Freitag, Oktober 18

Die Tonhalle Zürich erprobt ein unkonventionelles Konzertmodell, um jüngeres Publikum zu gewinnen. Dafür greift der Musikdirektor selbst zum Mikrofon und spricht über sein Verhältnis zur Musik. Die Aufführung von Mahlers Fünfter scheint das Format zu beflügeln.

Es kann so nicht weitergehen. Das wissen alle in der Musikwelt. Und es wird auch nicht einfach immer so weitergehen. Denn anders als die Werke von Genies wie Mozart oder Beethoven sind wir normalsterblichen Konzertbesucher leider genau das: sterblich. Angesichts des gehobenen und teilweise weiter steigenden Altersdurchschnitts, der bei den Besucherschichten in vielen Opern- und Konzerthäusern zu beobachten ist, wird dem klassischen Musikbetrieb deshalb schon seit Jahrzehnten der Untergang prophezeit.

Zwar sind die Prophezeiungen noch immer widerlegt worden, und das Geunke vom baldigen «Aussterben» des Publikums – als handelte es sich dabei um eine besonders exotische Unterart der Dinosaurier – ist längst selbst zu einem Klischee mit sehr langem grauem Bart erstarrt. Dennoch dürfte allen Veranstaltern klar sein, dass sie sich nicht in Sicherheit wiegen können: Der Verlust von Teilen des Publikums ist seit der Corona-Krise kein theoretisches Horrorszenario mehr, sondern Fakt. Die Kulturbetriebe spüren ihn, viele haben bis heute noch nicht wieder die Auslastungszahlen von 2019 erreicht. Die Überalterung ist dabei freilich nur ein Aspekt des Problems.

Digitale Konkurrenz

Wer als Musikveranstalter jüngere Generationen gewinnen will – und dies will ausnahmslos jeder –, muss sich mit einer unbequemen Tatsache auseinandersetzen: In kuratierten Streaming-Portalen wie Idagio, Qobuz oder Apple Music Classical ist dem Konzerterlebnis eine Konkurrenz erwachsen, die man nicht mehr bloss mit dem Hinweis abtun kann, dass jede Live-Darbietung der Wiedergabe einer digitalen Konserve himmelweit überlegen sei. Das ist sie zwar, wie uns nicht zuletzt der kalte Entzug während der Lockdown-Phasen gelehrt hat; doch neben der ständigen und leichten Verfügbarkeit haben Streaming-Dienste auch noch die Breite des Angebots und die im Vergleich zum Kauf einer Konzertkarte meist geringeren Kosten als Argument auf ihrer Seite.

Dass diese Konkurrenz die Veranstalter nervös macht, wird kaum einer offen zugeben. Die Tonhalle-Gesellschaft Zürich erprobt allerdings seit dem Herbst ein Konzertmodell, das sich wie eine Kampfansage an die digitale Konkurrenz ausnimmt. «Crush» nennt sich das Programm, und zerkleinert wird da zunächst einmal der Ticketpreis: 20 Franken für alle unter dreissig, 55 Franken Einheitspreis für alle anderen. Bei der Wiederholung des um ein Werk erweiterten Programms im Rahmen der regulären Abonnementskonzerte geht es hinauf bis 170 Franken. Bis hierhin wirkt das wie eine zugespitzte Spielart des vielerorts gängigen Volksbühnen-Modells, etwa der in Zürich überaus beliebten «Amag-Volksvorstellungen» am Opernhaus.

Allerdings geht es der Tonhalle nicht allein um das soziale Argument. Sie will auch die für Neulinge nicht immer leicht zu durchschauenden Gepflogenheiten des herkömmlichen Konzertbetriebs aufbrechen. Also gibt es bei «Crush» nur ein Werk im Hauptteil und danach einen lockeren Ausklang mit leichterer Muse im Foyer, zudem wird das Konzert moderiert, und der Dirigent hebt nicht bloss stumm den Stab zum Einsatz, sondern führt selbst in das gespielte Stück ein. Auch dieses Modell wird schon länger an Konzerthäusern erprobt – in Zürich funktioniert das Gesamtpaket nun offensichtlich prächtig.

Die Tonhalle ist bis auf wenige Plätze besetzt, die Quote der Besucher unter dreissig dürfte jeden Veranstalter neidisch machen. Hier zahlt sich vermutlich aus, dass die Tonhalle ihre Bemühungen um das Nachwuchspublikum schon seit einiger Zeit verstärkt ins Hauptprogramm nimmt, sie also als vollgültige Veranstaltungen anbietet, anstatt sich mit – ebenso verdienstvollen, aber leicht peripher wirkenden – Education-Projekten zu begnügen. Welche Bedeutung der Sache zugemessen wird, erkannt man nicht zuletzt daran, dass «Crush» uneingeschränkt Chefsache ist.

Von Bernstein beflügelt

So skizziert Zürichs Musikdirektor Paavo Järvi zunächst im charmanten Gespräch mit der Moderatorin Sara Taubman-Hildebrand sein Verhältnis zum gespielten Werk, zu Gustav Mahlers 5. Sinfonie. Das stellt nicht nur einen Mehrwert gegenüber jeder CD- oder Streaming-Wiedergabe dar – es lockert auch die Atmosphäre und zerstreut etwaige Berührungsängste. Eigentlich ist Mahlers Fünfte nämlich das glatte Gegenteil eines leicht zu erfassenden Einsteigerstücks – trotz ihrer Popularität wegen des Adagiettos. Doch auf diesen von Luchino Visconti zweckentfremdeten Satz muss man fast fünfzig Minuten warten, und bis dahin geht es in der Musik durch manche Höhen und Tiefen.

Wenn Järvi nun aber vorab – und mit unerwarteten Entertainer-Qualitäten – von seinem eigenen Weg zu Mahler und von seinen prägenden Begegnungen mit Leonard Bernstein berichtet, ist das Eis sofort gebrochen. Es macht nämlich klar, dass selbst Dirigenten dieses Niveaus immer noch und mit jedem Dirigat aufs Neue um ein Verständnis der Musik ringen müssen. Die Vorstellung, man müsse bloss eine «ultimative» Einspielung aus irgendeiner Datenbank abrufen, um ein solches Stück zu kennen, wird hier aus berufenem Mund als Illusion entlarvt.

Im Anschluss gibt Järvi auch noch einige Hör-Hinweise – dieser wichtige Einführungsteil gerät jedoch leider zu kurz; er sollte künftig deutlich ausgebaut werden. Schliesslich hat etwa Gerd Albrecht, ein Vorgänger Järvis in Zürich, schon während der frühen 1980er Jahre mit wegweisenden Einführungsformaten unter Beweis gestellt, dass nichts Menschen so unmittelbar in Musik hineinziehen kann wie live als Klangbeispiele präsentierte und erläuterte Schlüsselstellen.

Hier folgt stattdessen gleich die Wiedergabe der gesamten Sinfonie. Sie ist zugleich der Auftakt zu einem neuen Mahler-Zyklus, der das programmatische Herzstück der zweiten fünfjährigen Amtszeit von Järvi beim Tonhalle-Orchester werden soll. Die Aufführung selbst klingt für Järvis Verhältnisse ungewöhnlich frei und emotional – vielleicht hat ihn ja die Erinnerung an Bernstein beflügelt. Der grosse Mahler-Emphatiker hat hörbar auch manche Einzelheit und den stellenweise geradezu flamboyanten Ton der Interpretation inspiriert.

Diese brennende Intensität und die Lust am Ausdruck sind neu bei Järvi, der hier so impulsiv und persönlich involviert wirkt, wie man es bislang von diesem beherrschten Rationalisten am Pult kaum kannte. Der Ton für den neuen Mahler-Zyklus ist damit gesetzt – es könnte eine aufregende Reise werden. Das «Crush»-Publikum war schon jetzt ganz aus dem Häuschen.

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