Mittwoch, Oktober 9

Die Richter anerkannte er nicht. Das Urteil, das sie fällten, nahm er an: 399 v. Chr. ging der Philosoph Sokrates in Athen in den Tod. Die Verteidigungsrede, die Platon später verfasste, zeigt einen Denker, der Gerechtigkeit über Gnade stellt.

Einer wie er eckt an. Den ganzen Tag trieb sich Sokrates auf dem Marktplatz in Athen herum. Er zog seine Mitbürger ins Gespräch. Politiker, Kaufleute, Gelehrte. Stellte Fragen. Mit Vorliebe solche, von denen er wusste, dass die Gesprächspartner sie nicht beantworten konnten. Zumindest nicht befriedigend. Was Tugend sei, zum Beispiel. Ob der Stärkere das Recht habe, den Schwächeren zu beherrschen. Oder was das heisst: etwas wissen.

Natürlich bekam Sokrates Antworten. Aber die reichten ihm nicht. Er fragte nach. Höflich, aber unerbittlich. So lange, bis die, die er fragte, keine Antwort mehr wussten und ihre selbstbewusst vorgetragenen Gewissheiten sich verflüchtigt hatten. Über Tapferkeit, Frömmigkeit, Freundschaft. Über Gut und Böse, Wahrheit, Lüge. Alles Dinge, von denen die Athener zu wissen glaubten, was sie bedeuten. Und erkennen mussten, dass sie sie eigentlich nicht verstanden.

Der weiseste Mensch

Jeder kannte Sokrates im Athen des 5. Jahrhunderts v. Chr. Viele werden sich über ihn geärgert haben. Über den Mann, der mit Geschick und erkennbarer Lust alle blossstellte, indem er ihnen zeigte, wie unzulänglich das war, was sie zu wissen glaubten. Sokrates sei der weiseste aller Menschen, hatte das Orakel von Delphi gesagt. Er selbst sagte von sich, er wisse nichts. Ausser dem einen: dass er nichts wisse. Das mache ihn, vielleicht, ein bisschen weiser als die anderen.

Geschrieben hat Sokrates nichts, zeitlebens. Was man über ihn weiss, haben seine Schüler geschrieben: Xenophon und vor allem Platon. Wie viel es mit dem historischen Sokrates zu tun hat, ist schwer zu sagen. Aber eines steht fest: Im Jahr 399 v. Chr. kam Sokrates vor Gericht. Meletos, ein Redner und Dichter, hatte ihn angeklagt. Ein Strohmann, hinter dem zwei angesehene Bürger standen, was jeder wusste. Die Anklage war diffus: Sokrates wurde vorgeworfen, er anerkenne die in Athen offiziell verehrten Götter nicht. Er führe neue Götter ein, und er verderbe die Jugend. Als Strafe forderte die Anklage den Tod.

Das Volksgericht, dem 501 athenische Bürger angehörten, verurteilte ihn zum Tod. Für den jungen Platon war das ein prägendes Erlebnis. Jahre später schrieb er die Rede auf, die Sokrates vor Gericht zu seiner Verteidigung gehalten hatte. Nach eigenen Notizen, aus der Erinnerung – man weiss es nicht. Sicher enthält Platons «Apologie des Sokrates» mehr Platon als Sokrates. Sie war nicht als Bericht über ein historisches Ereignis gedacht, sondern als Manifest des Konflikts zwischen dem Denker und der Gesellschaft. Zwischen der Philosophie und dem Staat, der anderen Gesetzen gehorcht als die Suche nach der Wahrheit.

Apollons Auftrag

Das Verfahren gegen Sokrates ist der vielleicht berühmteste Prozess der Weltgeschichte. Platons Verteidigungsrede ist ein brillantes Stück Literatur. Und gehört zu den Texten, die sich zweieinhalbtausend Jahre nachdem sie geschrieben wurden, noch immer problemlos lesen lassen. Vor allem in der neuen Übersetzung des Schweizer Altphilologen Kurt Steinmann, der den raffinierten Text in einem unprätentiösen, präzisen und lebendigen Deutsch wiedergibt.

Die Worte, die Platon den Sokrates an die «Männer von Athen» richten lässt, sind klar, eindringlich – und nicht frei von Selbstgefälligkeit. Drei Reden sind es, die Sokrates vor dem Gericht gehalten hat und die in der «Apologie» zusammengefasst sind. In der ersten verteidigt er sich gegen die Vorwürfe, in der zweiten nimmt er Stellung zum Strafmass, in der dritten erklärt er, dass er das Urteil akzeptiert.

Der Sokrates, der da spricht, verfolgt nicht das Ziel, sein Leben zu retten. Von der Anklage zeigt er sich ebenso wenig beeindruckt wie vom Urteil. Er will den Athenern klarmachen, dass er sich immer darum bemühte, den Gesetzen zu gehorchen. Aber auch stets nur nach dem Auftrag von Apollon gehandelt hat, dem Gott des delphischen Orakels: Wissen zu suchen, nach Weisheit zu streben. Dazu gehörte es für ihn auch, falsches Wissen zu entlarven.

Keine Gnade, bitte!

Dass man ihm daraus einen Vorwurf macht, hält er seinen Richtern vor. Richtern, die er im Grunde nicht anerkennt, obwohl sie rechtmässig gewählt wurden. Weil sie nicht verstehen können, worum es ihm, dem Philosophen, geht. Statt ihn zu verurteilen, sagt Sokrates den Athenern selbstbewusst, müssten sie ihn eigentlich zum Ehrenbürger ernennen, als öffentlichen Wohltäter der Stadt.

Die Männer von Athen liessen sich davon nicht beirren. Und Sokrates bat nicht um Gnade. Denn das stand für ihn fest: Richter dürfen nicht gnädig sein. Ihre Aufgabe ist es, gerecht zu entscheiden. Dem Urteil, das formal korrekt gefällt wurde, hätte er sich entziehen können, durch Flucht. Er tat es nicht. Und führte seinen Mitbürgern damit umso eindringlicher vor Augen, dass sie nach Massstäben urteilten, die er längst hinter sich gelassen hatte.

Platon: Apologie des Sokrates. Aus dem Griechischen übersetzt und kommentiert von Kurt Steinmann. Mit einem Nachwort von Otto Schily. Manesse-Verlag, Zürich 2024. 192 S., Fr. 33.90.

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