaliger Forschungschef von Roche in den neunziger Jahren irrtümlicherweise prophezeit hatte. Drews meinte, dass die tief hängenden Früchte dank damaligen neuen Magensäurehemmern sowie Statinen und anderen erfolgreichen Medikamenten gegen Herz-Kreislauf-Erkrankungen bereits geerntet worden seien. Doch es gab im Gegenteil immer wieder grosse Durchbrüche. Und jedes Mal setzte eine Diskussion darüber ein, ob wir uns die neuen Therapien noch leisten könnten.

Und wie haben Sie die Position der Industrieseite verteidigt?

Man kann sich der Diskussion nicht entziehen, aber die Kritik am Preis und an den Kosten muss im Kontext des Nutzens gesehen werden. Ein gutes Beispiel dafür war die Debatte vor rund zehn Jahren um die neuen Präparate gegen Hepatitis C. Sie führte mich als Direktor von Interpharma mehrere Male in die Fernsehsendung «Kassensturz». Zu Beginn kosteten die neuen Tabletten pro Stück tatsächlich fast 1000 Franken, und die Arzneimittelbudgets schossen in vielen Ländern prompt in die Höhe. Selbst dies war aber vergleichbar mit den Kosten der früheren Behandlung für Hepatitis C, nur mit weniger Nebenwirkungen. Und weil viele Patienten nach wenigen Monaten geheilt waren, sank die Kurve schnell wieder. Zugleich resultierten hohe Einsparungen, weil Hepatitis-C-Erkrankte nicht weiter hospitalisiert und gepflegt werden mussten.

Heute reden alle über die neuen Abnehmspritzen. Droht den Gesundheitswesen ein neuer Kostenschub?

Die neuen Medikamente haben sich als sehr wirksam entpuppt. Zugleich weisen sie geringe Nebenwirkungen auf. Die grosse Gefahr ist, dass Leute sie einnehmen, die nicht wirklich darauf angewiesen sind.

Heisst das, dass Sie die Kosten für die Allgemeinheit nur dann als tragbar einschätzen, wenn die Therapien Patienten mit hohem Übergewicht vorbehalten bleiben?

Das Kosten-Nutzen-Verhältnis dieser Medikamente ist sehr gut, wenn man einkalkuliert, wie wirksam sie nicht nur gegen Adipositas, sondern auch bei der Prävention von Herz-Kreislauf- und Stoffwechselerkrankungen wie Diabetes sind. Letztere Leiden verursachen ihrerseits hohe Kosten in der ärztlichen Behandlung wie auch im Spital.

Von der Euphorie um die Abnehmspritzen haben Novo Nordisk aus Dänemark und der amerikanische Konzern Eli Lilly enorm profitiert. Die beiden Schweizer Firmen Roche und Novartis fristen im Vergleich ein Schattendasein. Beunruhigt Sie das?

Im Vergleich zu Novo Nordisk und Eli Lilly befinden sich beide Konzerne zurzeit in einer Delle. Aber es gab schon schlimmere Durststrecken. Roche beispielsweise brachen einst die Geschäfte mit Valium und Librium weg. Später schaffte die Firma den Aufstieg zum führenden Anbieter in der Onkologie, wo heute aber ungleich mehr Konkurrenz herrscht. Beide Firmen gehören aber nach wie vor zu den erfolgreichsten Pharmafirmen der Welt. Und eine der Stärken, die Roche unverändert auszeichnen, ist die langfristige Betrachtung. Das Management ist nicht dem Denken in Quartalen verpflichtet, und entsprechend vertraue ich darauf, dass Roche aus dem jetzigen Tief wieder herauskommt.

Die Schweizer Pharmabranche spricht sich dezidiert für die Erneuerung der bilateralen Verträge mit der EU aus. Zugleich gärt es in der Schweiz vor allem wegen der starken Zuwanderung. Haben Sie Verständnis dafür?

Man darf die Probleme wegen der Zuwanderung nicht kleinreden. Ich bin die letzten sieben Jahre als Direktor des Weltpharmaverbands IFPMA von meinem Wohnsitz in Basel an meinen Arbeitsort in Genf gependelt und erlebte, wie die Züge – ausser während der Pandemie – immer voll waren. Es braucht eine Ventilklausel.

Firmen wie Roche und Novartis betonen seit Jahren, wie dringend sie hierzulande auf Fachkräfte aus dem Ausland angewiesen seien. Würde eine Ventilklausel, welche die Zuwanderung ab dem Überschreiten einer bestimmten Marke begrenzt, den Zugang zu qualifizierten Arbeitnehmern nicht massiv einschränken?

Nicht unbedingt. Denn in der Prioritätensetzung beim Fachkräftezugang hat die Pharmabranche gewisse Vorteile. Sie kann vergleichsweise einfach begründen, weshalb sie ausländische Spezialisten für die Forschung benötigt. Branchen, die einfach billige Arbeitskräfte suchen, haben es da schwerer.

Wie optimistisch sind Sie, dass es trotz allen Widerständen gelingt, die Beziehungen mit der EU auf eine neue Grundlage zu stellen?

Wir brauchen eine Lösung. Brücken abzubrechen, wie dies die Briten mit dem Brexit getan haben, kann keine Option sein. Die Briten leiden unter dem Brexit. Ich bin grundsätzlich zuversichtlich, was das Verhältnis zwischen der Schweiz und der EU betrifft. Zugleich gibt mir die jüngste Annahme der Initiative für die 13. AHV-Rente schon zu denken, was die Berechenbarkeit bei wirtschaftlich wichtigen Abstimmungen betrifft. Der Wirtschaftsdachverband Economiesuisse operiert einfach schwach.

Worin zeigt sich diese Schwäche?

Es fehlt ihm schlicht der nötige Sachverstand, das Flair, um Abstimmungen zu gewinnen. Sicher müssen sich auch die Wirtschaft und mit ihr namentlich die grossen Firmen, die für den Wohlstand in der Schweiz so wichtig sind, hinterfragen, was in den letzten Jahren alles schiefgelaufen ist. Aber wenn die Verbandsdirektorin Monika Rühl am Tag nach der Abstimmung über die 13. AHV-Rente hinsteht und behauptet, das Problem liege beim Millionengehalt des Novartis-Konzernchefs, kann ich nur sagen: Um Himmels willen. So etwas ist nur peinlich. Die Arbeit von Economiesuisse ist seit 2014, der Annahme der Masseneinwanderungsinitiative, leider nicht besser geworden. Da liegt handwerklich einiges im Argen.

Ende Mai soll in Genf an der Jahresversammlung der Weltgesundheitsorganisation ein Pandemievertrag verabschiedet werden. Die WHO verspricht sich davon eine bessere Vorbereitung der Länder, falls es wieder zu einem Gesundheitsnotstand kommen sollte. Doch braucht die Welt ein solches Abkommen?

Grundsätzlich befürworten wir den Abschluss eines Pandemievertrags. Wir sind als Industrie auch bereit, gewisse verpflichtende Bestimmungen zu akzeptieren. Ein solcher Vertrag sollte sich aber darauf konzentrieren, das anzugehen, was in der letzten Pandemie nicht gemacht wurde.

Was wurde versäumt?

Eine weltweit solidarischere Verteilung von Impfstoffen und Therapeutika. Afrika darf nicht mehr, wie dies 2021 auf dem Höhepunkt der Coronavirus-Pandemie geschah, links liegen gelassen werden und während sieben Monaten vom Zugang zu Impfstoffen abgeschnitten werden, weil Indien und die USA keine Exporte von Impfstoffen erlaubten. Wir stimmen auch einer verstärkten Überwachung mithilfe eines möglichst globalen Netzwerks von Labors zu, damit die Welt rechtzeitig vor neuen gefährlichen Erregern gewarnt werden kann. Aber die gesamten Massnahmen müssen auf eine Weise organisiert werden, dass es funktioniert.

Was gehört nicht in den Vertrag?

Man darf in einem Pandemie-Übereinkommen nicht das infrage stellen, was gegen Covid-19 hervorragend funktioniert hat: die Fähigkeit der Industrie, die in Rekordzeit und in Rekordmengen neue Impfstoffe und Therapeutika entwickelte und produzierte. Die Mitwirkung von Firmen muss zugleich freiwillig sein. Erzwungene Transfers von Know-how und Technologien, wie sie gewissen Schwellen- und Entwicklungsländern vorschweben, darf es nicht geben, und das Infragestellen des Patentschutzes wäre schlicht kontraproduktiv. Die Pandemie hat gezeigt, wie indische, brasilianische oder südafrikanische Generika- und Impfstoffhersteller vom freiwilligen Technologietransfer von westlichen Pharmafirmen profitieren, wenn sie dies im gegenseitigen Einvernehmen tun können. Solches lässt sich nicht erzwingen. Ein weiterer wichtiger Punkt ist der weiterhin freie und kostenlose Zugang zu Pathogenen. Da sind sich die Hersteller aus den Entwicklungsländern mit uns voll einig. Die WHO darf kein Monopol beanspruchen, indem sie beispielsweise eine zentrale Datenbank für solche Informationen einrichtet.

Was raten Sie der Schweiz, unterzeichnen oder besser Hände weg?

So wie der Pandemievertrag im Moment ausgestaltet ist, Hände weg. Allerdings glaube ich nicht, dass der Vertrag in der gegenwärtigen Fassung zustande kommen wird. Es gibt eine starke Allianz von Industrieländern, die sich geschlossen für den freien Austausch von pathogenen Organismen und Gensequenzen sowie gegen eine Aufweichung des Patentschutzes einsetzen. Dazu zählen neben der Schweiz die EU und mit ihr Deutschland sowie Grossbritannien und die USA. Aber auch Japan, Singapur und Australien sind dabei.

Es gibt auch die Meinung, die Welt könne sich ein Scheitern im Ringen um den Pandemievertrag nicht leisten.

Das sehe ich nicht so. Ich habe lieber keinen als einen schlechten Vertrag, der genau die Dinge infrage stellen würde, die uns im Jahre 2020 geholfen haben. Und ich vertraue darauf, dass die Schweiz notfalls nicht mitmacht.

Lobbyist durch und durch

Zu Beginn seiner Karriere arbeitete Thomas Cueni als Journalist. Anschliessend wirkte er wenige Jahre als Berufsdiplomat. Doch den Grossteil seiner Laufbahn verbrachte der heute 71-Jährige als Lobbyist der Pharmaindustrie. Von 1988 bis Anfang 2017 leitete er den Schweizer Branchenverband Interpharma. Mit seinem kompromisslosen Einsatz für die Belange von Medikamentenherstellern eckte er vielerorts an. Als Direktor des Weltpharmaverbands IFPMA sei seine Rolle deutlich weniger konfrontativ gewesen, sagt Cueni. Nach siebenjähriger Amtszeit tritt der Basler nun auch von diesem Posten zurück. Neu will sich Cueni als Gastdozent und eventuell auch als Buchautor betätigen.  

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