Freitag, Januar 3

Wortgewaltige Zürcher wie «Zottelmeyer» oder Friedrich Locher zielten direkt auf den Mann – und hatten Erfolg damit.

Wie viel Aggression und Polemik sind im politischen Kampf zulässig, wo liegt die Schmerzgrenze, was gebietet der Anstand?

Heute sind Politikerinnen und Politiker oft Beschimpfungen ausgesetzt. Sie erhalten anonyme Drohungen, auf Social Media teilen Wutbürger unter der Gürtellinie aus. In der öffentlichen Arena dagegen wird die Privatsphäre der Volksvertreter respektiert, die Medien befleissigen sich eines schicklichen Tonfalls.

Im 19. Jahrhundert war das anders.

1859 zeigt ein gewisser Johann Heinrich Meyer den Zürcher Grossrat Hans Rudolf Zangger, den Direktor der Tierarzneischule, bei der Staatsanwaltschaft an. Meyers Anschuldigungen zielen direkt auf das Privatleben des Parlamentariers: Zangger habe seine Ehefrau und die Tochter misshandelt sowie mit seiner Schwester Sex gehabt. Die Anzeige läuft ins Leere, Zangger wird nicht verurteilt. Der Versuch, den Politiker mit böswilligen Unterstellungen zu stürzen, scheitert.

Wer ist der Mann, der Zanggers Karriere zerstören will, und wofür stehen er und andere Polemiker jener Phase?

Gegen die Regierung – für die neue Verfassung

Johann Heinrich Meyer, seit seiner Schulzeit «Zottelmeyer» gerufen, schreibt schon länger aggressive Pamphlete, die er meist in linken Blättern wie dem «Usterboten» publiziert. Freilich geraten auch linksliberale Politiker wie Zangger in sein Schussfeld. Meyer wähnt sich auf ehrenwerter Mission. Selbstbewusst beruft er sich auf den sozialkritischen Romancier Eugène Sue. Sein Vorbild ist in Frankreich ein Star.

«Zottelmeyer» kommt aus gutem Zürcher Haus. Nachdem er sein Medizinstudium abgebrochen hat, schlägt er sich als Journalist und «Publizist» durch, wie er sich nennt. Weder vor Strafanzeigen noch vor Verleumdungen und boshaften Spässen schreckt er zurück. Seine Gegner auch nicht. 1845 veröffentlichen sie eine Todesanzeige mit seinem Namen, um ihn in seiner Ehre anzugreifen. Meyer reagiert darauf mit einem Inserat in der «Neuen Zürcher Zeitung», er lebe noch immer und sei bei bester Gesundheit.

«Zottelmeyer» ist bei weitem nicht der einzige Polemiker in dieser Zeit. Berüchtigt für seine ätzende Feder ist zum Beispiel der schillernde Jurist Friedrich Locher, ebenfalls ein Grossbürger. 1866 veröffentlicht er zunächst anonym die erste Folge seiner schrillen Pamphletreihe «Die Freiherren von Regensberg».

Damit startet er seinen Frontalangriff auf die freisinnige Zürcher Regierung, die mit der neuen Kantonsverfassung von 1869 zu Fall kommt: Die Opposition hat sich Volksinitiative und Referendum erkämpft. Ferner werden die Exekutive und die beiden Zürcher Ständeräte nicht mehr vom Parlament gewählt, sondern von den stimmberechtigten Männern.

Klatsch über die «Oligarchen» und «Korrupten»

In nur fünf Tagen sind die «Freiherren» vergriffen. Alle wollen lesen, was Locher Böses und Skandalöses über die «Oligarchen» und «Korrupten» der Stadt zu kolportieren weiss: Nationalrat Alfred Escher, der Eisenbahnunternehmer, verdanke seinen Reichtum der Ausbeutung von Sklaven. Die Zürcher Justiz funktioniere nach dem Prinzip «Gibst du mir ’ne Wurst, lösch ich dir den Durst». Der Obergerichtspräsident habe mehrere Frauen geschwängert und so weiter.

Vor vollen Sälen hält Locher seine Tiraden, die er bald auch gegen seine Gesinnungsgenossen richtet – unter ihnen der prominente Sozialist Karl Bürkli –, mit denen er sich zerstritten hat.

Kurz zuvor hatte Bürkli, Sohn eines Seidenfabrikanten und Mitbegründer des Zürcher Konsumvereins, die Schmähschrift «Chiridonius Bittersüss – Der ‹bezähmte› Sohn der Wildnis» publiziert. Darin attackiert er den liberalen Regierungsrat, Grossrat und Nationalrat Johann Jakob Treichler, seinen ehemaligen Kampfgefährten, der das politische Lager gewechselt hat. Jetzt würden «alle Erbärmlichkeiten, die Feigheit, die Selbstsucht, die Habsucht jählings durch den dünnen Nebel des Maulheldentums hervorbrechen, und das Ungeheuer steht nackt da» – unverblümt und pointiert bringt Bürkli seine Wut zu Papier.

Sein Bruder Emil, auch er Sozialist, beschimpft Treichler in den Kneipen des Zürcher Niederdorfs als «Volksbetrüger». Darauf klagt dieser vor Gericht gegen die Bürkli-Brüder wegen Ehrverletzung – und bekommt recht. Doch Ruhe geben die beiden nicht.

Moralische Schwächen – Schwächen der Republik

Das 19. Jahrhundert gilt als heroische Gründerzeit der Demokratie. «Heroisch» im wörtlichen Sinn: Es sind meist gross auftrumpfende Männer, die sich mit Vorliebe volkstümlich, hemdsärmelig, ja in «toxischer» Weise in aller Öffentlichkeit streiten – für mehr Mitbestimmung, auch im jungen Bundesstaat. Mit Erfolg: Die Revolutionen der 1830er Jahre installieren in den Kantonen liberale Verfassungen, 1848 wird die Schweiz zur demokratischen Nation, 1874 wird das fakultative Referendum auf Bundesebene eingeführt, 1891 die Volksinitiative.

Die Demokratie, deren sich diese wortgewaltigen Männer rühmen, ist zwar unvollständig: Vor allem Frauen sind nicht mitgemeint. Und natürlich sollte man die Hahnenkämpfe eines «Zottelmeyer», eines Friedrich Locher oder eines Karl Bürkli nicht verherrlichen. Viel Eitelkeit und Narzissmus waren da im Spiel.

Doch mit den populistischen Abrechnungen des 19. Jahrhunderts lässt sich die kulturpessimistische Warnung relativieren, dass Politiker mit ihren Streitereien dem Populismus Vorschub leisteten. Man spiele, heisst es heute, je länger, desto mehr auf die Person, statt mit Anstand über die Sache zu diskutieren. Nicht weniger als die Kultur der Demokratie stehe auf dem Spiel.

Die Angriffe der Polemiker hingegen zeigen: Im 19. Jahrhundert ging es in der politischen Arena weit ärger zu und her als heute. Nicht einmal das Privatleben der Widersacher war tabu.

Der Grund dafür liegt nicht allein in der maskulinen Rauflust, sondern in der republikanischen Kultur jener Zeit. Diese verlangte von den Regierenden Bürgertugend, also Heldenmut, Selbstdisziplin und einen einwandfreien Lebenswandel. Wer sich moralische Schwächen zuschulden kommen lasse, schwäche die Republik, behaupteten die Philosophen. Darum zielten die Angriffe auch auf das Privatleben der Mächtigen. Die Schmähschriften hatten grosse Chancen, auf Resonanz und Zustimmung zu stossen.

Wenn also die Zürcher Streithähne ihre Pamphlete streuten, liessen sie nicht nur ihren Impulsen freien Lauf. Sie führten eine politische Tradition fort, die schliesslich in die moderne Demokratie münden sollte.

Und diese war im 19. Jahrhundert mitunter ziemlich unzivilisiert.

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