Dienstag, Oktober 22

In Europa geht die irreguläre Migration seit Wochen zurück. Der Bund kann deshalb neun temporäre Asylzentren schliessen und spart Millionen. Die Kantone sprechen jedoch weiterhin von einer angespannten Lage.

Erst wenige Monate ist es her, seit sich die Hiobsbotschaften aus dem Asylbereich jagten: Weil die Gesuchszahlen das Niveau der Jahre 2015 und 2016 erreichten – die Ukraine-Flüchtlinge nicht eingerechnet–, waren Bund, Kantone und Gemeinden quasi permanent am Anschlag. Verzweifelt wurden im ganzen Land Unterkünfte gesucht. Kaum war ein Engpass beseitigt, war schon der nächste in Sicht.

Die Kantone Aargau und Luzern riefen sogar die Asyl-Notlage aus, um flexibler Unterbringungsplätze zu schaffen. Der Bund sorgte zusätzlich für Druck: Weil seine Infrastruktur ebenfalls überlastet war, verteilte das Staatssekretariat für Migration (SEM) Asylsuchende auf die Kantone, bevor die Verfahren in den Bundesasylzentren abgeschlossen waren. Entspannung schien nicht in Sicht: Anfang Jahr prognostizierte der Bund für das laufende Jahr Asylzahlen wie 2023 und schloss auch einen Anstieg nicht aus.

Doch jetzt verkündet das SEM, es schliesse per Ende Januar 2025 neun temporäre Bundesasylzentren (BAZ), die in den letzten drei Jahren in aller Eile in Betrieb genommen werden mussten. Betroffen sind gut 1700 Unterbringungsplätze in der ganzen Schweiz. Darunter befindet sich auch die Kaserne in Bure mit insgesamt 580 Plätzen, wie das SEM in einer Medienmitteilung schreibt. Im Kanton Zürich ist die Mehrzweckhalle in Dübendorf mit 200 Plätzen betroffen. Im kommenden Jahr stehen dem Bund damit noch 7000 Plätze zur Verfügung, 3500 weniger als auf dem Höhepunkt der Krise.

1600 Gesuche weniger als im Vorjahr

In der Folge werden weniger Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter für die Betreuung und Sicherheit benötigt, die bei vom Bund beauftragten Firmen arbeiten. Betroffen sind 200 Personen. Derzeit prüft das SEM, wie viele von ihnen an anderen Standorten weiterbeschäftigt oder für andere Aufgaben eingesetzt werden können. Dank der Schliessung der Zentren hat der Bund weniger Kosten. Er schätzt, dass ein zweistelliger Millionenbetrag eingespart wird.

Schon am Wochenende war bekannt geworden, dass das SEM das Betreuungspersonal für unbegleitete minderjährige Asylsuchende (UMA) reduziert. Auf nationaler Ebene würden 120 Vollzeitstellen abgebaut, berichtete die Neuenburger Zeitung «Arcinfo».

Grund für den Rückbau bei der Infrastruktur sind rückläufige Asylzahlen. In den ersten neun Monaten sind in der Schweiz 20 962 Asylgesuche eingereicht worden. Das sind zwar nur knapp 400 weniger als in derselben Periode des Vorjahres. Interessant sind aber die Zahlen der letzten beiden Monate. Im August wurden knapp 800 Gesuche weniger eingereicht als im selben Monat des Vorjahres. Im September gab es rund 1600 Gesuche weniger.

Im Juli lag diese Zahl dagegen noch leicht höher als 2023. Eingerechnet sind dabei die Erst- und die Sekundärgesuche, also auch jene Anträge, die als Folge eines anderen Gesuches – etwa bei einer Geburt oder einem Familiennachzug – eingereicht werden. Aber auch bei den Primärgesuchen ist die Zahl seit Spätsommer im Vergleich zu 2023 deutlich rückläufig. Die Auslastung der BAZ beträgt deshalb laut SEM zurzeit etwa 51 Prozent.

Auch Frontex beobachtet Rückgang

Die Situation auf den Migrationsrouten in Richtung Westeuropa deute nicht auf einen sprunghaften Anstieg in den nächsten Monaten hin, so das SEM. Die irreguläre Migration nach Europa sowie die Weiterwanderung in andere Länder falle in diesem Herbst geringer aus als in den Vorjahren, ergänzt eine Sprecherin auf Anfrage. Bei den UMA fielen die Schwankungen besonders stark aus. Seit September ist die Zahl der UMA in den BAZ von 1500 auf 600 gesunken.

Dieselbe Entwicklung wird in einem grossen Teil Europas beobachtet. So meldete die Grenzschutzagentur Frontex vergangene Woche für die ersten neun Monate des Jahres einen Rückgang der irregulären Grenzübertritte in die EU um 42 Prozent gegenüber dem Vorjahr. Betroffen sind sowohl die Mittelmeer- (minus 64 Prozent) als auch die Balkanroute (minus 79 Prozent), über die auch ein grosser Teil der Asylsuchenden in die Schweiz kommt. Einer der Gründe dürfte die restriktive Asylpolitik Italiens sein.

Trotz dieser Entwicklung ist das SEM nicht euphorisch. Man gehe für 2024 nach wie vor vom selben Szenario aus wie Anfang Jahr, erklärt das Staatssekretariat gegenüber der NZZ. Damals kalkulierte es mit 27 000 bis 33 000 Gesuchen. Zudem rechnet es mit 15 000 bis 20 000 Anträgen von Flüchtenden aus der Ukraine auf Schutzstatus S.

Aargau hält Notlage aufrecht

So deutlich der Rückgang auf den ersten Blick erscheint: Bei den Kantonen und Gemeinden führt er vorerst kaum zu einer Entlastung. Denn anders als der Bund nähmen die Kantone Personen aus dem Asylbereich langfristig auf und könnten diese «nicht eine Ebene weitergeben». Das erklärt Gaby Szöllösy auf Anfrage, Generalsekretärin der Konferenz der kantonalen Sozialdirektorinnen und Sozialdirektoren (SODK). Die Lage bleibe deshalb «angespannt».

Ein Rückgang bei den Asylzahlen bedeute nicht, dass sich deshalb weniger Asylsuchende im Kanton befänden, erklärt auch Pia Maria Brugger, Leiterin Sozialdienst im Kanton Aargau. Per Stichtag 14. Oktober seien die Männerunterkünfte noch immer übervoll. Die Familienunterkünfte seien zu 93 und die UMA-Unterkünfte zu 80 Prozent ausgelastet. Freie Plätze bestünden fast nur in den acht unterirdischen Unterkünften.

In Luzern klingt es ähnlich: Um den Platzbedarf auch künftig abdecken zu können, arbeite der Kanton mit Hochdruck daran, weitere Unterbringungsmöglichkeiten zu schaffen, erklärt Gesundheits- und Sozialdirektorin Michaela Tschuor auf Anfrage. Und die Suche nach Wohnungen für jene Personen, die nicht mehr in Zentren untergebracht werden sollen, werde durch den ausgetrockneten Wohnungsmarkt «massiv erschwert».

Die tieferen Zuweisungen der letzten Wochen würden nur langsam für etwas Entspannung im Erstaufnahmezentrum des Kantons Aargau sorgen, erklärt Brugger. Weil die Kapazitäten nach wie vor knapp sind, behalten die Kantone Aargau und Luzern die Notlage im Asylbereich aufrecht. Noch immer müssen laut Brugger acht temporäre unterirdische Notunterkünfte betrieben werden, um alle Geflüchteten unterzubringen.

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