Dienstag, November 26

Weil Ferrari wieder konkurrenzfähig ist, wurde die Formel-1-Saison doch noch spannend. Nun kann die Scuderia erstmals seit 2008 den WM-Titel der Konstrukteure gewinnen.

Allein dem Überschwang des Sieges im Grand Prix von Mexiko konnte die Ankündigung von Carlos Sainz nicht geschuldet sein. Der spanische Rennfahrer, der die Scuderia Ferrari nach dem Saisonende verlassen muss und zu Williams wechselt, sagte, er wolle sich mit einem Weltmeistertitel in der Formel 1 aus Italien verabschieden.

Das mochte egoistisch wirken, aber es war durchaus mannschaftsdienlich gemeint und ist keinesfalls übertrieben: Vor den letzten vier Rennen dieser doch noch spannend gewordenen Saison hat Ferrari das Red-Bull-Team in der Konstrukteurswertung überholt und liegt nun nur noch 29 Zähler hinter dem WM-Leader McLaren. Die Briten gelten gemeinhin als die grosse Überraschung des Rennjahres. Doch der Aufschwung von Ferrari ist nicht minder beachtlich. Sainz sagte in Mexiko-Stadt: «Wir dürfen uns jetzt erlauben, vom Konstrukteurstitel zu träumen.»

Seit 2008 wartet Ferrari auf den WM-Titel in der Konstrukteurswertung

Was wäre das für eine Erlösung. Seit 2008 fährt Ferrari diesem Traum hinterher, mit den 16 vorangegangenen Titeln als erdrückender Last. Das italienische Formel-1-Team hat sich zunächst von Red Bull Racing demütigen lassen müssen, dann von Mercedes und zuletzt erneut von Red Bull.

Auf diesem Leidensweg für die vielen Ferraristi wurden Weltmeister wie Fernando Alonso und Sebastian Vettel verschlissen. Und es schien bereits, als ob sich auch der Rekordweltmeister Lewis Hamilton in diese lange Reihe unerfüllter Hoffnungen einreihen würde. Er hatte vor dem Saisonbeginn seinen Wechsel nach Maranello im Jahr 2025 angekündigt. Noch im Sommer musste sich der Brite die Frage gefallen lassen, ob er nicht aufs falsche Pferd setze. Die Antwort blieb der bald 40-Jährige schuldig.

Zu diesem Zeitpunkt waren die Silberpfeile im Aufschwung, während Ferrari trotz einem krönenden Sieg von Leclerc in Monte Carlo merkwürdig unbeständig blieb. Seit den letzten zwei Rennen in den USA und Mexiko sind die höheren Ambitionen Ferraris nun aber nicht mehr zu übersehen – weder auf der Strecke noch in der Punktetabelle. In Austin, Texas feierten Charles Leclerc und Sainz einen Doppelerfolg, am vergangenen Sonntag vermochte sich nur Lando Norris zwischen Sainz und Leclerc zu schieben. Die zwei Ferrari-Fahrer sind häufig kritisiert worden, aber sie erweisen sich als ein erfahrenes, zuverlässiges Duo.

So ist das Lächeln von Frédéric Vasseur, der im Dezember 2022 vom Sauber-Rennstall zu Ferrari gewechselt war, vor dem Grand Prix von Brasilien am Wochenende breiter geworden. Zumindest dann, wenn er sich unbeobachtet fühlt. Der Franzose, der in Hinwil konsequent den Neuaufbau nach dem finanziellen Exitus eingeleitet hatte, danach aber die sportliche Stagnation nicht aufzuhalten vermochte, erschien als riskante Wahl.

Doch das Netzwerk des 56-Jährigen im Motorsport, sein Wissen und die beharrliche Art waren nach Jahren interner Verwerfungen bei den Italienern genau das, was Ferrari so dringend gebraucht hat. Überdies ist Vasseur ein gewiefter Politiker, nach innen wie nach aussen. Dass sein Vorgänger Mattia Binotto, der am riesigen Druck gescheitert ist, nun bei Audi/Sauber anheuert, ist eine Ironie des Schicksals.

Bei Ferrari traf Vasseur wieder auf seinen Zögling Leclerc

Ähnlich wie die Tatsache, dass Vasseur in Maranello wieder auf seinen Zögling Charles Leclerc traf, dessen Talent so unübersehbar war, dass der Monegasse nach seiner erfolgreichen Debütsaison 2018 mit dem Ferrari-Kundenteam Sauber sofort in die Scuderia befördert wurde. Seither hat er acht Rennen gewonnen, 2022 wurde er WM-Zweiter.

Doch gemessen an den hohen Erwartungen blieb der ganz grosse Erfolg aus. Bis heute leistet sich der 27 Jahre alte Fahrer in entscheidenden Momenten ab und zu Patzer; häufiger aber lagen die Fehler beim Material oder bei der Taktik. Ferrari war lange ein Kosmos, der sich um sich selbst drehte, angetrieben von einem gefährlichen Gemisch aus viel Geld, einem überbordenden Selbstverständnis und schwer zu durchschauenden Rivalitäten.

Das so ruhmreiche Team zu erden – dafür war der Realist Vasseur genau der Richtige. Über anderthalb Jahre hinweg hat er mit seiner ruhigen, aber bestimmten Art die «Gestione Sportiva» umgebaut. Mehrmals schien er an der Herkulesaufgabe zu scheitern, doch als von aussen gekommener Chef nutzte er die Möglichkeit, alte Seilschaften zu kappen und die Führungsspitze nach seinem Gusto umzubauen.

Sein konsequenter Teamgedanke wird jetzt belohnt. Die grossen Hoffnungen quittiert er gewohnt uneitel: «Solange wir weiter unter dem Radar bleiben, können wir uns voll und ganz auf das konzentrieren, was wir tun. Das ist die perfekte Situation für uns.» Ferrari findet als Underdog zurück zum Erfolg? Wer hätte das gedacht.

Der rote Ferrari ist genau zum richtigen Zeitpunkt schneller geworden, auf manchen Pisten dem McLaren-Wagen ebenbürtig und dem Red-Bull-Honda voraus. Und immer für eine Überraschung gut. Ein neuer Windkanal und ein darin entwickelter revolutionärer Fahrzeugunterboden erwiesen sich als richtungsweisend. Das Auto liegt jetzt entscheidend besser, kann aggressiver gefahren werden.

Und so hat Charles Leclerc trotz 71 Punkten Rückstand auf den WM-Leader Max Verstappen nun sogar eine theoretische Chance auf den Weltmeistertitel, falls das Duell zwischen dem Niederländer und Lando Norris ausartet. Der Erfolg führt bei Ferrari zu einem ganz neuen Gemeinschaftsgefühl, plötzlich scheint wieder vieles möglich zu sein. «Wir haben uns gegenseitig angestachelt», verriet Sainz.

Werden Hamilton und Leclerc zusammen harmonieren?

Die fruchtbaren Diskussionen zwischen den Fahrern und dem Kommandostand zeugen von der umfassenden strategischen Kompetenz des Teamchefs. Vasseur befindet sich damit ganz in der Tradition seines Landsmannes Jean Todt, dem Architekten des erfolgreichsten Ferrari-Teams zur Jahrtausendwende.

Folgerichtig ist denn auch der spektakuläre Wechsel von Lewis Hamilton, der mit 40 Jahren bei Ferrari einen Neuanfang wagt und seine Winner-Mentalität einbringen soll. Ein ähnlich sensationeller Transfer platzte in den vergangenen Monaten allerdings. Zu gern hätte Vasseur den genialen Konstrukteur Adrian Newey verpflichtet, doch der erlag den Verlockungen von Aston Martin und wollte lieber in Grossbritannien bleiben.

Stattdessen ist nun einstweilen die Mannschaft der Star, zumindest so lange, bis Hamilton bei Ferrari ankommt. Denn allen Beteiligten ist klar, dass Hamilton und Leclerc nächste Saison schon bald um die Vorherrschaft im Team kämpfen werden. Es liegt an Vasseur, die neue Harmonie bei Ferrari zu erhalten.

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