Montag, August 25

Schlüpft der Demenzkranke verkehrt in die Jacke? Verlässt er das WC, ohne zu spülen? Alltägliche Beobachtungen bei Alzheimer sind oft aussagekräftiger und hilfreicher für die Betroffenen und ihre Angehörigen als kognitive Tests oder Röntgenbilder des Gehirns.

Der Toilettengang gehört zu meinen übelsten Kindheitserinnerungen. Jedes Mal, wenn ich das Spülen unterliess, stürmte mein Vater – Professor der organischen Chemie – zornig in unser Kinderzimmer oder nach draussen auf den Spielplatz. Er zerrte mich an den Haaren vor die Toilettenschüssel, damit ich endlich lernen würde, die Kette des Spülkastens zu ziehen.

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Das Geräusch des hinunterstürzenden Wassers bedeutete zwar eine Erlösung aus seinem schmerzhaften Griff, aber die Scham für etwas, wofür ich nichts konnte, blieb. Ich hatte nämlich, wie er wohl glaubte, das Spülen keineswegs vergessen und versäumte, wie er wohl argwöhnte, das Spülen auch nicht, um ihn zu ärgern. Das Spülen gehörte einfach noch nicht zu meinen Fähigkeiten.

Erst viele Jahre später, als ich als Arzt in der Demenzsprechstunde von Angehörigen hörte, dass das Nichtspülen der Exkremente ihrer Alzheimerbetroffenen sie rasend mache und alles Schimpfen fruchtlos bleibe, begriff ich etwas über die «ATLs», die Aktivitäten des täglichen Lebens, bei Demenz.

Die ATLs sind automatisierte Tätigkeiten zur Erfüllung der menschlichen Grundbedürfnisse. Dazu gehören neben der Ausscheidung die Körperhygiene, das An- und Auskleiden, das Aufstehen von Bett und Stuhl, das Gehen und natürlich auch das Essen und Trinken. Es sind Handlungen, über die wir nicht nachdenken, während wir sie ausführen, beispielsweise, uns unter der Dusche einzuseifen und nach der Reinigung den Seifenschaum abzuspülen.

Die Täuschung des Umfelds

Wolfgang Blankenburg, ein bedeutender Vertreter der phänomenologischen Psychiatrie, spricht von der natürlichen Selbstverständlichkeit bei solchen alltäglichen Handlungen. Erst bei Entzug der natürlichen Selbstverständlichkeit, wie es bei der Alzheimerkrankheit passiert, müssen Betroffene darüber nachdenken, was sie tun. Dann kann es plötzlich zum Problem werden, ob man zuerst mit dem Kopf durch die obere Öffnung eines Pullovers schlüpft oder zuerst mit den Armen in die Ärmel des Pullovers.

Bei der Alzheimerkrankheit spielen die Aktivitäten des täglichen Lebens eine entscheidende Rolle, ob und wie lange jemand noch zu Hause leben kann und wie viel Unterstützung er benötigt. Und zwar auch dann, wenn die Person selbstbestimmt und eloquent eine solche Unterstützung ablehnt. Ein Professor vermag durch seine geistigen Fähigkeiten, sein Wissen und sein sprachliches Ausdrucksvermögen seine Umgebung eine Zeitlang zu täuschen. Der Alltag aber lügt nicht. Unweigerlich verliert auch dieser Patient stufenweise seine Fähigkeiten und weiss etwa nicht mehr, dass man nicht in Finken hinausgeht, wenn es regnet.

Später wird er darin unsicher, bei Stuhl- oder Harndrang rechtzeitig die Toilette aufzusuchen, sich die Hosen aufzuknöpfen und hinunter zu streifen, sein Geschäft zu verrichten, sich zu reinigen und wieder anzukleiden und hinterher zu spülen. Man muss die feinen Zwischenstufen des Nicht-mehr-Gelingens einer alltäglichen Handlung so ausführlich festhalten, um das sonst unmerkliche Voranschreiten der Krankheit zu verstehen.

Rückentwicklung zum Kind

Der bei allen Menschen gleich ablaufende Verlust von Alltagskompetenz bei der Alzheimerkrankheit ist ein Rätsel. Von einer neurodegenerativen Krankheit würde man erwarten, dass sie bei der einen Person zuerst die eine Fähigkeit beeinträchtigt, bei einer anderen Person dagegen eine andere.

Der New Yorker Psychiater Barry Reisberg deutete den stufenweisen Verlust als Umkehr des kindlichen Entwicklungsalters und bezeichnete den Vorgang als Retrogenesis: Fähigkeiten und Funktionen, die im Laufe des Lebens erworben wurden, gehen bei Demenzkranken in umgekehrter Reihenfolge wieder verloren.

Wenn das Umfeld die Stufen nicht kennt, die Reisberg genau beschrieben hat, hat das für die Betroffenen schwerwiegende Folgen. Dies äussert sich in Unruhe, gereizter Stimmung, Beschimpfungen der Angehörigen und der Spitex-Pflegenden und sogar wahnhaften Gedanken.

Auch bei diesen psychischen Symptomen, die in den Pflegeheimen sehr häufig mit beruhigenden Medikamenten behandelt werden, schlägt Reisberg den Bogen zur Kindheit. «Demenzkranke Patienten», schrieb er 1998, «welche nicht länger für sich sorgen können, benötigen im Alltag Sicherheit und Bestätigung genauso, wie Kinder bei ihrer Entwicklung Sicherheit und Bestätigung brauchen. Fehlt diese Sicherheit, reagieren Kinder und Demenzkranke gleichermassen mit Aggressivität und mit wahnhaft-halluzinatorischem Erleben.»

Vertrauen in die Unselbständigkeit

Der 2020 verstorbene Zürcher Kinderarzt Remo Largo hat festgestellt, dass Kinder durch eine kontinuierliche Zunahme ihrer Selbstgewissheit befähigt werden, eigeninitiativ Alltagshandlungen auszuführen. Die Eltern würden ihr Kind auf dem Weg zur Beherrschung von Darm und Blase dann am wirksamsten unterstützen, wenn sie ihm Vertrauen in die neue Selbständigkeit signalisierten. Gleichzeitig bieten sie ihm Vereinfachungen an wie zum Beispiel Hosen mit elastischem Bund, wenn es pressiert, eine gemütliche Ausstattung der Toilette mit Bilderbüchern oder einen Schemel für die Füsse. Eventuell lassen sie die WC-Türe offen stehen, falls das Kind nach ihnen ruft.

Mein Toilettengang wäre also auch ohne zornigen Vater geglückt, hätte er meine Exkremente einfach hinuntergespült. Diese Lösung wäre für uns beide weit angenehmer gewesen, doch sie hätte Vertrauen vorausgesetzt, das er nicht in mich hatte.

Der umgekehrte Weg ist für die Alzheimerkranken und ihre Angehörigen natürlich schwerer zu ertragen als die Freude bereitende Entwicklung eines Kindes. Die wirksamste Unterstützung der Betroffenen besteht aber in den genau gleichen Massnahmen wie beim Kind, bloss in die umgekehrte Richtung. Es geht darum, das Vertrauen in die Selbständigkeit durch ein Vertrauen in die Unselbständigkeit zu ersetzen. Mit gegenseitigem Vertrauen kann dann eine bis anhin selbständige Handlung wie etwa das Zähneputzen von den Angehörigen oder den Pflegenden übernommen werden.

Je vertrauensvoller und selbstverständlicher dies geschieht, je mehr darauf verzichtet wird, anzukündigen, zu erklären, anzuleiten, zu trainieren und angestrengt Ressourcen erhalten zu wollen, desto eher wird die Hilfe von den Alzheimerkranken akzeptiert.

Der vertraute Klang von Kosenamen

Ab einer bestimmten Stufe der Alzheimerkrankheit kann es helfen, die Betroffenen mit ihrem Vornamen oder Kosenamen anzusprechen, was immer wieder zu überflüssigen pseudoethischen Kontroversen mit Vorgesetzten in den Pflegeheimen führt. Auch eine Tagesstruktur mit Aktivitäten, die den Betroffenen Freude bereiten, hat Sinn. Denn diese können von sich aus nichts mehr unternehmen und sitzen verloren in den Gängen der Pflegeheime oder gehen unruhig in der eigenen Wohnung herum.

Auch der Umgang mit dem Besteck beim Essen lässt sich vereinfachen, dazu serviert man Speisen, welche die Betroffenen als Kind gerne verzehrten. In fortgeschrittenen Stadien der Krankheit sind Lagerungen mit Kissen angenehm, da die motorischen Fähigkeiten denjenigen eines zwei- bis dreijährigen Kindes entsprechen, das schreit, wenn ihm unwohl ist beim Sitzen am Tisch.

«Ich zeige dir einen Trick»

Wie unerlässlich beim Umgang mit Demenzkranken Bestätigung, Vertrauen und Sicherheit sind, zeigt sich bei der Arbeit mit ihnen immer wieder. Einmal sass ein Heimbewohner bei der Visite mit erhobenen Armen auf einem Stuhl, um mit der Hilfe eines Pflegers in eine Jacke zu schlüpfen. Mit gebeugten, von Arthrose steifen Fingern hielt er die Manschetten seines Hemdes fest, um das Hochrutschen der Ärmel zu verhindern. «Das ist ein Trick», sagte er und lachte.

Eine Woche später sass der kleine Bub aus der Nachbarswohnung im Treppenhaus und zog sich selbst seine Jacke an. «Jetzt zeige ich dir einen Trick», sagte er und hielt mit seinen kleinen gebeugten Fingern die Ärmel seines Pullovers fest. In diesem Moment kam mir der Student in Tschechows gleichnamiger Erzählung «Der Student» in den Sinn: «Die Vergangenheit, so dachte er, ist mit der Gegenwart durch eine ununterbrochene Kette von Ereignissen verknüpft, von denen sich eins aus dem andern ergibt. Und es schien ihm, er habe soeben die beiden Enden dieser Kette gesehen.»

Die Alzheimerkrankheit bedeutet eine reale und im wörtlichen Sinn unerhörte Not in abertausend Wohnungen und Häusern des Landes. Selbst wenn die Diagnose dank kognitiven Tests, Bildgebung und Blutuntersuchungen und in mehrseitigen Berichten erfolgt, ist die Unterstützung danach oft mangelhaft, und die Betroffenen und ihre Familien werden sich selbst überlassen.

Während sich Zeitschriften und Zeitungen fast täglich darin überbieten, Erkenntnisse und Ratschläge zu vermitteln, wie man angeblich einer Demenz vorbeugen oder vor ihr davonlaufen könne, wird über jene geschwiegen, die sie bereits haben. Angehörige schrecken stets von neuem auf, wenn in kürzester Zeit eine weitere Alltagsfähigkeit ihrer Liebsten verlöscht. «Wenn ich das alles gewusst hätte, hätte ich vieles ganz anders gemacht», sagen sie später bitter. Im Gegensatz zur bis jetzt wirkungslosen medikamentösen Therapie der Alzheimerkrankheit wäre zumindest diese Not ein wenig zu lindern gewesen.

Christoph Held arbeitete 25 Jahre als Heimarzt und Alterspsychiater in den Pflegezentren der Stadt Zürich. In seinen Büchern schreibt er über das psychische Erleben von demenzkranken Menschen.

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