Sonntag, November 24

Der Chefredaktor der wichtigsten jüdischen Zeitung in Deutschland. Seit dem Hamas-Massaker vom 7. Oktober ist seine Redaktion im Ausnahmezustand.

Mit einer gedruckten Auflage von 10 000 Exemplaren gehört die «Jüdische Allgemeine» zu den kleinen Zeitungen auf dem deutschen Markt. Aber als wichtigste jüdische Stimme in Deutschland erhält sie viel Aufmerksamkeit. Dies besonders seit dem Hamas-Massaker vom 7. Oktober. Die Abo-Zahlen sind um 20 Prozent gestiegen, aber auch die Zahl der Drohungen nimmt zu. Die jüdische Kultusgemeinde München lässt die «Jüdische Allgemeine» in neutralen Umschlägen an ihre Mitglieder liefern. Der Chefredaktor Philipp Peyman Engel ist erst seit September 2023 im Amt, vom «Medium Magazin» ist er auf Anhieb zum «Chefredakteur des Jahres» gewählt worden. Die NZZ trifft ihn in Zürich zum Interview, wo Engel regelmässig Familie und Freunde besucht.

Herr Engel, viele Mitarbeiter Ihrer Zeitung haben Verwandte oder Bekannte in Israel, der 7. Oktober war ein Angriff, der alle persönlich traf. Wie haben Sie diesen Tag und die Zeit danach erlebt?

Wir waren geschockt. Und zu diesem Schock kamen schnell Trauer, Fassungslosigkeit, aber auch grenzenlose Wut hinzu. Gleichzeitig mussten wir in der Rolle der Journalisten sehr schnell professionell agieren und Entscheidungen treffen. Trotz einer vergleichsweise kleinen Redaktion haben wir in den ersten zwei Monaten fast rund um die Uhr online berichtet. Übrigens auch oft am Schabbat, was eigentlich verboten ist, aber hier war es wichtiger, die jüdische Gemeinschaft über ihre Sicherheitslage zu informieren. Dazu gab es Sonderausgaben und Themen-Specials. Für mehrere Wochen hatten wir einen zweiten Redakteur in Israel, zusätzlich zu unserer Korrespondentin und mehreren freien Autoren. Unsere Redaktion ist seit dem 7. Oktober im Ausnahmezustand.

Seit dem 7. Oktober hat die Gewalt gegen Juden auch in Deutschland zugenommen. Das Problem beschäftigt Sie jedoch schon lange. Im letzten August schrieben Sie auf X (vormals Twitter): «Als jüdische Zeitung könnten wir eine Rubrik unter dem Motto ‹Attackierte Juden› aufmachen.» Ist es so schlimm?

Das Problem der antisemitischen Gewalt ist massiv. Schon vor dem 7. Oktober war es Realität in Städten wie Berlin, Duisburg oder Bochum, dass als Juden erkennbare Menschen Gefahr liefen, auf der Strasse beschimpft, bespuckt oder attackiert zu werden. Man muss es so klar sagen: Es gibt für Juden No-Go-Areas in Deutschland. Zahlreiche Viertel in vielen Städten sind für Juden nicht mehr sicher. Wenn es um Terror geht, ist der Rechtsextremismus ganz klar die grössere Gefahr. Die alltäglichen verbalen und körperlichen Übergriffe kommen allerdings nach Wahrnehmung vieler Juden grösstenteils aus dem muslimisch geprägten Milieu.

Können Sie Beispiele nennen?

Da gibt es den 19-jährigen israelischen Tourist in Berlin-Kreuzberg, der letzten August von drei arabischstämmigen Männern zusammengeschlagen wurde. Er hatte auf der Strasse Hebräisch gesprochen. In Neukölln wurde kürzlich einem Israeli von einem Arabisch sprechenden Täter mit der Faust ins Gesicht geschlagen. Jahre zuvor wurde einem Rabbiner – ebenfalls in der Hauptstadt – in Anwesenheit seiner kleinen Tochter von Jugendlichen arabischer Herkunft das Jochbein gebrochen. Ich selbst wurde mit meinen Mannschaftskollegen von Makkabi Berlin mehrmals von arabischstämmigen Teams körperlich angegriffen und mit Drohungen wie: «Scheiss Juden, wir stechen euch ab!», überzogen. Wir mussten den Platz verlassen und die Polizei rufen.

Sie sind im Ruhrpott aufgewachsen, unter Ihren Kollegen waren mehr Muslime als Juden. Hätten Sie sich damals vorstellen können, was heute in deutschen Städten passiert?

Nein, jedenfalls nicht, als ich Anfang zwanzig war. Schon damals stand zwar oft das Thema Israel zwischen mir und den meisten meiner muslimischen Bekannten, zum Beispiel an der Universität. Aber antisemitische Bemerkungen gab es nur vereinzelt, Übergriffe habe ich nicht mitbekommen. Meine Mutter ist Perserin, ich sehe nicht eben urdeutsch aus. Damals wusste ich vor allem, dass es rechtsextreme Szenen in gewissen Quartieren von Dortmund oder Bochum zu meiden gilt. Die Entwicklung der letzten Jahre, dass Muslime in Deutschland offen den Terror der Hamas feiern, die Ermordung von Juden bejubeln und ihre jüdischen Mitmenschen tyrannisieren, hat meiner Ansicht nach vor zehn bis fünfzehn Jahren begonnen.

Als Chefredakteur der «Jüdischen Allgemeinen» erhalten Sie auch persönliche Drohungen. Wie gehen Sie damit um?

Ich versuche, mich nicht davon beeinflussen zu lassen. Die jüdische Gemeinschaft in Deutschland ist mit 100 000 Gemeindemitgliedern vergleichsweise klein. Als Chefredakteur der «Jüdischen Allgemeinen» habe ich das Privileg, dass meine Stimme ab und zu gehört wird. Ich kann und möchte mich nicht wegducken. Ich bin deutscher Staatsbürger, das ist auch mein Land, meine Heimat. Aber klar: Angenehm ist es nicht, nach TV-Auftritten aus Sicherheitsgründen mit einer Basecap durch Wedding zu laufen.

Im Gegensatz zum rechtsextremen Antisemitismus ist der islamische lange verdrängt und tabuisiert worden. Welche Rolle spielen dabei die deutschen Medien?

Eine sehr zentrale. Die Problematik wurde jahrelang von vielen unserer Journalistenkollegen zwar gesehen, aber verdrängt. Aus Angst, als rechts oder rechtsextrem bezeichnet zu werden. Jüdische Journalisten hingegen, die auf die Anfeindungen aufmerksam gemacht haben, wurden als vermeintliche Wegbereiter der AfD beschimpft. Da hat unsere Zunft versagt. Ein besonders schlechtes Beispiel ist Jan Böhmermann, der gerne Journalist sein möchte und in seiner Sendung Leute wie Friedrich Merz in infamer Weise in die Nähe von Nationalsozialisten stellt, aber beim Terror von Muslimen in Deutschland gegen Juden nicht die Zähne auseinander bekommt.

Die «Zeit» schrieb kürzlich auf X: «Laut einem Bericht gibt es mehr judenfeindliche Gewalt in Deutschland. Sie kommt vor allem aus dem rechten Spektrum. Auch Frankreich meldet über tausend Vorfälle.» Wie erklären Sie sich solche Äusserungen, wo doch gerade in Frankreich klar ist, woher der Judenhass kommt?

Es kann nicht sein, was nicht sein darf. Jeder Experte im Bereich Antisemitismus, der sich mit der Polizeilichen Kriminalstatistik wirklich befasst hat, weiss, dass sie jahrelang komplett irreführend war. Wenn ein islamistischer Teilnehmer des antisemitischen Al-Kuds-Marsches in Berlin etwas Judenfeindliches skandiert hat, wurde das automatisch Tätern mit politisch rechter Motivation zugerechnet – falls es denn überhaupt erfasst wurde. Deshalb hiess es jeweils, dass 94 Prozent der Straftaten von «rechts» kämen. Diese Statistik geht komplett an der Realität vorbei. Alle relevanten Befragungen von Juden in Deutschland ergeben, dass das Gros der antisemitischen Zwischenfälle auf das Konto von Tätern aus dem muslimisch geprägten Milieu gehen.

Besonders kritisch sehen Sie die Rolle der Deutschen Presse-Agentur (DPA), die die Tonalität vieler Medienberichte beeinflusst. Weshalb?

Die Fehlleistungen der DPA beim Thema Israel und Nahostkonflikt sind ebenso bezeichnend wie zahlreich. Regelmässig werden Ursache und Wirkung vertauscht. Wenn zum Beispiel ein palästinensischer Terrorist einen Anschlag in Jerusalem verübt, Menschen ermordet und dann von israelischen Sicherheitskräften erschossen wird, heisst es: «Israel erschiesst Palästinenser.» Die Begriffe stimmen nicht, ob aus Überzeugung, Schludrigkeit oder Unkenntnis. Man spricht von «Kämpfern», «militanten Palästinensern», teilweise sogar von «Aktivisten» statt «Terroristen». Statt von «Anschlägen» hört man von «Zusammenstössen». Und so weiter.

Der Nachrichtenchef der DPA hat kürzlich angekündigt, dass die Hamas nun als Terrororganisation bezeichnet werde. Das müssten Sie doch begrüssen.

Ja, aber musste die Hamas erst Kinder enthaupten, Frauen vergewaltigen und hinrichten, Familienvätern vor ihren Kindern Gliedmassen abhacken und dann in den Kopf schiessen, bis auch die DPA verstanden hat, worum es geht? Ein Blick in die Hamas-Charta und auf ihre Verbrechen in den vergangenen Jahren hätte genügt.

Die «Jüdische Allgemeine» polarisiert mit ihrer klar proisraelischen Haltung auch in jüdischen Kreisen. Es wurde Ihnen unter anderem vorgeworfen, Sie würden Politik auf dem Rücken der Muslime betreiben. Hat diese Kritik seit dem 7. Oktober zugenommen?

Ich würde gar nicht sagen, dass wir eine «klar proisraelische Haltung» einnehmen. Jedenfalls nicht in dem Sinne, dass wir Israel nicht kritisieren würden. Aber ja, diese Kritik hat seit dem 7. Oktober zugenommen. Schon allein deshalb, weil wir gerade mehr Aufmerksamkeit erfahren als sonst. Das Phänomen begleitet uns aber schon lange. Kritisieren wir die im Kern rechtsextreme AfD, bekommen wir auf Social Media einen Shitstorm ab. «Warum kritisiert ihr nicht die muslimischen Judenhasser in Neukölln?», heisst es dann. Wenn wir über Muslime berichten, die Juden attackieren, behaupten Linke, wir würden «Wasser auf die Mühlen der Rechtsextremen» leiten. Dabei ist es simpel: Wir lehnen Judenhasser aller Art ab.

Sie haben gesagt, dass sich Juden in Deutschland nicht mehr sicher fühlen können. Politiker wie Frank-Walter Steinmeier verkünden dagegen, Deutschland bleibe für Juden eine Heimat. Hat die Politik den Ernst der Lage wirklich begriffen?

Es ist richtig und wichtig, dass nach dem 7. Oktober die Hamas mit einem Betätigungsverbot belegt wurde. Oder dass Politiker endlich Selbstverständlichkeiten aussprechen, wonach antisemitische Straftaten konsequent bestraft werden und Täter ohne deutschen Pass ausgewiesen werden sollten. Die Frage stellt sich aber, warum erst nach dem 7. Oktober der politische Wille da ist, Judenhass wirklich zu bekämpfen. Was unseren Bundespräsidenten betrifft: Seine Aussage steht im grössten Gegensatz zu seiner einstigen Verbeugung vor dem Grab des Terroristen Yasir Arafat und zu seiner bestenfalls naiven Iran-Politik.

Ihre Verwandten leben zum Teil in Australien und in Kanada, Sie wohnen seit 2012 in Berlin. Wo ist es derzeit am gefährlichsten?

Ganz klar in Berlin. Ein Teil unserer Familie ist 1979 nach der islamistischen Revolution aus Teheran in den Westen geflüchtet. Iran ist seither für Juden kein sicherer Ort mehr. Der Wunsch meiner Mutter war es immer, ihre alte Heimat noch einmal besuchen zu können. Stattdessen holt uns das, wovor sie in Iran geflüchtet ist, nun auch in Deutschland ein. Das muss jeden Demokraten zutiefst beunruhigen.

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