Samstag, Oktober 5

Französische Revolution, Stalinismus, Maos «Grosser Sprung nach vorn»: In Kambodscha wollte Pol Pot diese Vorbilder übertreffen. Dazu war ihm jedes Mittel recht.

Die Geschichte begann in einem grossen, rot gefliesten Holzhaus auf Stelzen mit Blick auf einen breiten, braunen Fluss, etwas unterhalb der kambodschanischen Stadt Kompong Thom. Im Fluss wimmelte es von Fischen, die Ufer waren von Kokos- und Mangobäumen gesäumt. Enten, Hühner und Schweine hüpften herum, pickten und wühlten im Staub. Hinter den Häusern am Ufer lagen grosse Reisfelder. Ein kleiner chinesischer Laden verkaufte das, was man im Alltag brauchte.

Es war die Hitze der Trockenzeit im Jahr des Ochsen, am 19. Mai 1925. Pol Pot wurde als Saloth Sar geboren, das jüngste Kind einer Familie mit einem Mädchen und sechs Jungen. Seine Eltern besassen neun Hektaren Ackerland, drei Hektaren Gartenland und sechs Büffel. Saloth senior erntete zusammen mit seinen beiden älteren Söhnen und den adoptierten Neffen genug Reis, um etwa zwanzig Menschen zu ernähren.

In späteren Jahren wäre die Familie als «Klassenfeind» betrachtet worden. Aber damals hätte kaum ein Dorfbewohner mit diesem Wort etwas anfangen können. Ob arm oder reich, die Menschen bestellten ihre Felder, fischten im Fluss, kochten Suppen, zogen Kinder auf, verehrten die örtlichen Geister und feierten in der Pagode die buddhistischen Feste. 1929 beschrieb ein französischer Kolonialbeamter die Menschen in Kompong Thom als «zutiefst kambodschanische Bevölkerung, die für unseren Einfluss kaum empfänglich ist».

Die Mitglieder der Familie Saloth waren Khmer-Bauern, aber sie waren anders als die anderen. Sie hatten königliche Verbindungen in die kambodschanische Hauptstadt Phnom Penh. Die Cousine von Pol Pot war als Palasttänzerin aufgewachsen und wurde eine der wichtigsten Ehefrauen von König Monivong. Im Alter von fünfzehn Jahren wurde auch Pol Pots ältere Schwester Saroeun zur königlichen Gemahlin auserkoren. 1928 begann der älteste Bruder, Loth Suong, eine Karriere als Offizier im königlichen Palast. Pol Pot, der sechs Jahre alt war, kam 1931 zu ihm nach Phnom Penh.

Revolutionär in Paris

Pol Pot war ein Junge vom Land. Aber er hatte noch nie auf einem Reisfeld gearbeitet und kannte das Dorfleben kaum. Auf ein Jahr im königlichen Kloster in Phnom Penh folgten sechs Jahre in einer katholischen Eliteschule. Seine Erziehung war streng. Ein Nachbarsmädchen erinnerte sich später daran, dass sein Bruder Loth Suong, bei dem Pol Pot damals lebte, «sehr ernst war und keine Glücksspiele oder Kinder in der Nähe seines Hauses spielen liess».

Die Palastanlage von Phnom Penh war abgeschlossen und nach althergebrachten Ritualen organisiert. Der greise König war eine Marionette der Franzosen. Ausserhalb des Palastes lebten in Phnom Penh 100 000 Menschen, vor allem chinesische Geschäftsleute und vietnamesische Arbeiter. Pol Pot erinnerte sich später: «Ich hasste vietnamesische Jugendliche von klein auf . . . weil die Vietnamesen unhöflich waren und beim Fussballspielen gegen mich und andere kambodschanische Kinder unfaire Tricks anwandten.»

Im Alter von vierzehn Jahren ging Pol Pot in Kompong Cham zur Highschool. Das turbulente Ende des Zweiten Weltkriegs in Phnom Penh verpasste er. 1945 zwangen nationalistische Jugendliche den neuen Jungkönig Norodom Sihanouk, kurzzeitig die Unabhängigkeit von Frankreich zu erklären, und buddhistische Mönche führten kambodschanische Nationalisten an, die mit vietnamesischen Kommunisten gemeinsame Sache machten. 1948, zurück in der Hauptstadt, wo er Tischler lernte, änderte sich das Leben von Pol Pot. Er erhielt ein Stipendium für ein Studium der Radioelektronik in Paris.

Die Jahre zwischen 1949 und 1953 verbrachte Pol Pot in Frankreich. Er schrieb seinem Bruder Suong gelegentlich und bat ihn um Geld. Doch eines Tages kam ein Brief aus Paris, in dem Pol Pot um die offizielle Biografie von Sihanouk bat. Suong schickte einen Rat zurück: Misch dich nicht in die Politik ein. Doch Pol Pot war bereits ein Revolutionär in der kambodschanischen Sektion der Kommunistischen Partei Frankreichs, die sich damals in ihrer stalinistischen Hochphase befand.

Lernen bei den Kommunisten

Weggefährten, die damals mit Pol Pot verkehrten, behaupten, dass er «kein Huhn hätte töten können». Er sei zurückhaltend und charmant gewesen. Seine Freundin war die acht Jahre ältere Khieu Ponnary, die erste Khmer-Frau, die in Paris das Baccalauréat erhielt. Für die Hochzeit, die es 1956 wieder in der Heimat feierte, wählte das Paar den Tag des Bastillesturms. Suong nahm damals nicht an der Feier teil und sah seinen Bruder nie wieder.

Die meisten von Pol Pots Pariser Studentenfreunden blieben in seinem Umkreis, auch als sie wieder in Kambodscha waren. Pol Pot stach allerdings hervor, auch durch den Namen, den er als Decknamen für seine politischen Tätigkeiten wählte: «Original Khmer» (khmaer da’em). Andere bevorzugten weniger rassistische, modernere Pseudonyme wie «Free Khmer» oder «Khmer Worker».

Pol Pots französisches Stipendium endete, nachdem er drei Jahre in Folge durch die Prüfungen gefallen war. Sein Schiff erreichte die Heimat im Januar 1953. Einen Tag vorher hatte König Sihanouk das Kriegsrecht verhängt, um die kambodschanische Unabhängigkeitsbewegung zu unterdrücken, die sich durch die französische Kolonialherrschaft radikalisiert hatte. Der engste Bruder von Pol Pot, Saloth Chhay, schloss sich den kambodschanischen und vietnamesischen Kommunisten an und nahm ihn mit.

Die Kommunisten zeigten ihm, wie man «mit den Massen an der Basis arbeitet, um die Unabhängigkeitskomitees auf Dorfebene aufzubauen, Mitglied für Mitglied». Pol Pot empfand das als Kränkung, genauso wie die Tatsache, dass er trotz seiner Auslandserfahrung nicht sofort in die Führungsriege der Partei aufstieg. Ein ehemaliger kambodschanischer Genosse behauptet, Pol Pot habe damals gesagt, «dass alles auf der Grundlage von Selbstvertrauen, Unabhängigkeit und Beherrschung getan werden sollte. Die Khmer sollten alles selbst machen.»

Aus Saloth wird Pol

Nach Ansicht von Pol Pot brauchte Kambodscha nichts von seinen Nachbarn zu lernen oder zu importieren. Es sollte seinen vorbuddhistischen Ruhm wiedererlangen, indem es die mächtige Wirtschaft des mittelalterlichen Königreichs Angkor wieder aufbaute und «verlorene Gebiete» in Vietnam und Thailand zurückeroberte.

Pol Pot schätzte die kambodschanische «Rasse» als Ganzes, nicht den einzelnen Menschen. Im Ausland ausgebildete Menschen – mit Ausnahme der Gruppe, in der er selbst verkehrte – galten für ihn als nationale Unreinheit, genauso wie die «Erbfeinde», insbesondere die Vietnamesen, einschliesslich der ethnischen vietnamesischen Minderheit Kambodschas und der muslimischen Minderheit der Cham.

Nach dem Rückzug der französischen Truppen aus Kambodscha 1954 stieg Pol Pot in der kommunistischen Bewegung auf. 1960 war er die Nummer drei in der Parteihierarchie. 1962 wurde der Parteiführer Tou Samouth, ein ehemaliger buddhistischer Mönch, auf mysteriöse Weise getötet. Pol Pot diskreditierte dessen Stellvertreter Nuon Chea, um selbst an die Spitze der Partei zu gelangen.

Pol Pot kritisierte auch linke Rivalen wie Hou Yuon, die Sihanouks neutrale Aussenpolitik unterstützten, und festigte so seine Position in der Partei während des achtjährigen Guerillakriegs, der 1967 begann. Zu dieser Zeit benutzte Saloth Sar zum ersten Mal den Decknamen «Pol». Ausserdem benannte er 1966 die Partei in Kommunistische Partei Kampucheas um. Sihanouk seinerseits nannte die Aufständischen «Khmers Rouges» oder «Rote Khmer».

Bomben aus den USA

Die Führung der Kommunistischen Partei, die einst aus dem ländlichen Raum stammte und buddhistisch, relativ gemässigt und provietnamesisch war, bestand nun aus Leuten städtischer Herkunft, die meist französisch gebildet, radikal und antivietnamesisch waren. Zwischen 1971 und 1975 befahl Pol Pot die Ermordung von tausend in Vietnam ausgebildeten kambodschanischen Kommunisten, die von Hanoi nach Kambodscha zurückgekehrt waren. Rund die Hälfte der Mitglieder des Zentralkomitees der Partei ereilte bis 1978 das gleiche Schicksal, obwohl das Gremium selten oder gar nie tagte.

Die Revolution der Roten Khmer ging von Kambodscha aus. Aber sie wäre nicht erfolgreich gewesen ohne die wirtschaftliche und militärische Destabilisierung des Landes durch die USA, die 1965/66 nach der amerikanischen Eskalation im benachbarten Vietnam einsetzte. Die zunehmend brutale Unterdrückung durch König Sihanouk trieb die Veteranen des Unabhängigkeitskampfes in die Dissidenz, wo die jüngere, in Paris ausgebildete Parteielite sie ihrem Plan für die neue Rebellion unterwarf.

1969 begannen die USA mit der geheimen Bombardierung der Grenzgebiete Kambodschas, wo die vietnamesischen kommunistischen Kräfte vor der US-Besetzung des benachbarten Südvietnam Zuflucht gefunden hatten. Ein Jahr später stürzte General Lon Nol König Sihanouk, was die USA unterstützten. Der Vietnamkrieg schwappte über die Grenze, nun in Form eines verheerenden Landkriegs, und löste einen neuen Bürgerkrieg aus, der Kambodscha zerriss.

Pol Pots Truppen nutzten die Verwüstungen als Vorwand für eine immer brutalere Politik und radikale Säuberungen. Im Mai 1973 berichtete die CIA, dass die kommunistischen Rekrutierer «die durch die B-52-Angriffe verursachten Schäden zum Hauptthema ihrer Propaganda machten» und dass ihre Kampagne «effektiv» gewesen sei. Den Roten Khmer gelang es, ihre Streitkräfte auf mehr als 200 000 kambodschanische Soldaten und Milizionäre aufzustocken.

Die grosse Umsiedlung

Am 17. April 1975 nahm die Armee der Roten Khmer Phnom Penh ein und besiegte das Regime von Lon Nol. In einer kurz darauf gehaltenen Rede erklärte Pol Pot den «sauberen Sieg (. . .) ohne jegliche Verbindung zum Ausland». Sein neues Regime der Roten Khmer ergriff sofort zwei unerwartete, dramatische Massnahmen. Es räumte Phnom Penh und alle Städte Kambodschas gewaltsam und setzte den Krieg gegen das vereinigte Vietnam fort.

Die Stadtbevölkerung wurde in den ländlichen Gebieten zum Anbau von Reis eingesetzt, den das Pol-Pot-Regime nach China exportierte, im Austausch gegen Waffenlieferungen. Die Doktrin des Landlebens wurde zunächst von den Bauern unterstützt, aber auch sie mussten Zwangsarbeit leisten. Das Pol-Pot-Regime unterdrückte alle Säulen des kambodschanischen Bauernstandes: die private Landwirtschaft, die Familienautonomie und die buddhistische Religion. Dissidente Khmer-Kommunisten, die nach Ansicht der Parteiführung «ein System des Überflusses» befürworteten, galten als korrumpiert durch «ein wenig Wohlstand» und wurden von der Pol-Pot-Führung gewaltsam unterdrückt.

Von den zwei Millionen Einwohnern Phnom Penhs, die die Kommunistische Partei gewaltsam aus der Stadt aufs Land evakuierte, starben etwa 20 000 auf den gewaltigen Fussmärschen. Zur gleichen Zeit entsandte die Kommunistische Partei Truppen, um vietnamesische Inseln im Golf von Thailand anzugreifen. Hunderte von Vietnamesen, die dort lebten, wurden entführt und getötet. Nachdem die Streitkräfte Hanois am 30. April Saigon eingenommen hatten, vertrieb das wiedervereinigte vietnamesische Regime die Truppen der Roten Khmer von den Inseln. Danach herrschte fast zwei Jahre lang ein prekärer Frieden.

Eines der ersten Opfer der Roten Khmer war Hou Yuon, ein bekannter, in Frankreich ausgebildeter Marxist und Mitglied des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei. Hou Yuon war ein gemässigter Mensch, der den Extremismus der Pol-Pot-Führung kritisierte. Gerade bei Funktionären kannte Pol Pot keine Gnade. Zu den vielen anderen, die zwischen 1975 und 78 im Rahmen von Säuberungen beseitigt und getötet wurden, gehörten auch neun Mitglieder des Ständigen Ausschusses des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei und viele andere Mitglieder der Parteiführung.

Zwangsarbeit, Hunger und Krankheit

Anfang 1976 benannte die Kommunistische Partei den kambodschanischen Staat in «Demokratisches Kampuchea» um. Das Morden beschleunigte sich. Besonders gefährdet waren die Angehörigen des «neuen Volkes»: Menschen, die in die ländlichen Gebiete evakuiert worden waren, in denen das ursprünglich bevorzugte «einfache Volk» lebte. Die ersten Opfer waren Angehörige des besiegten Lon-Nol-Regimes und seiner Offiziere, oft aber auch einfache Soldaten. Später wurden besonders ehemalige Lehrer und Ärzte zur Zielscheibe von Tötungsaktionen. Auch mutmassliche Aufrührer oder Dissidenten wurden umgebracht. Selbstverständlich ohne Prozess.

Die meisten Kambodschaner, die 1975 und 1976 umkamen, waren jedoch Opfer von Zwangsarbeit, Hunger und unbehandelten Krankheiten, die in vielen Fällen durch die grossangelegten Zwangsumsiedlungen noch verschlimmert wurden. Zunächst wurden zwei Millionen «neue Menschen» aus Phnom Penh ins Umland vertrieben. In der zweiten Hälfte des Jahres 1975 wurden 800 000 ehemalige Stadtbewohner zusammengetrieben und ein zweites Mal dazu gezwungen umzuziehen, diesmal aus dem Süden Kambodschas in den Nordwesten.

Ab Ende 1976 zeichnete sich ein neues Muster ab. Pol Pots Parteizentrum in Phnom Penh entsandte Kader und Truppen aus der Südwestzone des Landes, die vom obersten Militärkommandanten angeführt wurden. Sie hatten den Auftrag, die Verwaltung von anderen Zonen und Regionen zu übernehmen, die als nicht ausreichend loyal galten. Anfang 1977 schwärmten die Kräfte des Südwestens überallhin aus und installierten im ganzen Land ein Regime von Terror und Angst.

Sie säuberten die lokalen Verwaltungen mit Gewalt und töteten nach Belieben Menschen. In einer einzigen Region wurden Mitte April 1977 500 Dorfvorsteher und tausend Soldaten «abgeführt», wie ein Flüchtling berichtete, der später Thailand erreichte. In der Nachbarprovinz verhafteten die Streitkräfte 800 einheimische Offiziere und Männer. So erzählte es der Kommandeur ihrer Artillerieeinheit, der ein paar Monate später über die Grenze floh.

Vom Feld zur Hinrichtung

Das System der Zwangsarbeit forderte immer mehr Opfer. In der Pflanzsaison arbeiteten die Menschen sechzehn Stunden am Tag. Die verordneten Tagesziele waren oft nur zu erreichen, wenn die Arbeiter bis Mitternacht auf den Feldern waren. Manchmal holten Bezirksleiter Menschen vom Arbeitsplatz direkt zur Exekution. Ein Flüchtling erinnerte sich später: «Leute, die zur Mittagszeit kurz nach Hause gingen, um sich etwas zu essen zu holen, wurden zur Hinrichtung abgeführt, wenn sie erwischt wurden.»

1977 beschleunigten sich die Tötungen unter der kambodschanischen Mehrheitsbevölkerung. Gleichzeitig nahmen zwei Völkermorde an ethnischen Minderheiten ihren Anfang: die Ermordung von rund 20 000 ethnischen Vietnamesen und die bewaffneten Angriffe auf Vietnam. Zur gleichen Zeit griff das «Demokratische Kampuchea» Thailand und Laos an, wobei auch die thailändischen und laotischen Minderheiten in Kambodscha gewaltsam verfolgt wurden. Den grössten ethnischen Vernichtungsfeldzug führte die Partei aber gegen die Cham-Muslime in Kambodscha. 1975 wurde fast die Hälfte von ihnen, rund 100 000 Menschen, getötet.

Die Tötungen im Westen der Provinz Kompong Cham wurden 2018, zwanzig Jahre nach Pol Pots Tod, zu einem Schwerpunkt des von den Vereinten Nationen geförderten Tribunals, das in Phnom Penh die Verbrechen seines Regimes untersuchte. Der internationale Untersuchungsrichter Michael Bohlander kam damals zum Schluss: «Die Politik, die in der Provinz Kompong Cham angewandt wurde, ging von der Unterdrückung der religiösen und kulturellen Identität der Cham zur physischen Zerstörung der Cham-Bevölkerung über.»

Das Urteil, das 2019 veröffentlicht wurde, hielt fest, die Tötungsbefehle seien von den führenden Offizieren ausgegangen, die Pol Pot gegenüber absolut loyal gewesen seien. Auf einer Sitzung hatte Ao An gesagt, Volksgruppen, die aus Angehörigen verschiedener Ethnien bestünden, müssten gereinigt werden. Alle Bezirksleiter wurden angewiesen, in die Dörfer zu gehen und Listen zu erstellen, auf denen die ethnische Zugehörigkeit der Menschen festgehalten war. 1978 forderte Ke Pauk, einer von Pol Pots Vertrauten, die Kader auf, alles daranzusetzen, «100 Prozent der Cham zu zerschlagen».

Völkermord

Pol Pot liess alles minuziös planen. Er organisierte den Schrecken mit der Akribie eines Ingenieurs. Unter dem Regime der Roten Khmer starben in Kambodscha zwischen 1975 und 1979 etwa 1,7 Millionen Menschen an den Folgen von Terror und Hunger, etwa ein Fünftel der kambodschanischen Bevölkerung. Rund eine Million von ihnen wurden ermordet.

2014 wurden in Phnom Penh zwei überlebende führende Köpfe des ehemaligen Regimes der Roten Khmer wegen «Ausrottung» und Massenmords an der ethnischen Mehrheit der Khmer in Kambodscha verurteilt. Vier Jahre später befand das Tribunal die ehemaligen Führer der Roten Khmer in einem separaten Verfahren des zweifachen Völkermords an den muslimischen Cham und den ethnischen vietnamesischen Minderheiten in Kambodscha für schuldig.

Pol Pot hatte behauptet, Kambodscha sei den anderen kommunistischen Staaten Asiens «vier bis zehn Jahre voraus», und hinzugefügt: «Wir haben kein Vorbild für den Aufbau unserer neuen Gesellschaft.» Damit wurden die engen Beziehungen der Roten Khmer zu China beschönigt. China hatte Pol Pot seit seinem Besuch bei Deng Xiaoping 1965/66 unterstützt. Verschleiert wurden auch der Einfluss des Maoismus in der Forderung der Roten Khmer nach einem «Grossen Sprung nach vorn» sowie die Bedeutung des Stalinismus und der Französischen Revolution für Pol Pots Herrschaft. Sie wurde sogar im Kalender kopiert: Der Monat war in drei Zehn-Tage-Wochen mit eintägigen Wochenenden eingeteilt.

Doch Pol Pot orientierte sich nicht nur an diesen historischen Vorbildern. Er wollte sie übertreffen. Und in der Art, wie er dies versuchte, zeigen sich sein Nationalismus und sein Rassismus. Er konnte sich nicht vorstellen, dass Kambodscha in Frieden mit seinen Nachbarn leben könnte. «Wenn wir stark sind, sind sie schwach, wenn sie schwach sind, sind wir stark», sagte er überzeugt. «Das ganze Volk von Kambodscha ist gegen Vietnam, das ein Erbfeind ist», lautete eine offizielle Erklärung seines Regimes.

Die Durchsetzung dieser Politik in Kambodscha führte zu einer der grausamsten Diktaturen der Geschichte. Pol Pot selbst wurde in seiner Regierung ehrenvoll als «die Organisation» (Angkar) bezeichnet: eine Organisation, die Reden hielt, sich Filme ansah und um Gefallen gebeten werden konnte, falls es denn jemand wagte. Pol Pots Ehefrau Khieu Ponnary soll darüber verrückt geworden sein. Mit einer Organisation verheiratet zu sein, war zu viel für sie. Kinder hatte das Paar keine.

Das Bild des Bruders

Eines Tages, Ende 1978, wurde in einer Kantine in der Provinz Kompong Thom ein Plakat von Pol Pot aufgehängt. Loth Suong zuckte zusammen, als er das Porträt sah. Er erkannte, dass es sein eigener, ihm über lange Jahre hin entfremdeter Bruder Saloth Sar war, der das Land seit fast vier Jahren regierte.

Als sich die kambodschanischen Kommunisten im Mai 1978 in der Ostzone des Landes gegen die Regierung auflehnten, konnten Pol Pots Armeen den Aufstand nicht so rasch niederschlagen. Der Rundfunk rief dazu auf, nicht nur «die 50 Millionen Vietnamesen auszurotten», sondern auch «die Masse des kambodschanischen Volkes zu reinigen». Von den 1,5 Millionen Ostkambodschanern, die als «Khmer-Körper mit vietnamesischem Geist» gebrandmarkt wurden, tötete das Pol-Pot-Regime wahrscheinlich rund 250 000. 1979 traten die überlebenden Rebellenführer, unter ihnen Heng Samrin, Chea Sim und Hun Sen, die Nachfolge Pol Pots an, nachdem Hanoi seine Armee nach Thailand vertrieben hatte.

Pol Pot tauchte unter. Monate später wurde bekannt, dass er in einem befestigten Lager in Thailand lebte. In Interviews, die er Journalisten aus dem Westen gab, wies er die Schuld für das, was in Kambodscha geschehen war, von sich. Noch 1988, im thailändischen Exil, machte er «vietnamesische Agenten» für die meisten Morde verantwortlich, die sein Regime verübt hatte. Er räumte freimütig ein, er habe Offiziere, Soldaten und Beamten des besiegten Lon-Nol-Regimes massakrieren lassen. Und verteidigte diese Massnahme: «Diese Schicht der Imperialisten musste vollständig vernichtet werden.»

Die Roten Khmer sagten ihre Rückkehr an die Macht mit dem Slogan voraus: «Wenn das Wasser steigt, fressen die Fische die Ameisen, aber wenn das Wasser zurückgeht, fressen die Ameisen die Fische.» 1992 versuchten Pol Pots Truppen, nach Kambodscha zurückzukehren, wo sie weitere Massaker verübten. Aber sie wurden in Schach gehalten. Einige Jahre später wurden sie von den kambodschanischen Regierungstruppen besiegt. Pol Pot selbst starb am 15. April 1998 im Schlaf in einer Dschungelresidenz nahe der thailändischen Grenze. Er war nie vor ein Gericht gestellt worden.

Ben Kiernan ist emeritierter Professor an der Yale University und war bis 2015 Direktor des Genocide Studies Program der Yale University. Er beschäftigt sich vor allem mit der Geschichte Südostasiens im 20. Jahrhundert und dem Pol-Pot-Regime. 2009 ist bei DVA sein Buch «Erde und Blut: Völkermord und Vernichtung von der Antike bis heute» erschienen. Übersetzung aus dem Englischen: rib.

Die schlimmsten Tyrannen der Geschichte

rib. Wladimir Putin, Kim Jong Un, Xi Jinping: Weltweit sind skrupellose Autokraten verantwortlich für Krieg, Gewalt und Angst. Um sie zu verstehen, werden Vergleiche bemüht: mit Hitler, Stalin, Mao. Aber wie sinnvoll sind solche Vergleiche? Was verbindet die Verbrecher der Gegenwart mit den Despoten der Geschichte? In den kommenden Wochen publizieren wir an dieser Stelle Texte von international renommierten Historikern, die sich mit der Frage befassen, wie Gewaltherrscher an die Macht kamen. Am 13. Juli schreibt der deutsche Historiker Helmut Altrichter über Josef Stalin.

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