Donnerstag, November 6

Moskau hat in den vergangenen Wochen seine Rhetorik gegenüber den baltischen Staaten verschärft. Die Länder an der Ostflanke sind alarmiert. Geheimdienste glauben, dass sich Putin auf lange Sicht auf eine Konfrontation mit der Nato vorbereite.

Könnten die baltischen Staaten nach der Ukraine die nächsten Opfer Russlands sein? Schon lange warnen die Regierungen in Estland, Lettland und Litauen vor den imperialen Ambitionen Wladimir Putins, der den Zusammenbruch der Sowjetunion einst als «grösste geopolitische Katastrophe des 20. Jahrhunderts» bezeichnet hatte.

Für den russischen Präsidenten ist die Mitgliedschaft der drei früheren Sowjetrepubliken in der Nato und der Europäischen Union seit je eine Anomalie. Die Sorge vor einem Angriff des grossen Nachbarn ist deswegen real im Baltikum, und sie wurde erst kürzlich wieder durch unheilvolle Äusserungen des Kreml-Chefs verstärkt.

«Russophobie» und «Nazismus»

Bei einer Gedenkveranstaltung für die Opfer des Zweiten Weltkrieges in St. Petersburg hatte Putin den Balten vorgeworfen, sich erbarmungslos gegenüber der russischen Minderheit in ihren Ländern zu verhalten. «Sie erklären Zehntausende zu Untermenschen, nehmen ihnen die elementarsten Rechte und setzen sie der Hetze aus», behauptete er.

Wie die Ukraine hätten auch die baltischen Staaten den «Nazismus» übernommen. Für Russland, sagte Putin, stelle dies ein Sicherheitsproblem dar. Tatsächlich hat Lettland vor einigen Wochen knapp tausend Russen, die nur einen russischen Pass besitzen und kein Lettisch sprechen, zur Ausreise aufgefordert. Von einer Unterdrückung der gesamten russischsprachigen Minderheit im Land kann damit aber keine Rede sein.

Das amerikanische Institute for the Study of War (ISW) nahm die Äusserungen Putins aufmerksam zur Kenntnis. Die Militärexperten bewerteten sie als Vorwand, um eine mögliche künftige Aggression Russlands im Ostseeraum zu rechtfertigen. Wie schon in der Vergangenheit berufe sich der Kreml dabei auf die angebliche Unterdrückung von Russen und Russischsprachigen in einem Nachbarstaat, heisst es in der ISW-Analyse. Auch der Überfall auf die Ukraine im Februar 2022 wurde schliesslich als Einsatz zur «Entnazifierung» deklariert.

Ist die Wahrscheinlichkeit eines russischen Angriffs im Baltikum also gestiegen? Noch sind Russlands Streitkräfte weitgehend an der ukrainischen Front gebunden. Bestärkt durch militärische Fortschritte in der Ukraine könnte Moskau allerdings versucht sein, in den kommenden Jahren eine zweite Front an der Nato-Ostflanke zu eröffnen, befürchten Stimmen in der Allianz.

So erklärte der deutsche Verteidigungsminister Boris Pistorius, er halte einen Angriff Russlands auf ein europäisches Nato-Land in den nächsten fünf bis acht Jahren für realistisch. Der niederländische Admiral und Vorsitzende des Nato-Militärausschusses Rob Bauer sprach davon, dass die Allianz sich für einen «umfassenden Krieg mit Russland» innerhalb der nächsten zwei Jahrzehnte wappnen müsse.

«Massenarmee sowjetischen Stils»

Nach Einschätzung des estnischen Geheimdienstes bereitet sich der Kreml schon heute intensiv auf eine Konfrontation mit der Nato vor. Russland habe eine umfassende Militärreform eingeleitet und plane eine deutliche Aufstockung seiner Truppen entlang der Grenzen zu den baltischen Staaten und Finnland, heisst es im jüngsten Jahresbericht des Nachrichtendienstes des Landes. Russlands Ziel sei auf lange Sicht die militärische Vorherrschaft im Ostseeraum.

Heikel für den Westen ist, dass die russische Industrie derweil auf Kriegswirtschaft umgestellt hat und Moskau so in der Lage ist, nicht nur seine Materialverluste aus dem Ukraine-Krieg wettzumachen, sondern sogar neue Depots aufzufüllen. Zudem kann Russland auf ausländische Lieferanten setzen: Nicht zufällig kommen in der Ukraine derzeit vor allem nordkoreanische Munition und iranische Drohnen zum Einsatz.

Im Geheimdienstbericht ist die Rede davon, dass der Erfolg der russischen Militärreform weitgehend vom Verlauf des Krieges in der Ukraine bestimmt sei. Läuft es gut für Moskau, müsse sich die Nato auf die Konfrontation mit einer «Massenarmee sowjetischen Stils» einstellen. Diese dürfte den westlichen Verbündeten zwar in den meisten Bereichen technologisch unterlegen sein. Ihr militärisches Potenzial sei aufgrund von Grösse, Feuerkraft und Reserven aber erheblich.

Gegen einen möglichen konventionellen Angriff einer solchen Armee seien die alliierten Verteidigungskräfte nicht gewappnet, heisst es im Bericht der Esten. Die Nato-Staaten müssten in jedem Fall «viel besser vorbereitet, fähiger und stärker mit Munition und Material ausgestattet sein, als dies derzeit der Fall ist».

Dabei rüsten die baltischen Staaten schon seit Jahren deutlich auf. Ihre Ausgaben für das Militär liegen bei mindestens 2,5 Prozent des Bruttoinlandprodukts (BIP) und damit klar über den Vorgaben der Nato. Im benachbarten Polen fliessen sogar 3,9 Prozent des BIP in den Verteidigungshaushalt. Das Land fühlt sich kaum weniger von Russland bedroht, was nicht zuletzt mit der sogenannten Suwalki-Lücke zu tun hat.

Achillesferse der Nato

Der nur 65 Kilometer lange Landstreifen trennt Weissrussland von der russischen Exklave Kaliningrad. Es ist zugleich die einzige Verbindung auf dem Landweg zwischen Polen und den baltischen Staaten. Ein russischer Angriff könnte die Balten von ihren Nato-Verbündeten abschneiden und das Moskau-hörige Weissrussland mit der russischen Enklave Kaliningrad verbinden. Kein Wunder, gilt die Suwalki-Lücke als Achillesferse der Nato.

In einem von der «Bild»-Zeitung Mitte Januar veröffentlichten Geheimpapier der Bundeswehr wird durchgespielt, wie ein Vorstoss Russlands in die Suwalki-Lücke aussehen könnte. Demnach würde Moskau in einer ersten Phase mittels Cyberangriffen und anderer Formen der hybriden Kriegsführung für Unruhe im Baltikum sorgen. In einer zweiten Phase würde es den angeblich bedrohten russischen Minderheiten in den Ländern zu Hilfe kommen.

Ähnlich wie vor dem Einmarsch in die Ukraine würde Russland ein Grossmanöver als Vorwand nutzen, um Truppen und Mittelstreckenraketen nach Weissrussland zu verlegen. Das Ziel sei die Eroberung der Suwalki-Lücke. Eine militärische Konfrontation mit der Nato stünde schliesslich unausweichlich bevor.

Für den Militärexperten Antony Lawrence vom International Centre for Defence and Security in Estland ist das Szenario gegenwärtig unrealistisch, da Russland derzeit nicht die Fähigkeit habe, eine zweite Kriegsfront zu eröffnen. Bisher, meint der Brite, sei Moskau auch tunlichst darauf bedacht gewesen, einen direkten Konflikt mit der Nato zu vermeiden (indem es beispielsweise davon absah, Versorgungslinien für militärische Unterstützung aus dem Westen anzugreifen).

Die baltischen Staaten haben unterdessen mit dem Bau eines engmaschigen Verteidigungsnetzwerkes entlang ihrer Grenze zu Russland begonnen. Insgesamt sollen 600 Bunker entstehen, um im Falle eines russischen Angriffs besser gerüstet zu sein. Die eigene Truppenstärke ist sehr gering: Gerade einmal 3356 aktive Soldaten zählt die Armee in Estland, hinzu kommen knapp 30 000 Reservisten. 7250 aktive Soldaten und 36 000 Reservisten gibt es in Lettland, 11 545 aktive Soldaten und rund 20 000 Reservisten in Litauen.

Zusammen haben die baltischen Staaten rund 22 000 aktive Soldaten

Truppenstärken in Estland, Lettland und Litauen, 2024

Aktive nationale Soldaten

Mit jeweils einer sogenannten Battlegroup pro baltischem Land leistet die Nato Unterstützung. Die multinationalen Kampfverbände sind weiter im Aufbau, derzeit leisten 1200 Nato-Soldaten in Estland und jeweils 1800 Nato-Soldaten in Lettland und Litauen ihren Dienst.

Signifikant will insbesondere die deutsche Bundeswehr ihre Präsenz in der Region erhöhen. Sie plant bis 2027 die dauerhafte Stationierung einer Brigade in Litauen. Das halten Beobachter für reichlich ambitioniert, aber die Zeit im Ostseeraum läuft – vermutlich zugunsten Putins.

Exit mobile version