Montag, September 16

In einer literarischen Fiktion erzählt die finnisch-estnische Schriftstellerin, wie Russland die Unterdrückung der Frauen vorantreibt: Der Staat erhebt eine «Unfruchtbarkeitssteuer», Gerichte fällen Urteile wegen «Verhütungs-Terrorismus». Eine Frau in Zürich versucht den Russinnen und Ukrainerinnen zu helfen. Bis sie sich fragt: wozu eigentlich?

Eine kurze Einführung der Redaktion: Seit Februar 2022 führt Russland Krieg gegen die Ukraine. Während die Soldaten an der Front sterben, treibt der russische Präsident Wladimir Putin seine Familienpolitik voran: Das Jahr 2024 wurde zum «Jahr der Familie» erklärt. Von russischen Frauen wünscht man sich acht Kinder, damit sie zur Lösung der «komplizierten demografischen Situation» beitragen. Gleichzeitig wird der Zugang zu Abtreibungen kontinuierlich erschwert. Finnische Medien berichteten, dass in der Duma auch über «Verhütungs-Terrorismus» diskutiert worden ist.

Sofi Oksanen, Finnlands erfolgreichste Autorin, nimmt diese Nachrichten als Ausgangspunkt für eine literarische Dystopie: Putin hat die Ukraine besetzt. Abtreibungen sind verboten. In der Schweiz versucht eine namenlose Protagonistin – Oksanen spricht sie mit «Du» an – den Frauen in Russland und den besetzten Gebieten mit Aufklärung, illegal gewordenen Verhütungsmitteln und Abtreibungspillen zu helfen.


Mascha hätte schon vor fünfzehn Minuten in der Leitung sein sollen. Du redest dir ein, es gäbe keinen Grund, nervös zu sein. Früher hast du wach gelegen vor Sorge, wenn eine der Frauen ihren Termin verpasst hatte. Du warst dir dann sicher, dass etwas passiert war. Oder dass du selbst einen Fehler gemacht hattest, etwas gesagt, was die Frau erschreckt oder ihre Meinung geändert hat. Aber du bist keine Anfängerin mehr.

Du zwingst deine Finger, die auf den Rand des Laptops klopfen, stillzuhalten. Es muss sich um ein technisches Problem handeln; in Russland gibt es ständig Netzausfälle.

Dein Mann und deine jüngste Tochter sehen sich im Wohnzimmer Zeichentrickfilme an. Die Geräusche dringen durch die Badezimmertür, hinter der du mit deinem Computer sitzt. Du schliesst die Tür. Nun ist das Badezimmer der beste Platz für deine Gespräche in die Ferne: Die Kinder können nicht hören, was du sagst, die Fliesen hinter dir verraten nichts über deinen Standort, nichts über dein Leben, nichts über dich.

Deine Kaffeetasse balanciert auf der Duschablage. Die Uhr in der oberen Ecke des Bildschirms tickt weiter, du tippst wieder mit den Fingern auf der Tastatur herum, aber du kannst Mascha nicht hören.

Um etwas zu tun, fängst du an, die Wäsche vom Wäscheständer zu falten. Dann hältst du plötzlich das leuchtend gelbe Hemd deiner grösseren Tochter in der Hand. Du schiebst es ganz nach unten, unter den Wäschestapel. Als ob es dich von deinem Treffen mit Mascha ablenken würde.

Der Gedanke ist dir in den letzten Monaten immer häufiger durch den Kopf gegangen: Du hättest dir lieber einen Jungen als zwei Mädchen gewünscht. Solche Gedanken gefallen dir nicht. Du bist keine Mutter, der das Geschlecht ihrer Kinder etwas bedeutet.

Wenn du deinem Mann erzählst, was dir durch den Kopf geht, wird er dich nur noch mehr dazu drängen, mit der freiwilligen Arbeit aufzuhören. Obwohl diese Gedanken nichts damit zu tun haben. Mit der Welt dagegen schon. Mit dem, was aus ihr geworden ist.

Gerade als du die Hoffnung, dass Mascha sich noch meldet, fast schon aufgegeben hast, hörst du, wie sie sich in den Call einwählt. Du eilst weg von deinem Berg mit Wäsche und zurück zu deinem Computer. Du kannst ihr Gesicht nicht sehen, sie hat die Kamera ausgeschaltet. Aber in ihrer Stimme sind Tränen zu hören. Es tut ihr leid, dass sie zu spät gekommen ist.

«Er kam aus heiterem Himmel in den Urlaub», flüstert sie. «Ich musste warten, bis Sasha eingeschlafen ist.»

«Ist alles in Ordnung?» Auch deine eigene Stimme ist gedämpft.

«Ich habe das Gefühl, dass meine Schwiegermutter etwas ahnt. Ich traue mich nicht, etwas zu essen, weil ich Angst habe, dass man es mir sofort an der Taille ansieht. Ich weiss, es ist dumm, aber . . .» Mascha schweigt, als ob sie horchen muss, ob ihr Mann aufgewacht ist, und fährt dann fort: «Die Leute im Dorf. Unsere Verwandten. Meine Schwiegereltern . . .»

Als das Telefonat zu Ende ist, gehst du mit dem Hund hinaus. So, wie du es immer tust, wenn eine deiner freiwilligen Schichten zu Ende geht. Das erleichtert dir die Rückkehr zu deiner Familie. An der Wohnzimmertür winkst du den anderen zu, damit sie wissen: Du kommst gleich wieder. Du beobachtest im Spiegel, wie dein Mann den Kopf zum Flur dreht, aber er kann dein Gesicht nicht sehen. Heute hast du nicht geweint, du hast längst gelernt, es erst zu tun, wenn du in den Wald kommst.

Du hast Mascha versprochen, dass sie ihre Pillen in einer Woche irgendwie bekommen wird. Du hast das gesagt, um sie zu beruhigen, damit sie keine Dummheiten macht. Aber es wird mehr als eine Woche dauern, um das Verteilernetz wiederherzustellen.

Zur Person

PD

Sofi Oksanen – Autorin

nad. «Die meisten Dinge, die in dieser dystopischen Kurzgeschichte vorkommen, passieren in der realen Welt bereits, aber in kleinerem Massstab. Oder sie werden bereits diskutiert», sagt Sofi Oksanen über ihre Dystopie «Pillen für Mascha». Oksanen richtet ihren Blick bewusst nicht auf die Fronten, sondern auf die Frauen: «Militärische Analysen dominieren die gesamte Kriegsberichterstattung. Es braucht diese Analysen auch, aber die öffentliche Diskussion über geschlechtsspezifische Perspektiven sollte dabei nicht verlorengehen.» Oksanen ist Finnlands erfolgreichste Romanautorin; ihre Geschichten sind immer auch Warnungen: vor Russland, vor Putin, vor dem Krieg, der vor mehr als zwei Jahren ausgebrochen ist. «Bis 2022 nannte man mich eine hysterische Estin», sagt die finnisch-estnische Autorin. Doch die Gegenwart hat ihr recht gegeben. Seit die Archive der ehemaligen Sowjetunion zugänglich sind, forscht Oksanen darin – auch nach den sowjetischen Mechanismen zur Unterdrückung der Frauen. Mit «Putins Krieg gegen die Frauen» hat sie kürzlich eine Brandschrift gegen Russland geschrieben, die Ende letzten Jahres auf Deutsch übersetzt worden ist. Ein Essay über 300 Seiten, schnörkellos und wütend. Dem Essay folgt die Frage: Was, wenn Putin diesen Krieg gewinnt? Ihr vorliegender literarischer Text, diese Szenen einer Dystopie, könnte eine Antwort darauf sein. Diesen fiktiven Text für die NZZ zu schreiben, als Warnung, habe sich «wichtig und sinnvoll angefühlt», sagt Oksanen. «Die Welt ist im Moment kein schöner Ort für Frauen.»


Als du von deinem Spaziergang zurückkommst, kannst du schon wieder lächeln. Deine grosse Tochter ist nach Hause gekommen, hat sich in der Ecke des Flurs die Schuhe ausgezogen und angefangen, das Abendessen vorzubereiten. Doch sie setzt sich nicht an den Tisch. So sind Teenager eben manchmal. Der Gesichtsausdruck deines Mannes allerdings hat etwas, was deine Aufmerksamkeit erregt.

Du vermutest sofort, dass er die Nachricht gehört hat, die du ihm verschwiegen hast: Mitglieder deines Netzwerks sind in der Moldau gefasst worden. Einige von ihnen hat man bereits zu zehn Jahren Gefängnis verurteilt. Gleichzeitig sind die Mitglieder deiner Kette, die die Pillen nach Russland schmuggelt, enttarnt worden. Von ihnen sind einige zu fünfzehn Jahren in einem Arbeitslager verurteilt worden.

Erst vor einer Woche ist die erste Verurteilung wegen «Verhütungs-Terrorismus» in Russland ausgesprochen worden. Du hast gerade erst über dein Netzwerk davon erfahren, die Medien haben noch nicht darüber geschrieben. Du schätzt, die Journalisten sind noch dabei, die Fakten zu überprüfen. Mascha wäre eine gute Interviewpartnerin. Sie konnte auch nicht verhüten. Aber du darfst sie nicht verraten: diese verzweifelte Frau irgendwo in Russland, die mit Tränen im Hals auf eine Abtreibungspille wartet. Es gibt Tausende von Frauen, die sich in der gleichen Situation befinden. Tausende von Maschas.

Vielleicht halten die Zeitungen diese Dinge einfach nicht mehr für News. Auch das ist möglich. Oder es gibt nicht mehr viele Journalisten, die sich dafür interessieren. Oder sie haben selbst Töchter, wie du, und wagen es nicht, deren Leben zu riskieren. Oder es war sonst etwas. Du erinnerst dich an den Redaktor der Lokalzeitung, dessen Verbindung zu den Putinisten aufgedeckt wurde. Vielleicht gibt es noch andere wie ihn.

Dieser Redaktor hatte im Namen des Pluralismus lokalen Abtreibungsgegnern Platz in seiner Zeitung eingeräumt und sogar eine Kolumnistin dafür eingestellt. Neulich hat sie über die neuen Mutterquoten für russische Filme geschrieben. Und gefragt, warum es das in der Schweiz eigentlich nicht gibt? Warum ihr nicht mehr Mütter in Hauptrollen zu sehen bekommt? Warum kinderlose Frauen auf der Filmleinwand zu Idolen gemacht werden – statt dass man die Mütter stärkt? Wäre es denn so schlimm, wenn die Verbreitung einer solchen Ideologie mit ein wenig Subventionen unterstützt würde?

Die Kolumnistin hat das Wort «Verhütungs-Terrorismus» nicht benutzt, aber vielleicht wird sie es bald tun. Vielleicht wird sich dann auch im Westen schon niemand mehr daran stören. Auch Russlands Unfruchtbarkeitssteuer hat ausserhalb des Landes Befürworter; in der Sowjetunion hat sie angeblich gut funktioniert.

Der Redaktor, dessen Putinismus-Sympathien aufgedeckt wurden, ist noch immer der Redaktor dieser Schweizer Zeitung, die du früher so gern gelesen hast. Seine Kolumnistin immer noch die Kolumnistin dieser Zeitung.

Du bist dir sicher, dass bei den nächsten Wahlen einer der Lokalpolitiker damit Wahlkampf machen wird, sich für die Entrechtung von kinderlosen Frauen einzusetzen. Hat sich eigentlich irgendjemand im Westen dagegen ausgesprochen, als eine entsprechende Gesetzesänderung in Russland verabschiedet wurde? Du kannst dich nicht erinnern.


Nachdem dein Mann euer jüngstes Kind ins Bett gebracht hat, klopfst du an die Tür deiner älteren Tochter. Aber im Zimmer hinter der Tür bleibt es still. Dein Mann winkt dich mit besorgtem Gesicht in die Küche und zeigt dir ein Foto auf seinem Handy. Du starrst auf das Bild deiner Tochter auf dem Bildschirm: Auf ihrer Stirn steht in schwarzen Grossbuchstaben «Faschistische Hure» geschrieben. Du blinzelst. Das Wort bleibt. Auch als du nicht mehr auf den Bildschirm schaust, siehst du das Bild noch immer. Es hat sich auf deiner Netzhaut eingebrannt. Die Wand hinter dem Bild kommt dir bekannt vor. Es ist die Wand aus der Schule. Deine Hand tastet nach deinem eigenen Handy, und du bist kurz davor, eine Nachricht an die Lehrerin zu tippen. Aber dann – eigentlich sofort – wird dir klar, dass es besser ist, das nicht zu tun.

Vor einem Monat hat eine Freundin deiner Tochter das gleiche Schicksal erlitten. Gemeinsam haben die Mädchen an einer Pro-Ukraine-Demonstration teilgenommen. Am nächsten Morgen ist das Mädchen auf dem Weg zur Schule von den Putinisten in ihrer Klasse in die Büsche gezerrt worden. Die Eltern des Mädchens haben sich sofort an die Klassenlehrerin gewandt, die hat aber nichts unternommen. Nach dem Vorfall ist die Familie weggezogen.

Du fragst dich, wer das Bild deiner Tochter wohl alles gesehen hat, so, wie es in diesem Moment im Internet kursiert. Die Buchstaben, die dir noch immer im Kopf herumschwirren, sind direkt auf die Haut deiner Tochter gemalt worden. Jeder, der dir auf der Strasse begegnet, könnte ein Putinist sein. Er könnte deine Tochter erkennen und sie angreifen.

«Du solltest dein Gesicht bei diesen Terminen nicht zeigen», sagt dein Mann. Dieses Plädoyer hat er schon oft gehalten. Aber du kannst bei deinen Beratungen nicht komplett anonym bleiben. Das wäre falsch; deine Beratung basiert auf Vertrauen. Wie können die Frauen dir vertrauen, wenn du ihnen dein Gesicht nicht zeigst?

«Ihr solltet aufhören, an diesen Demonstrationen teilzunehmen», sagt dein Mann jetzt.

Du hast nicht die Kraft, mit ihm zu streiten. Ihr habt schon oft darüber gesprochen. Aber bisher haben du und deine grosse Tochter euch durchgesetzt.

Jede Woche bewahrt deine Organisation unzählige Frauen in Russland und in den besetzten Gebieten vor verzweifelten Lösungen, indem ihr sie über Verhütung und Abtreibung beratet. Jede Woche bist du es, die jemanden unter prekären Umständen vor einer Abtreibung bewahrt hat. Jede Woche rettest du aus der Ferne, aus deinem Badezimmer in Zürich, das Leben oder die Gesundheit von Menschen. Dein Mann denkt, es sei nun an der Zeit, die Sicherheit eurer eigenen Familie in den Vordergrund zu stellen. Früher dachte er anders – es war einmal, vor langer Zeit. Bevor du eine Freiwillige geworden bist, der fremde Frauen am Bildschirm das ausgestossene, blutige Gewebe ihres Aborts zeigen, um von dir die Bestätigung zu bekommen, dass die Abtreibung erfolgreich war.

Mitten im Monolog deines Mannes klingelt dein Telefon. Eine deiner Kolleginnen. Du gehst ins Badezimmer, um ungestört zu reden.

«Hör zu, einer dieser Bastarde ist aufgespürt worden. In einem Flüchtlingslager in Mali hat die Hebamme, die von diesem Wagneristen vergewaltigt wurde, ausgesagt. Eine aussergewöhnlich kluge Frau: Nach der Vergewaltigung hat der Wagnerist bis zur Besinnungslosigkeit gesoffen, und die Frau hat eine DNA-Probe von ihm nehmen können. Die Probe ist brauchbar. Die Hebamme wusste genau, was sie tat. Und es gibt Augenzeugen für den Vorfall. Es ist derselbe Mann, der . . .»

Du unterbrichst deine Kollegin nicht, und sie erzählt weiter. Aber du musst dich setzen. Es hat wahrscheinlich nichts mit Mascha zu tun, aber als der Empfang beim letzten Anruf gut war, hatte Mascha endlich die Kamera eingeschaltet. Möglicherweise um zu zeigen, dass es ihr gutging. Mascha sass auf einem Stuhl, und über dessen Rückenlehne lag eine Jacke. Eine Männerjacke mit Wagner-Abzeichen. Das muss ein Zufall gewesen sein. Es gibt Tausende von Wagneristen. Und deine Hilfe ist an keine Bedingungen geknüpft.

«Hast du ein Foto von dem Bastard?», fragst du deine Kollegin.

«Ja, warum?»

«Nur so. Man weiss ja nie, ob . . .»

«Hast du einen Verdacht?»

«Nein, nein, es ist nichts», sagst du.

Aber die Gedanken überschlagen sich in deinem Kopf. Du kennst die Hebamme, von der deine Kollegin eben erzählt hat. Sie hat in einer Praxis gelernt, wie man bei einem Feldeinsatz Fisteln und Fissuren näht. Sie hat direkt bei einem Chirurgen gelernt. Eine wichtige und mutige Frau. Dein Mann klopft an die Badezimmertür und will duschen. Du beendest den Anruf rasch. Kurz darauf erscheint ein Bild auf deinem Mobiltelefon. Der Bastard. Du erkennst ihn nicht. Es könnte irgendwer sein.

Du lässt deinen Mann ins Bad und bleibst vor der verschlossenen Tür deiner Tochter stehen. Du solltest mit ihr reden. Stattdessen starrst du auf die Handtasche deiner Tochter. Sie liegt in einer Ecke des Flurs. Ein Sticker klebt darauf mit der Aufschrift: «Für mein Handy wird niemand vergewaltigt.»

Die Wagneristen der zweiten Generation in Afrika haben lange Zeit sexuelle Gewalt als Mittel eingesetzt, um den Menschen dort ihre Minen und Steinbrüche wegzunehmen, um selbst profitieren zu können. Dein Mädchen gehört zu einer Organisation, die versucht, das Bewusstsein dafür zu schärfen. Der Aufkleber war Teil ihrer Kampagne: Dass die Telefongesellschaften Kobalt aus diesen von den Wagneristen kontrollierten Gebieten verwenden, hat keinerlei Auswirkungen auf den Verkauf von Telefonen. Stattdessen ist ein Unternehmen, das sich auf die Herstellung ethischer Telefone spezialisiert hat, solche, deren Minen nicht mit Vergewaltigungen gewonnen wurden, gerade pleitegegangen. Du klaubst den Aufkleber von der Handtasche deiner Tochter und wirfst ihn in den Müll.

Alles, was du über Mascha weisst, ist ihr Vorname. Du weisst nicht einmal, ob er echt ist. Aber du weisst, wie sie aussieht. Als dein Mann im Bett ist, gehst du ins Badezimmer zurück und gibst den Männernamen ein, den deine Kollegin dir vorhin genannt hat. Du findest den Bastard problemlos. Du findest auch seine Mutter und seine Grossmutter, den Vater, die Schwester und sogar eine alte Lehrerin des Bastards.

Du scrollst durch den Fotostream, schaust in die Gesichter der Leute, die den Bastard grossgezogen haben, bis du zu einem Bild der Freundin des Bastards kommst. Dein Atem stockt. Es ist nicht Mascha. Es ist jemand anderes. Es könnte jede der Frauen sein, denen du schon geholfen hast. Aber es ist nicht Mascha.

Du putzt dir schnell die Zähne und machst dich bereit fürs Bett. Aber während du dein Gesicht eincremst, schiebt sich eine Frage zwischen dich und den Spiegel, so dass du dein eigenes Spiegelbild kaum noch sehen kannst: Mascha ist nicht die Freundin des Bastards, der gerade identifiziert wurde. Aber was machst du, wenn die nächste Frau, die deine Hilfe will, wirklich die Frau eines solchen Bastards, eines Vergewaltigers ist? Wirst du ihr helfen? Woher weisst du überhaupt, dass das nicht längst passiert ist? Ist Maschas Mann nicht sowieso ein Arschloch? Die Wagneristen sind doch alle gleich.

Deine Suchergebnisse ergeben, dass auch Mascha Wagner-Partys besucht hat. Zu ihren Freunden gehören Wagner-Familien. Sie alle leben von Blut und Schmerz.

Allein in Russland muss der Inlandgeheimdienst über eine halbe Million Mitarbeiter gehabt haben. Wie viele Töchter, wie viele Ehefrauen von solchen Menschen muss es also geben? Wie viele Mütter? Wie viele Wagneristen gibt es? Wie viele stolze Mütter? Wie vielen von ihnen hat dein Netzwerk bereits geholfen?

Du bekommst auch Anrufe aus mit Russland «befreundeten» Ländern. Wo die Familienangehörigen der Sicherheitsdienste nicht ins Ausland reisen dürfen und in denen bereits eine Abtreibungsgesetzgebung eingeführt wurde, die traditionellen Werten entspricht. Dein Netzwerk ist auch für diese Frauen die einzige Möglichkeit, eine Abtreibung zu bekommen. Du bist ihr einziger Ausweg. Warum hast du nicht schon früher daran gedacht? Oder hast du das?

Du läufst Runden in deiner Küche. Du weisst, dass der Wagnerist, der die Hebamme in Mali vergewaltigt hat, wahrscheinlich in Abwesenheit verurteilt wird.

Du könntest Mascha die Pille einfach nicht besorgen. Aber wem würde das nützen? Du könntest Mascha auch erpressen. Du könntest dir eine Geschichte einfallen lassen, um Mascha dazu zu bringen, mit ihrem Mann irgendwo Urlaub zu machen, wo sich andere Aktivisten dann um ihn kümmern könnten. Es gibt auch in Russland bestimmt noch funktionierende Zellen, die das übernehmen würden. Ein Wagnerist weniger auf der Welt bedeutete eine bessere Welt für alle.

Oder man könnte Mascha erpressen, damit sie den Bastard aufspürt, dessen DNA von der Hebamme genommen wurde und später verifiziert worden war. Er ist nicht Maschas Mann. Aber woher weisst du, dass der Bastard nicht Maschas Bastard-Kumpel ist?

Du hast wieder die sozialen Netzwerke des Bastards durchforstet. Es gibt dort nichts über die Arbeit des Bastards zu sehen. Nur Bilder von den Partytagen, den Siegestagen. Du musst dir die Lebensfreude des Bastards ansehen und bist wütend. Du solltest etwas tun. Du weisst nicht, was.

Plötzlich erinnerst du dich an Stanislaw Aseyew, einen ukrainischen Journalisten, der vor Jahren in Izoliatsia gefangen gehalten wurde und ein Buch über diese Zeit geschrieben hat. In jeder Zelle und in jedem Raum gab es eine Kamera. Alle Verhöre wurden auf Video aufgezeichnet. Beweise für Folterungen lagen vielfach vor, Hunderte von Stunden, die sich die internationalen Gerichte ansehen konnten.

Aseyew hat geschrieben, dass es sich wie ein Experiment angefühlt habe: «Können diese Leute wirklich ungestraft ihre Verbrechen filmen und über jeden Bericht der Vereinten Nationen hinweglachen? Offenbar können sie das. Andere können sich mit der Vorstellung trösten, dass es eine höhere, kosmische Gerechtigkeit gibt. Ich glaube nicht daran.» Nachdem Aseyew das geschrieben hatte, ging er an die Front.

Einige der Menschen, die in Izoliatsia Verhöre durchgeführt haben, sind inhaftiert worden. Aber die meisten Menschen haben bis heute nichts von diesem Ort gehört. Er ist nie zum Synonym für Dachau geworden, obwohl die Ukrainer ihn das Dachau von Donezk nennen.

Oder das Donezker Bordell.

Du hast Aseyews Buch gelesen, bevor du dich zum Freiwilligendienst gemeldet hast. Du weisst nicht mehr, wie oder warum es in deine Hände gekommen ist. Du bist dir nicht einmal mehr sicher, warum du dich deinem Netzwerk angeschlossen hast. Warum es dir damals so unglaublich wichtig erschien – und warum es dir jetzt so abstossend vorkommt. Aber du merkst, dass du Aseyews Worte bis jetzt nicht verstanden hattest.

In dieser Nacht machst du kein Auge zu. Du hörst, wie dein Mann aufwacht. Er steht auf, um Kaffee zu kochen. Ihr frühstückt zusammen, und du sagst ihm, dass du beschlossen hast, deine Freiwilligenarbeit zu beenden.

«Sie nimmt zu viel Zeit in Anspruch», sagst du. Dein Mann lächelt. Sein Lächeln sagt: Du hast die richtige Entscheidung getroffen. Du weisst, dass es die falsche Entscheidung ist. Aber was soll’s.

Diese dystopische Kurzgeschichte entstand für die NZZ und ist nicht Teil einer längeren Erzählung.

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