Der VW-Importeur konkurrenziert die Strombranche: Er hat ein System entwickelt, dank dem Autos von Firmenflotten günstiger laden – und im Notfall das Stromnetz stützen. Bald können Privatautos teilnehmen.
Die Anzahl Elektroautos auf den Schweizer Strassen wächst – letztes Jahr kamen 47 500 neue dazu. Gleichzeitig erhöht sich der Anteil erneuerbarer Energien wie Sonne und Wind. Das Problem: Diese sind wetterabhängig. An sonnigen Tagen wird oft mehr Strom produziert als verbraucht. Umgekehrt gibt es zu wenig Energie, wenn die Sonne kaum oder gar nicht scheint. Strom fliesst nicht mehr so beständig wie früher – und doch wollen ihn alle gleichzeitig haben.
«Viele Elektroautos werden heute aber genau dann geladen, wenn Strom knapp und teuer ist», sagt Martin Everts, Managing Director Energy & Mobility bei Amag. Etwa morgens, wenn Pendler ihre Autos anstecken und Fabriken gleichzeitig ihre Produktion starten. Oder abends, wenn Handwerker ihre Firmenwagen aufladen, während die Schweiz kocht und fernsieht.
Auto lernt Fahrer kennen
Amag will das ändern. Der VW-Importeur hat ein System entwickelt, das die Ladezeiten von Firmenwagen anpasst. Der Clou dabei: Eine neue Software greift direkt auf jedes einzelne Auto zu und steuert dessen Ladeverhalten. Dieser Vorgang heisst Smart Charging, intelligentes Laden.
Das neue System lerne mit künstlicher Intelligenz, wann ein Fahrer sein Auto üblicherweise benutze, erklärt Everts. Die Software dazu stammt von einem Spin-off des Dalle-Molle-Instituts für künstliche Intelligenz in Lugano. Die Analyse sei sehr detailliert, denn das Ladeverhalten jedes einzelnen Autos solle möglichst genau prognostiziert werden.
Das System lernt etwa, wann die Autos zu Hause oder am Arbeitsplatz üblicherweise eingesteckt werden. Und ob an diesen Ladepunkten ohne Einschränkungen nachgeladen werden kann oder ob ein sogenanntes Lastmanagement das Nachladen zu gewissen Zeiten einschränkt. Nicht berücksichtigt werden Ladevorgänge an öffentlichen Schnellladesäulen.
Dann legt das Programm den besten Ladezeitpunkt fest. «Autos, die erst abends wieder gebraucht werden, laden dann zum Beispiel nicht sofort am Morgen. Sondern erst ab 10 Uhr, wenn günstiger Solarstrom zur Verfügung steht», erklärt Everts.
Das bringt Firmen Vorteile: Sie können laut Amag bis zu 30 Prozent ihrer Stromkosten für das Aufladen sparen. Voraussichtlich gegen Ende Jahr will Amag das System auch für Privatkunden anbieten. Hintergrund sind neue Gesetze, die es den Elektrizitätsversorgern erlauben, ab 2026 zeitvariable Tarife für die Nutzung des Stromnetzes einzuführen. Für Verbraucher wird es damit günstiger, dann Strom zu beziehen, wenn sie das Netz nicht belasten. Das macht es für sie attraktiv, ihren Stromverbrauch zu optimieren. Dafür muss man kein Auto von Amag haben. Das System funktioniert laut Everts mit Wagen fast aller Marken.
Damit sich der ganze Aufwand allerdings auch für Amag lohnt, geht das Unternehmen noch einen Schritt weiter. Es bietet die von ihm betreuten Flotten am Strommarkt als sogenannte Regelenergie an. Regelenergie hält das Stromnetz sehr kurzfristig stabil. Sie muss innert Minuten oder gar Sekunden einspringen – wenn zum Beispiel ein grosses Kraftwerk überraschend stehen bleibt oder der Wind allen Prognosen zum Trotz nachlässt. Damit überbrückt sie die Zeit, bis trägere Alternativen einspringen können, zum Beispiel Europas Gaskraftwerke.
Ist nun auf einen Schlag zu wenig Strom im Netz, unterbricht das Smart-Charging-System von Amag das Laden der Elektroautos, um Strom zu sparen. Das System hilft auch aus, wenn plötzlich zu viel Energie da ist –etwa dann, wenn der Wind entgegen den Prognosen nicht nachlässt, sondern auffrischt. Dann startet das System Ladevorgänge, um den überschüssigen Strom aufzunehmen. Beides hilft, das Netz zu stabilisieren.
Die Autos lassen sich in dieser Zeit ganz gewöhnlich nutzen. Die Besitzer können einen minimalen Ladestand festlegen, zum Beispiel 60 oder 80 Prozent. Dieser wird immer erreicht – die Autos stehen also auch dann zur Verfügung, wenn sich die Pläne einmal kurzfristig ändern oder es einen Notfall gibt.
Notreserve wurde bereits abgerufen
Damit Amag ihre Stromreserve überhaupt anbieten kann, musste sie sich von Swissgrid zertifizieren lassen. Die Betreiberin des Schweizer Stromübertragungsnetzes zahlt Amag nun Geld dafür, dass sie mit den angeschlossenen Autos Regelenergie bereitstellt. Eine zusätzliche Entschädigung erhält Amag, wenn ihr System tatsächlich einspringt. Laut Everts wurde die Notfallreserve im letzten November erstmals genutzt – und es hat funktioniert.
Noch geht es beim Smart Charging von Amag um kleine Strommengen. Doch je mehr Elektroautos auf den Strassen unterwegs sind, desto grösser kann diese Batterie werden. Sind 2050 tatsächlich wie vom Bund prognostiziert vier Millionen Elektroautos auf unseren Strassen unterwegs, entspricht ihr Potenzial für kurzfristige Regelenergie dem Zweifachen des Pumpspeicherkraftwerks Linth-Limmern, wie Everts erklärt.
Was bleibt: Pumpspeicherwerke können ihre Leistung über längere Zeit erbringen als die Elektroautos. Denn diese stellen nur einen kleinen Teil ihrer Batterie zur Verfügung – und werden von ihren Besitzern irgendwann wieder gebraucht.
Auch der Bundesrat sieht Potenzial in der Technologie. Intelligentes Laden vermeide Lastspitzen und spare dadurch teure Investitionen in neue Leitungen oder Reservekraftwerke, heisst es in einem letzten Dezember publizierten Bericht. Solche Systeme könnten einen «entscheidenden Beitrag zur besseren Integration der Photovoltaikproduktion leisten», so der Bundesrat weiter.
Um ihr Smart Charging weiterzuentwickeln, übernimmt Amag nun von Swisscom deren Anteile am Unternehmen Autosense. Diese Firma vernetzt Fahrzeuge intelligent und überwacht sie aus der Ferne. So kann Amag künftig noch besser Ladestandorte bestimmen und den Zustand der Fahrzeuge und Batterien überprüfen.
Das neue Produkt von Amag hat bei vielen lokalen Stromversorgern für Aufsehen gesorgt. Das System greift direkt auf die Batterien der Elektroautos zu – ohne den Umweg über die von ihnen montierten Stromzähler oder Ladestationen. Viele von ihnen dürften sich ob der neuen Konkurrenz ärgern.