Sonntag, September 8

Der japanische Universalkünstler Saburo Teshigawara wurde in Venedig mit dem Goldenen Löwen für sein Lebenswerk ausgezeichnet. Jetzt zeigt der Choreograf am Theater Basel zwei Schlüsselwerke, die unseren Blick auf die Sprache des Körpers verändern.

«Universalkünstler» ist eine steile Zuschreibung. Für den Tänzer und Choreografen Saburo Teshigawara ist sie aber nicht zu hoch gegriffen. Der siebzig Jahre alte Japaner gehört seit Jahren zur ersten Garde der innovativen Bewegungserfinder und hat weltweit mit vielen Kompanien gearbeitet. Für seine Gesamtkunstwerke baut er Räume wie ein Architekt, und zwar mit Licht, mit minimalistischem Dekor und Objekten aller Art, mit Video, Kostümdesign, Masken – und natürlich mit Musik, die er zum Teil auch selber komponiert. Teshigawara füllt diese Räume mit einer poetisch-abstrakten Bewegungssprache, die ihresgleichen sucht. Kürzlich wurde der vielfach Preisgekrönte in Venedig mit dem Goldenen Löwen für sein Lebenswerk geehrt.

Wenn er über Glassplitter tanzen lässt wie in «Glass Tooth», dann hat das nichts Berserkerhaftes. Das Splittern und Knirschen wirkt mehr wie ein Balanceakt zwischen Zärtlichkeit und Verletzlichkeit. Der Körper wird erforscht, wie er auf eine ungewohnte Umgebung reagiert. Risiko inklusive. Falls man nur drei herausragende Impulsgeber für die Erweiterung des zeitgenössischen Tanzes in den letzten Jahrzehnten herausgreifen will, die sich in ihrer Eigenwilligkeit mit Teshigawara vergleichen und von ihm abgrenzen lassen, dann könnten dies Pina Bausch, William Forsythe und Alain Platel sein. Teshigawara wiederum vervollständigt das Trio als Existenzphilosoph zum Quartett.

Die Essenz des Menschlichen

Pina Bausch, die Begründerin des Tanztheaters, hat scheinbar banale Alltagsgesten in den Tanz eingeführt und die Gefühlswelt zu ihrem Fokus erklärt: «Mich interessiert nicht so sehr, wie sich Menschen bewegen, als was sie bewegt.» William Forsythe ist der Analytiker, der den Bewegungsapparat dekonstruiert und neu zusammensetzt. Das sieht dann manchmal aus, als würden Menschen, die sich vorwärtsbewegen, rückwärtsgehen. Der Belgier Alain Platel hat den Tanz zentral um eine gesellschaftliche und zirzensische Dimension erweitert und lässt auch auf Rummelplätzen und Müllhalden tanzen.

Teshigawara wiederum will im Tanz die Essenz des Menschlichen herausschälen. In diesem tiefen Interesse an der Menschlichkeit treffen sich die grossen vier. Alle haben sie auch eine klassische Tanzausbildung hinter sich, lösten sich aber bald aus dem engen Korsett. Während das klassische Ballett die Schwerkraft überwinden oder wenigstens vergessen machen will, geben die Erneuerer dem Tanz die Erdenschwere zurück. Mit der Magie seines Minimalismus ist Teshigawara vielleicht der Radikalste von allen. Am Theater Basel kann man die Kunst des grossen Japaners jetzt in ihrer vollen Entfaltung erleben.

Der Zweiakter «Verwandlung» durchschreitet mit dem ersten Teil «Metamorphose», einer Schweizer Erstaufführung, verschiedene Zustände des menschlichen Lebens: von der spastischen Entpuppung aus einem Fesselungskokon über die staunend-stockende Erkundung des Raumes bis hin zur zuckenden Ekstase in der Chorus-Line.

In «Like a Human», einer extra für Basel entwickelten Uraufführung, stehen Zögern, Zweifeln und unsicheres Tasten im Zentrum. Keine Bewegung wird vollendet, zerfällt vielmehr in Brüchigkeit und Neuversuch. Unweigerlich denkt man an Becketts «Scheitern. Wieder scheitern. Besser scheitern». Oder an Kafkas Diktum «Was wir Weg nennen, ist Zögern». Das klingt vielleicht quälerisch, ist aber beim Zuschauen eine grosse Lust. Weil es gerade diese menschlichen Suchbewegungen sind, die einem nahegehen. Weil es so hinreissend präzis geformt ist und von gut gesetzten Kontrasten lebt. Weil es in Schönheit badet.

Weit ausschwingende Armbewegungen und Drehungen sind beiden Tanzteilen gemeinsam. Ohrenbetäubende Stille wechselt mit treibenden Rhythmen, Erstarrung mit Trance. Fast bedrohlich tritt in «Metamorphose» der grosse Theaterchor aus der dunklen Tiefe des Raumes und intoniert Gesänge von Olivier Messiaen und Maurice Ravel. In «Like a Human» reicht die musikalische Palette vom Barock über Mozart bis zu Rachmaninow und Tschesnokow, wirkt aber in keinem Moment beliebig. Musik und Tanz begleiten sich hier nicht einfach gegenseitig, sie verschmelzen in einer Vollkommenheit, wie man sie selten sieht.

Existenzielle Erfahrung

Das ist eines der zentralen Kennzeichen von Teshigawaras Kunst: Das Vielgestaltige findet zur bezwingenden Einheit. Sein Tanz erzählt keine Geschichten, ist aber offen für vielfältigste Assoziationen. Manche Passagen erinnern an wilde Vogelschwärme, wie man sie manchmal am Himmel sieht – und man staunt beim irren Tempo der Herumwirbelnden, dass es zu keinen Kollisionen kommt. Anderes lässt einen mitbeben in seiner zarten Zerbrechlichkeit, seinem sehnsüchtigen Suchen und Tasten. In kurzen, isolierten Momenten begegnen sich die Tanzenden zwar, aber sie berühren sich nie, jeder bleibt letztlich allein.

Werden und Vergehen, Suchen und Verpassen, Sehnsucht und Trauer, das vollendet Unvollendete: alles drin in diesem Tanzstück. Ecce homo. Der Abend ist eine virtuose Feier des ständigen Wechsels, des ewig Imperfekten im menschlichen Leben. Schmerzlich. Tröstlich. Zum Weinen schön.

Hört man den Tanzenden bei einem begleitenden Publikumsgespräch zu, erlebt man, dass die dreimonatige Arbeit mit dem Meister für sie eine existenzielle Erfahrung gewesen sein muss. Teshigawara gibt keine Schrittfolgen vor, die gelernt werden müssen. Mehr wie ein Maler, wie ein Kalligraf zeichnet er Linien in den Raum und ermutigt jeden Einzelnen dazu, den eigenen Ausdruck zu finden. Er füttert sie mit paradoxen Mantras: «Say yes, but feel no!», ermuntert zur Nicht-Kontrolle, zum Leer-Werden, zur Offenheit für das, was dann passiert. Das sei eine «life changing experience» gewesen für sie, sagt eine Tänzerin, die seit zehn Jahren diesen Beruf ausübt. Erstmals sei sie auf der Bühne tatsächlich ganz sie selber gewesen.

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