Samstag, Januar 11

Abnehmmittel wie Ozempic verändern die Ansichten über Dicksein und Dünnsein. Nun spritzen sich auch Leute schlank, die vorher behauptet haben, jeder Körper sei schön, wie er sei.

Die Abnehmindustrie weiss, wer ihre Kunden sind. Schamlos drängte sie sich auf, als am Sonntag in Hollywood die Golden Globes vergeben wurden. Eine Firma nach der anderen bewarb in den Pausen ihre Mittel zum Abnehmen. Die Moderatorin Nikki Glaser eröffnete die Gala mit den Worten: Dies werde die grösste Nacht für Ozempic.

NZZ.ch benötigt JavaScript für wichtige Funktionen. Ihr Browser oder Adblocker verhindert dies momentan.

Bitte passen Sie die Einstellungen an.

Ozempic ist ein Medikament, das ursprünglich zur Behandlung von Diabetes Typ 2 entwickelt wurde. Es enthält den Wirkstoff Semaglutid, der den Blutzucker senkt und appetithemmend wirkt. Seit 2022 verschreiben es Ärzte bei starkem Übergewicht, auch in der Schweiz.

Weil die Abnehmspritze so wirksam ist, sprechen manche von einer «magischen Medikation». Immer mehr Leute, die nicht zuckerkrank sind, Gelenkschmerzen haben oder aufgrund einer schweren Adipositas unter Bluthochdruck leiden, wollen damit überflüssige Kilos loswerden.

Ozempic ist innert kurzer Zeit zum Lifestyle-Medikament aufgestiegen. Die Lager des dänischen Herstellers Novo Nordisk haben sich letztes Jahr so schnell geleert, dass Diabetiker, die auf die Spritze angewiesen sind, um ihre Versorgung fürchteten.

Familie Kardashian verliert Gewicht

Es war die Nacht von Ozempic an den Golden Globes, aber nicht in erster Linie wegen der Werbespots. Sondern in Gestalt der Stars. Einen Hype erlebt Ozempic in Hollywood. Nachdem im letzten Jahrzehnt der kurvige, teilweise puppenhaft-künstliche Körper angesagt war, gilt wieder schlank bis dünn als schön.

Besonders gut verkörpert Kim Kardashian den Wandel. Erst liess sie sich mithilfe von Silikon eine absurde Sanduhr-Figur modellieren: breite Hüften mit ausladendem Hintern, dazu ein üppiger Busen. Auch das Gesicht mit künstlichen Substanzen aufgepolstert, die ihm eine pornografisch-sexuelle Ausstrahlung verliehen.

Vor zwei Jahren präsentierte sich Kim Kardashian dann um acht Kilo leichter. Fast alle Kardashian-Schwestern taten es ihr seither gleich. Ozempic soll ihnen dabei geholfen haben.

Jeder will dünn sein, als handelte es sich um ein Kleid, das nun alle tragen. Laut dem «Hollywood Reporter» lassen immer mehr Leute ästhetische Eingriffe wieder rückgängig machen. So berichten es Schönheitschirurgen. Das Gesässpolster soll raus, die Brüste werden verkleinert. Statt aufgespritzter Pfirsichbacken darf das Gesicht wieder hohlwangig sein.

Elon Musk ist ein «Ozempic Santa»

Seit Ozempic auf dem Markt ist, preisen es Prominente offen an. Oprah Winfrey, die jahrelang mit ihrem Übergewicht kämpfte, nennt das Medikament revolutionär. In einer Sendung auf ABC sagte sie unter Tränen, dass die Zeit der Scham für dicke Menschen vorbei sei: Sich zu schämen und von der Gesellschaft beschämt zu werden. Mit Vorurteilen konfrontiert zu sein.

Übergewichtige gelten als faul und willensschwach. Doch Fettleibigkeit hat oft eine genetische Ursache, gegen die keine Fastenkur hilft. Diese Menschen setzen die Spritze nicht in erster Linie aus ästhetischen Gründen an, sondern weil sie gesünder werden wollen.

Das erhoffte sich auch die Comedian Amy Schumer, eine weitere Bekennende. Allerdings hat sie Ozempic wegen der Nebenwirkungen bald wieder abgesetzt. Das Medikament kann Übelkeit, Erbrechen, Durchfall verursachen.

Davon scheint Elon Musk verschont. Auf X postete er an Weihnachten ein Bild von sich als Samichlaus, dazu die Worte: «Ozempic Santa». Musk traut den Abnehmmitteln zu, das übergewichtige Amerika zu verschlanken.

Jeder Dünne unter Verdacht

Die Obsession mit Ozempic hat eine weitere komische Nebenwirkung. Sie hat zu einer Verdächtigungskultur geführt. Jeder, der plötzlich eine kleinere Kleidergrösse trägt, wird verdächtigt, sich mit dem Medikament beholfen zu haben. Auf Instagram, Tiktok, X macht man sich einen Sport daraus: Hat sie, oder hat sie nicht?

Hat der republikanische Politiker Ron DeSantis dank Ozempic abgenommen? Er bestreitet es. Warum ist die Sängerin Christina Aguilera so schlank? Sie schweigt darüber. Und «Wicked»-Darstellerin Ariana Grande, die auf einmal so zerbrechlich wirkt?

Manche Prominente widersprechen vehement, was sie nicht gerade entlastet. Sie schreiben die Gewichtsreduktion der eigenen Disziplin zu, intensivem Sport, gesünderem Essen. Ariana Grande sagte nur so viel: Ihr früherer Körper, mit dem man ihren jetzigen vergleiche, sei nicht gesund gewesen. Sie habe Antidepressiva genommen, getrunken und sich schlecht ernährt. Man solle das Urteilen lassen.

Was sie vergisst: Wer sich zeigt, will wahrgenommen werden. Sonst ist man im falschen Beruf. Eine Schauspielerin setzt sich aus. Ihr Äusseres gibt zu reden, das muss sie aushalten. Die sozialen Netzwerke sind allerdings gnadenlos. Ozempic hat dazu geführt, dass das Aussehen noch hemmungsloser kommentiert wird. Vor allem jenes von Frauen.

«Super Size»-Models begehen «Verrat»

So werden heute Körper bewertet in einer Weise, wie man es für überwunden hielt. Zumindest, wenn man an die Ideale der Body-Positivity-Bewegung glaubte. Jeder Körper sei schön, behaupten deren Anhängerinnen. Sie ermutigten zu Selbstliebe und Selbstakzeptanz und wollten auch die Gesellschaft lehren, die Vielfalt zu feiern und alle Körperformen, ob dick oder dünn, kurz oder lang, gleich attraktiv zu finden.

Doch nun erfasst die Ozempic-Welle sogar jene, die für diesen Kampf eingestanden sind und immer beteuert haben, dass sie ihr Übergewicht bejahen. Dieses mache aus, wer sie seien, hiess es. Es wurde zu einem Identitätsmerkmal.

Von der Schauspielerin Barbie Ferreira, bekannt aus der HBO-Serie «Euphoria», gibt es nun auch eine viel schlankere Version. Die 28-Jährige scheint Freude an ihrem neuen Körper zu haben und inszeniert ihn in provokanten Posen. Jedes Foto, das sie auf Instagram postet, zieht Hunderte von Kommentaren nach sich. Sie wird «Ozempic Queen» genannt. Einer schreibt: «Eine weitere Schönheit an Ozempic verloren.»

Barbie Ferreira arbeitet als Model im Bereich «Plus Size», Übergrösse. Frauen wie sie sind ein Vorbild für die Body-Positivity-Bewegung. Nicht der Norm entsprechend, und dies selbstbewusst. Genauso wie die Rapperin Lizzo, die in ihren Liedtexten Schönheitsideale kritisierte. Vor ein paar Jahren sagte Lizzo: Selbst wenn Body-Positivity irgendwann vorbei sein sollte, werde sie nicht «zur dünnen weissen Frau. Ich werde weiterhin schwarz und fett sein.»

Jetzt hat sie sich selber widerlegt und abgenommen. Nicht wegen Ozempic – das sagt sie zumindest. Sondern weil sie sich eine strenge Diät mit viel Bewegung auferlegt habe. Für ihre Fans macht es das nicht besser. Manche sehen in ihr eine Verräterin.

Die Macht der Schlanken und Weissen

Der Hype um Ozempic entlarvt die Verlogenheit einer Bewegung, die die Gesellschaft gerechter machen wollte. Deren Einfluss auf die Realität aber begrenzt ist. In der Werbung sieht man heute zwar mehr Menschen, die keine Modelmasse haben. Die Unterwäsche der Modemarke Victoria’s Secret wird von mehr kurvigen Models vorgeführt als noch vor zwanzig Jahren. Mode- und Kosmetikfirmen bekannten sich so ein bisschen zu Inklusion und Diversität. Es war eine Anpassung an den Zeitgeist, der sich aber auf das, was als schön gilt, kaum auswirkt.

Vor diesem Dilemma stehen nun die Frauen, die Frauen ermächtigen wollen, aber sich fürs Abnehmen entschliessen, weil ihnen in ihrem schweren Körper einfach nicht mehr wohl ist. Sie berichten von besserem Schlaf, schmerzfreien Knien, mehr Energie. Verurteilt werden sie dennoch. Die «Verräterin» Lizzo, obwohl weiterhin Feministin, gilt nun als «fettphob» allein deshalb, weil sie weniger dick sein will.

Als schwarze Frau verleugnet sie ihre Herkunft – auch diese Kritik wird in der Ozempic-Debatte geäussert. Im Streben nach der schmalen Silhouette eifert man angeblich einem «weissen» Ideal nach. Wer arm ist, neigt eher zu Übergewicht, dies betrifft Schwarze stärker als Weisse. Ozempic als Lifestyle-Medikation können sich Weisse eher leisten. In dieser Logik sichern sich weisse, schlanke Menschen die Macht.

Catherine Mhloyi, eine afroamerikanische Autorin und Body-Positivity-Influencerin, geht im «Time Magazine» noch weiter. Sie schreibt: Die Fettphobie wurzle im Rassismus gegenüber Schwarzen.

Als Kim Kardashian sich ihr Gesäss vergrössern liess, war das allerdings auch nicht recht. Schwarze Aktivistinnen warfen ihr damals vor, sie eigne sich die Schönheitsideale der Afroamerikanerinnen an und bemächtige sich ihrer Körper.

Abnehmmittel wie Ozempic lösen viel mehr aus, als dass sie bloss den Hunger stillen. Mit ihnen wird Identitätspolitik betrieben. Dazu offenbaren sie ein Paradox: Sie verändern den Körper von Frauen sichtbar, ohne dass man darüber sprechen darf.

Sie lindern Leiden, indem sich niemand mit einem Körper zufriedengeben muss, der ihn unglücklich macht. Oder sogar krank. Gleichzeitig erhöht Ozempic den Druck, schlank zu sein wie die Frauen auf Instagram. Schönheitsideale sind ansteckender als eine gute Gesinnung. Die Body-Positivity-Bewegung scheitert an der Spritze.

Exit mobile version