Dienstag, Oktober 15

Donald Tusk will sein Land vor einem hybriden Krieg schützen und greift dafür zu kontroversen Mitteln. Doch die Menschen, die via Weissrussland illegal einreisen, sind nur eine von vielen Herausforderungen in der polnischen Migrationspolitik.

Ein Jahr nach seinem Amtsantritt hat Donald Tusk drastische Mittel angekündigt, um Polen vor illegaler Einwanderung zu schützen. Unter dem Motto «die Kontrolle zurückgewinnen und Sicherheit schaffen» will der Ministerpräsident auch das Recht auf Asyl für eine gewisse Zeit aussetzen. Sein Land müsse sich gegen «Lukaschenko, Putin und Menschenschmuggler» schützen. Sie setzten Zehntausende von Migranten als Waffe gegen Europa ein, indem sie diese an die EU-Aussengrenze trieben mit dem Versprechen, dass sie Asyl erhalten würden. Ausserdem plane Weissrussland eine gezielte Provokation, hiess es aus Warschau.

Bei Auftritten vor dem Kongress seiner Partei, an der Grenze und mit seinen Ministern in Warschau demonstrierte Tusk in den letzten Tagen Entschlossenheit, die nationalen Interessen zu verteidigen. Auch der EU-Migrationspakt widerspreche diesen, sagte er. Gleichzeitig will er am Europäischen Rat diese Woche Rückendeckung für sein Land holen. Aus Brüssel gab es aber bereits skeptische Reaktionen: Die EU-Kommission erinnerte Polen am Montag an die Verpflichtung, Migranten Zugang zum Asylsystem zu gewähren. Auch mehrere von Tusks offenkundig überrumpelten Koalitionspartnern in Warschau reagierten mit Kritik an den Plänen.

Lukaschenkos Migrationsströme im Urwald

Der 67-jährige Regierungschef geizt bis anhin zwar mit Details zur Umsetzung der Massnahme. Er hat aber angedeutet, dass er den Asyl-Stopp EU-rechtlich mit einer Bedrohung der inneren Sicherheit durch Migrationswellen begründen könnte. Auf X nannte Tusk auch Finnland als Vorbild, das seit Juli kaum mehr Asylanträge an seiner Grenze zu Russland entgegennimmt. Ähnlich wie das skandinavische Land sieht sich Polen als Ziel eines hybriden Krieges.

Ganz im Nordosten des Landes, an der Grenze zu Weissrussland, tauchten 2021 praktisch über Nacht Tausende von Migranten aus dem Nahen Osten und aus Afrika auf. Sie hatten Einreisevisa aus Moskau und Minsk, staatliche Dienstleister brachten sie in das abgelegene Gebiet. In Polen sorgten die Migranten im Urwald für Alarmstimmung. Die damals regierende nationalkonservative Partei Recht und Gerechtigkeit (PiS) schickte fast 20 000 Soldaten an die Grenze, baute auf 200 Kilometern eine Grenzmauer und richtete eine Sperrzone ein.

Tusks liberalkonservative Regierung hat die Politik übernommen, nach einer kurzen Unterbrechung richtete sie im Juni selbst die militärische Sperrzone erneut ein. Sie sieht angesichts steigender Migrationszahlen an der Grenze keine Alternative: Laut Frontex haben die illegalen Übertritte aus Weissrussland heuer um fast 200 Prozent zugenommen. Auf den meisten anderen europäischen Routen sank sie. Laut der Grenzwache versuchten dieses Jahr bisher 28 000 Personen illegal nach Polen zu kommen, so viele wie seit 2021 nicht mehr. Die Behörde räumt auch ein, in drei Jahren 9000 Pushbacks durchgeführt zu haben.

Uno, Europarat und Nichtregierungsorganisationen kritisieren die Abschottung als illegal, Migranten erhalten an der Grenze kaum die Möglichkeit, einen Asylantrag zu stellen. Da das Recht darauf somit bereits eingeschränkt ist, stellt sich die Frage, inwiefern Tusks neue Ankündigung überhaupt weiter geht als der Status quo. Unter Kontrolle ist die Lage an der Grenze aber nicht. Seit 2021 kamen mindestens 82 Migranten und ein Grenzsoldat ums Leben. Auch die Wiedereinführung der Sperrzone hat die Zahl der Grenzübertritte nur vorübergehend gesenkt.

Steigende Asylzahlen in Polen

Im September sind die Grenzübertritte wieder signifikant gestiegen, was wohl auch stark mit Deutschland zu tun hat: Bis vor kurzem reisten jene Migranten, die es über die Grenze schafften, rasch nach Westen weiter. Doch seit Berlin die Grenzen stärker kontrolliert und im September gar mit Rückweisungen begonnen hat, beantragen immer mehr Asyl in Polen.

Die Zahlen liegen im Vergleich mit vielen westeuropäischen Ländern zwar auf einem tiefen Niveau, steigen aber rapide an. So nahm Warschau bis Ende September 12 300 Asylanträge entgegen, knapp 5000 alleine seit Juni. Im gesamten Vorjahr waren es nur 9500 gewesen. Zwei Drittel der Anträge stammen von Ukrainern, Weissrussen und Russen, nur jeweils einige hundert von Somaliern, Eritreern und Syrern. Letztgenannte haben jedoch in kurzer Zeit stark zugenommen.

«Wenn zu viele Leute aus anderen Kulturen da sind, fühlen sich die Einheimischen bedroht», sagt Tusk und setzt damit den harten Ton in der Asyldebatte. Beobachter erklären diesen auch dadurch, dass er seine Partei für den 2025 anstehenden Wahlkampf um die Präsidentschaft positionieren will. So schreibt Michal Szuldrzynski, Tusk wolle seine Wählerschaft über die liberalen Eliten hinaus verbreitern. «Eine Strategie des lächelnden Populismus», so nennt der liberale Journalist die Rhetorik, die viele im Land an Jaroslaw Kaczynskis PiS erinnert.

Die Aufregung um die geplante Aussetzung des Asylrechts überdeckt jedoch, dass die Regierung in Warschau sie als Teil einer breiteren Migrationsstrategie sieht. Den gestiegenen Asylzahlen hat sie auch Fördermassnahmen folgen lassen, mit einer Erhöhung der staatlichen Unterstützungsgelder und 49 neuen sogenannten Integrationszentren. Sie sollen Migranten etwa rechtlich beraten und Sprachkurse anbieten.

Polens Wirtschaft braucht dringend Einwanderer

Gleichwohl machen die Asylbewerber nur einen kleinen Teil der Einwanderer aus. Entgegen ihrem Ruf als harte Grenzschützerin öffnete die PiS die Tore des Landes weit und erteilte in den letzten fünf Jahren 3,8 Millionen Menschen vor allem aus der Ukraine und anderen Ländern der Region Arbeitsvisa – eine Rekordzahl innerhalb der EU.

Polen braucht die Einwanderer dringend: Die Wirtschaft des Landes wächst weiterhin dynamisch, während die einheimische Bevölkerung in den nächsten Jahrzehnten aufgrund der schlechten demografischen Lage um mehrere Millionen schrumpft. Da die meisten osteuropäischen Länder ähnliche Probleme haben, fallen sie als Reservoir für Immigranten zunehmend weg. Diese müssen in Ländern ausserhalb des Kontinents gefunden werden.

Diese Entwicklung zum Einwanderungsland ist für Polen neu, die ausländische Arbeitsbevölkerung im Land hat sich seit 2014 verzehnfacht. Verwaltung und Bevölkerung stellen sich erst langsam darauf ein. Exemplarisch dafür steht die chaotische und teilweise korrupte Visaerteilung unter der PiS. Die staatlich kaum regulierte Branche vergab laut einem jüngst erschienenen Bericht viele Aufenthaltsbewilligungen ohne klare Prüfungen und gegen Geld. Darunter waren 366 000 Visa an Menschen aus Asien und Afrika.

Auch wenn die Wirtschaft viele dieser Arbeitskräfte mit Nachdruck fordert, lässt sich gerade die aussereuropäische Migration im heutigen Umfeld leicht politisieren. So wirft Tusk der PiS vor, sie sei «die Regierung, die sich in Europa am stärksten für die illegale Migration einsetze». Wie anderswo verschwimmen in Polens aufgeheizter Diskussion die Grenzen zwischen Asyl, illegaler Migration und ökonomisch erwünschter Einwanderung.

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