Die Werke der modernen Grossmeister kamen damals frisch aus den Ateliers. Heute sind einige Bilder zerstört oder verschwunden: Rekonstruktion einer legendären Ausstellung im Kunstmuseum Luzern.
Es war revolutionär. Und vielen schlicht unverständlich. Das Bild einer Skulptur, gemalt von Pablo Picasso. Vier Elemente, wie in Zement gegossen, vor himmelblauem Hintergrund. Rechts etwas nackte Leinwand, die an eine Wolke erinnert. Unten eine Hügelform. Darauf eine Kugel. Dann folgen darüber noch zwei unförmige Gebilde, die miteinander verschmolzen sind, sich irgendwie zugetan scheinen. Eine Umarmung, ein Kuss? Was um Himmels willen sollte das sein? So fragten sich wohl viele im Jahr 1929. Heute wissen wir es besser. Das ist eben ein Werk von Picasso, dem grössten Künstler der Moderne.
Das Gemälde ist ein Entwurf für eine Skulptur, die Picasso für das Grab seines Freundes Guillaume Apollinaire anfertigen wollte. Er wurde nach dem Tod des französischen Dichters 1918 mit der Gestaltung von dessen letzter Ruhestätte beauftragt. Zu einer Umsetzung kam es nie. Allerdings wurde dieses Werk mit dem Titel «Metamorphose» 1935 im Kunstmuseum Luzern ausgestellt.
Zu sehen waren damals 99 Gemälde und Skulpturen von 24 Kunstschaffenden. Wobei die allermeisten Werke direkt aus den Ateliers stammten. Für die jetzt rekonstruierte Ausstellung «Kandinsky, Picasso, Miró et al. zurück in Luzern» wurde fünf Jahre lang recherchiert, welche Werke damals ausgestellt wurden und wo sie sich heute befinden. 69 Exponate von damals konnten eindeutig identifiziert werden, 26 sind verschollen oder waren nicht identifizierbar, 4 gelten als zerstört. Die jetzige Schau vereint 43 originale Bilder und Plastiken aus der historischen Ausstellung sowie 47 alternative Arbeiten aus der entsprechenden Werkphase des jeweiligen Künstlers.
Der Titel von Picassos Gemälde – Metamorphose, Umgestaltung, Verwandlung, Veränderung – ist symptomatisch für die Zeit von 1935. Picasso und andere Künstler der damals noch jungen Moderne waren gerade dabei, die traditionelle Kunst radikal umzupflügen. Was auf dem Gemälde zu sehen ist, erschliesst sich allerdings auch heute noch keineswegs auf den ersten Blick. «Kopf – Studie für ein Monument», wie das Werk auch betitelt ist, soll das Antlitz einer Badenden am Strand andeuten und greift damit auf ein klassisches Thema der Kunst zurück, das Picasso in seinem Œuvre vielfach variiert hatte. Mit der akrobatisch aufeinandergestapelten Steinformation, die jederzeit zusammenzubrechen droht, hebelte Picasso die Regeln der realen Welt gänzlich aus.
Die Geschichte des Werks von 1929 ist aber auch bezeichnend für die politische Situation der damaligen Zeit. Was in Luzern 1935 als avantgardistisch präsentiert wurde, war in Nazideutschland verfemt. Die NS-Ideologie lehnte Kunstwerke ab, die nicht ihre Idee von Heimat, Nationalstolz und deutscher Einigkeit propagierten. Avantgardistische Kunstwerke sowie Werke von Künstlern mit jüdischem Hintergrund wurden als «entartet» bezeichnet, aus Museen und öffentlichen Sammlungen entfernt, teilweise ins Ausland verkauft, vernichtet oder eingelagert.
Auch Picassos «Metamorphose» war von dieser Politik betroffen. 1941, während der deutschen Besetzung in Paris, wurde das Bild beschlagnahmt. Es befand sich damals im Besitz des jüdischen Galeristen Paul Rosenberg, eines der bedeutendsten Galeristen für Kunst der Moderne. Er floh vor den Nazis nach New York. Erst 1945, nach Ende des Kriegs, erhielt er das Werk zurück. Heute befindet es sich in der Sammlung des Baltimore Museum of Art.
Wie Picasso waren viele der 1935 in Luzern vertretenen Künstler diffamiert: Hans Arp, Georges Braque, Giorgio de Chirico, André Derain, Max Ernst, Fernand Léger, Paul Klee, Wassily Kandinsky, Piet Mondrian. Werke solcher Künstler wurden auf der NS-Propagandaausstellung «Entartete Kunst», die von 1937 bis 1941 durch Deutschland tourte, verunglimpft und verspottet.
Florierender Schweizer Kunsthandel
Die politische Entwicklung in Deutschland steigerte indes die Attraktivität des Standorts Luzern für den internationalen Kunsthandel. Die Schönheit der Landschaft und die Hotellerie am Seeufer lieferten die perfekte Kulisse für eine betuchte und kunstliebende Klientel. Hier hatte die Münchner Galerie Thannhauser 1919 eine Zweigstelle eröffnet, die ab 1928 unter dem Namen Galerie Rosengart weitergeführt wurde. Zusammen mit dem Auktionshaus Fischer zählte sie zu den ersten Adressen des Schweizer Kunsthandels.
Die neutrale Schweiz, mitten in Europa gelegen, bot Rechtssicherheit und politische Stabilität. Künstler wie Picasso, Kandinsky oder Braque hatten in Luzern ihre Galerien. Hier florierte der Handel mit moderner Kunst, während er in den deutschen Städten zum Erliegen kam.
In der Schau von 1935, die unter dem Titel «These, Antithese, Synthese» figurierte, stellte ein Bild wie Picassos «Metamorphose» zweifellos die Antithese zu allem dar, was damals unter Malerei verstanden wurde. Das Bild ist überdies ein Paradebeispiel für Picassos surrealistische Phase.
Der Surrealismus indes war nur eine Strömung der modernen Kunst zu Beginn des 20. Jahrhunderts, die das absolut Neue, noch nie Dagewesene bedeutete. Moderne Kunst war nicht leicht zugänglich. Sie sprengte die starren, konventionellen Raster des bürgerlichen Zeitalters. Die realitätsgetreue Abbildung war kein Thema mehr. Kandinsky erfand die Abstraktion, Cézanne setzte auf erste expressive Bildauffassungen, Joan Miró favorisierte die Reduktion auf geometrische Formen.
Bewegungen wie der Expressionismus oder der Kubismus brachen mit allen bisher geltenden Konventionen und Regeln der bildenden Kunst. Sie stellten neue Ausdrucksformen dar, nicht zuletzt um der veränderten Realität in einer Zeit der gesellschaftlichen und politischen Umbrüche Rechnung zu tragen. Der Einfluss dieser Avantgarden auf die nachfolgenden künstlerischen Bewegungen des 20. Jahrhunderts ist kaum zu überschätzen.
Die Luzerner Ausstellung allerdings wurde als Zumutung empfunden. Der Publikumsandrang hielt sich in Grenzen. Die breite Öffentlichkeit konnte nicht angesprochen werden. Auch das Medienecho war gering. Das Projekt blieb elitär, und die Rezeption beschränkte sich auf Fachkreise. Wobei einige Rezensionen den kunsthistorischen Anspruch würdigten.
In der Stadt Luzern blieb die Schau als Meisterleistung in Erinnerung, bis heute ist sie in der Fachwelt ein Begriff. Ausgerichtet wurde sie in dem von Armin Meili erbauten Kunst- und Kongresshaus direkt am See zwischen Kopfbahnhof und Schiffsanlegestelle, dem ersten Museumsbau des Luzerner Kunstmuseums. Sie hatte eine relativ kurze Laufzeit von fünf Wochen. Mitkuratiert wurde sie vom Luzerner Künstler Hans Erni (1909–2015), einem Schweizer Picasso-Epigonen, der gleich auch eigene Werke mitausstellte.
Damals konnten nur drei Werke verkauft werden. Bilder zu verkaufen, war bei Ausstellungen mit Gegenwartskunst eine übliche Praxis. Unter den Verkäufen figurierte immerhin ein Bild von Picasso. «Mandoline, Früchteschale, Gipsarm und Tisch» von 1925 zeichnet sich durch bunte Farbgebung und fragmentierte Flächen aus und ist im Stil des synthetischen Kubismus gehalten. Die Elemente von Mandoline, Früchteschale, Gipsarm und Tisch verwandeln sich vor dem Auge collageartig zum Antlitz einer Frau mit Hut. Damit vereint der Künstler auf spielerische Weise zwei klassische Sujets – Stillleben und Porträt – in einem.
Der Verkaufspreis von 20 000 Franken deutet auf Picassos bereits damals grosse Popularität auf dem Kunstmarkt hin. Zum Vergleich: Ein durchschnittlicher Stundenlohn für Arbeiter in der Industrie betrug 1935 rund einen Franken pro Stunde, was bei einer damaligen 50-Stunden-Woche einem Monatslohn von 200 Franken entsprechen würde. Heute würde ein Bild wie Picassos «Metamorphose – Kopf: Studie für ein Monument», das damals in Luzern noch weitgehend auf Unverständnis stiess, auf dem Kunstmarkt spielend einen zweistelligen Millionenbetrag erzielen.
«Kandinsky, Picasso, Miró et al. zurück in Luzern», Kunstmuseum Luzern, bis 2. November. Publikation: Fr. 60.–.