Frankreich hat die Widrigkeiten von Pandemie und Ukraine-Krieg gut gemeistert. Doch nun ist das Land innert weniger Monate in eine historische Krise gerutscht. Wie konnte es so weit kommen?
Das Jahr 2024 ist noch nicht zu Ende, aber es ist klar, dass es in der französischen Geschichtsschreibung besondere Erwähnung finden wird. Im Sommer hat das Land die Olympischen Spiele ausgerichtet – ohne Zwischenfälle und vor allem mit einer spektakulären, weltweit beachteten Eröffnungsfeier. In diesem Sommer ist das Land jedoch auch in eine beispiellose politische Krise gerutscht, die ihren vorläufigen Höhepunkt am 4. Dezember erreichte.
Eine Mehrheit der Parlamentarier hat dem Premierminister das Vertrauen entzogen. Das ist in der fünften Republik erst einmal vorgekommen, 1962. Doch damals fanden umgehend Neuwahlen statt, was diesmal aus Verfassungsgründen nicht möglich ist. Nun hat Frankreich keine Regierung mehr und damit auch kein Budget für das kommende Jahr. Das hoch verschuldete Land wird auf absehbare Zeit nicht sparen.
Es ist dem Zufall geschuldet, dass die Geschichte der Olympischen Sommerspiele in Paris und jene der politischen Krise im selben Jahr eine entscheidende Wendung nahmen. 2017 entschied sich das Olympische Komitee für die französische Hauptstadt als Austragungsort – und eine Mehrheit der französischen Wählerinnen und Wähler gab ihre Stimme dem jüngsten Präsidenten der Geschichte, Emmanuel Macron. Er hatte ihnen versprochen, das alte, verfahrene System zu reformieren, die Wirtschaft wettbewerbsfähiger zu machen und eine neue Art der Politik zu prägen: weder links noch rechts, pragmatisch statt ideologisch.
Macron steht vor den Trümmern seines politischen Projekts
Die Organisation der Olympischen Spiele in Paris war ein Kraftakt, der schätzungsweise 4,4 Milliarden Euro gekostet hat, aber dem Ruf und dem Selbstbewusstsein des Landes gutgetan hat. Emmanuel Macron jedoch steht heute, in der Mitte seiner zweiten Amtszeit, vor den Trümmern seines politischen Projekts. Und vor einem Schuldenberg, der mit 3,2 Billionen Euro so hoch ist wie noch nie. Frankreich ist damit plötzlich das grösste Sorgenkind Europas. Wie hat es so weit kommen können?
Seine Gegner zeigen nun alle mit dem Finger auf den Präsidenten. Doch so mächtig seine Position im französischen System ist, trifft Macron nicht die alleinige Schuld an der Misere. Drei Faktoren haben wesentlich zum Scheitern seines politischen Projekts beigetragen.
Erstens: Die starke Links-rechts-Prägung ist nicht verschwunden. Emmanuel Macron startete 2017 ein Experiment: Er versuchte, Frankreichs über Jahrzehnte festgefahrene Links-rechts-Logik zu brechen. Seit dem Zweiten Weltkrieg hatten sich Konservative und Sozialisten an der Macht abgewechselt. Die Bevölkerung zeigte Ermüdungserscheinungen, indem sie immer mehr die Parteien am linken und am rechten Rand wählte oder den Wahlen ganz fernblieb.
Macron schaffte eine Alternative, nach der sich das Wahlvolk offenbar sehnte. Seine neu gegründete Bewegung En marche erreichte auf Anhieb eine absolute Mehrheit im Parlament. Doch inzwischen ist klar, dass der Präsident und seine Mitstreiter nicht nachhaltig überzeugt haben.
Einerseits liegt das daran, dass En marche (heute Renaissance) nie eine eigene Dynamik entwickelt hat und immer die «Macron-Partei» geblieben ist. Personen, die versuchten, eigene Duftmarken zu setzen, verliessen die Bewegung nach einer Weile. Andererseits wurden auch Macron und seine Regierung weiterhin nach dem alten Rechts-links-Schema bewertet. Die öffentliche Meinung tendierte schliesslich zu der Meinung, Macron sei ein «Rechter». Vor allem ehemalige Wähler der Sozialisten kehrten ihm den Rücken.
In der vorgezogenen Neuwahl vom vergangenen Sommer gehörte Macrons Partei zu den Verlierern. Zugelegt haben stattdessen sowohl die extrem linke Bewegung von Jean-Luc Mélenchon als auch das rechtsnationale Rassemblement national von Marine Le Pen. Und diejenigen, die bei Macrons fulminantem Sieg vor sieben Jahren totgesagt wurden – Sozialisten und Konservative – sind noch immer da. Macron hat mit seinem Angebot versucht, Entwicklungen aufzuhalten oder zu korrigieren, über die nicht nur er, sondern auch viele Bürgerinnen und Bürger unzufrieden sind. Mit seiner Partei ist zwar ein neuer Player ins Spiel gekommen. Aber Macron hat den langfristigen Trend nur um ein paar Jahre verzögern können.
Zweitens: Aus der Krise findet Frankreich immer nur mit Geld. Die Staatsfinanzen waren schon in einem schlechten Zustand, als Emmanuel Macron das Amt von seinem sozialistischen Vorgänger übernommen hat. Frankreichs Staat gibt seit 1975 mehr aus, als er einnimmt, und seit der Finanzkrise 2008 ist die Schuldenquote auf über 100 Prozent der Wirtschaftsleistung gestiegen.
Frankreichs hohe Verschuldung ist ein strukturelles Problem. Die hohe Anspruchshaltung der Bürger an den Staat hat dazu beigetragen, dass die Schulden immer weiter stiegen. Wird es schwierig, muss der Staat die Bürger unter- und beschützen – Reformen bleiben dagegen meist weit hinter den Erwartungen zurück.
Auch konservative Regierungen haben dieser Logik nachgegeben. Unter Jacques Chirac stiegen die Schulden ebenso wie im Nachgang der Finanzkrise 2008 unter Nicolas Sarkozy. Bis Mitte der neunziger Jahre waren die Schuldenquoten Frankreichs und Deutschlands etwa gleich hoch – seither aber driften sie immer deutlicher auseinander.
Jacques Chirac musste in seiner ersten Amtszeit zwar mit ansehen, wie die sozialistische Regierung von Premierminister Lionel Jospin in einer sogenannten Cohabitation (Präsident und Regierung kommen nicht aus demselben politischen Lager) die wöchentliche Arbeitszeit auf 35 Stunden senkte. Kostenpunkt: rund 12 Milliarden Euro pro Jahr.
Als Chirac nach seiner Wiederwahl 2002 dann aber eine Parlamentsmehrheit hinter sich wusste und den linken Premierminister durch einen Konservativen ersetzte, entschied sich seine Regierung nicht etwa für die Abschaffung der 35-Stunden-Woche und einen Sparkurs. Chiracs Regierung hoffte, einen Weg aus der damaligen Wirtschaftskrise zu finden, indem sie Unternehmen rettete und Steuern senkte – und erneut mehr ausgab und weniger einnahm.
Macron war auch jemand, der nach seiner Wahl Reformen nicht nur ankündigte, sondern auch handelte. Und er war in den letzten Jahren mit einigen, bisweilen nicht nur rein französischen Krisen konfrontiert. Es zeichnete ihn aus, dass er gewisse Protestwellen, die nach Verabschiedung der Reformen ausbrachen, aussass: etwa als seine Regierung die Privilegien der Angestellten der staatlichen Bahngesellschaft SNCF kürzte oder das Rentenalter erhöhte. Er versuchte diese Taktik auch bei den Gelbwesten-Protesten anzuwenden, die ab Herbst 2018 das Land über Wochen im Griff hielten. Doch die Wut über die Erhöhung der Treibstoffsteuer und die Teuerung allgemein war derart weit verbreitet, dass Macron nach ein paar Wochen nicht anders weiterwusste, als ebenfalls das Portemonnaie zu öffnen.
Ein erster Block von Massnahmen – unter anderem die Erhöhung des Mindestlohns und die Steuerbefreiung von Jahresendprämien und Überstunden – kostete den Staat rund 10 Milliarden Euro. Auch die Erhöhung der Treibstoffsteuer wurde zurückgenommen. Die Proteste dauerten dennoch an. Einige Monate später kamen weitere Initiativen hinzu, die den Mittelstand dauerhaft entlasten sollten: die Senkung der Einkommenssteuer, mehr Geld für Alleinerziehende, eine höhere Mindestrente. Die Kosten wurden nie konkret beziffert, dürften sich aber über die Jahre ebenfalls in Milliarden rechnen.
Schwer ins Gewicht fielen auch die Massnahmen gegen die finanziellen Auswirkungen der Pandemie und die Kosten des Ukraine-Konflikts. Frankreichs Regierung federte beides mit im europäischen Vergleich grosszügigen Subventionen ab. Bis heute hält etwa der Staat die Strompreise künstlich tief. Die Regierung hat sich damit den sozialen Frieden erkauft – aber zu einem sehr hohen Preis. Erwähnt werden muss auch, dass Macron sein Versprechen, am Staatsapparat zu sparen, nicht eingelöst hat.
Drittens: Die Persönlichkeit des Präsidenten ist Teil des Problems. Ein Präsident der Reichen, ein «Jupiter» oder ein moderner Monarch, der sich gar nicht für die Bevölkerung interessiert: So reden die Menschen in Frankreich über ihren Präsidenten, dessen Popularitätswerte über die Jahre immer schlechter geworden sind.
Damit ist er im Vergleich mit seinen Vorgängern zwar keine Ausnahme. Aber Emmanuel Macron hat es nicht geschafft, den Französinnen und Franzosen das Gefühl zu geben, dass er wirklich anders ist als seine Vorgänger. Bis vor wenigen Monaten hat er zwar stets den Kontakt zur Bevölkerung gesucht, hat debattiert, gestritten, in ihre Kameras gelächelt. Aber manchmal wirkte er besserwisserisch, und am Ende tat er oft, was er allein für richtig befand. Oft deckte sich das nicht mit dem, was sein Umfeld oder die Öffentlichkeit erwartete. Das Disruptive ist Teil seines Politikstils.
An einer seiner letzten überraschenden Entscheidungen trägt Frankreich bis heute schwer: Macron hat nach der Wahl zum Europaparlament, bei der Marine Le Pens Rassemblement national triumphierte und seine Partei deutlich verlor, Neuwahlen angesetzt. Weder die Bevölkerung noch seine Wegbegleiter haben dies verstanden. Die vorgezogene Parlamentswahl hat nicht das ergeben, womit Macron sie rechtfertigte: Er hatte gesagt, die Wahl solle Klarheit bringen. Klar ist höchstens: Das Land ist gespalten, die Bevölkerung unzufrieden.
Inzwischen fordern seine politischen Gegner öffentlich seinen Rücktritt – und laut jüngsten Umfragen plädiert auch eine Mehrheit in der Bevölkerung dafür, dass Macron vor dem Ende seiner Amtszeit 2027 den Élysée-Palast verlässt.
Mit begleichen keine Rechnungen
Emmanuel Macron trägt eine Mitverantwortung an der gegenwärtigen Krise. Aber die Voraussetzungen dafür waren bereits gegeben. Die Gräben in der französischen Gesellschaft haben sich derart vertieft, dass das politische System, so wie es in den vergangenen 55 Jahren funktioniert hat, an seine Grenzen gerät. Wie auch in anderen europäischen Ländern bringen Wahlen keine eindeutigen Mehrheiten mehr hervor. Koalitionen könnten helfen, aber damit hat man in Frankreich bisher keine Erfahrung. Seit Jahren stellen Politologen und Soziologen zudem fest, dass sich die Französinnen und Franzosen mehr politische Mitsprache wünschen. Die Regierungen kamen und gingen, und es passierte wenig bis nichts. Macron ist keine Ausnahme.
Und so klagen die Französinnen und Franzosen weiter über die hohe Steuerlast, die grassierende Unsicherheit in manchen Quartieren, die Mühe, ihre Rechnungen zu bezahlen, und über das «widerliche» Spektakel, das die Abgeordneten in den vergangenen Monaten in der Nationalversammlung geboten haben.
Die Hoffnungen in Emmanuel Macron waren nicht nur gross, weil Emmanuel Macron viel versprochen hatte. Sein Erfolg vor bald acht Jahren war auch Ausdruck einer Mehrheit der Wählerinnen und Wähler nach einem grundlegenden Wandel. Sie warten bis heute.
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