Donnerstag, Dezember 26

Donald Tusk will sein Land nach der PiS-Herrschaft international breiter ausrichten. Dazu gehört, das Verhältnis zu den Nachbarn zu kitten. Innere Zwänge und Widersprüche erschweren die Aufgabe.

Als Donald Tusk Ende Januar Kiew besuchte, liess er den solidarischen Geist der ersten Kriegstage von 2022 wiederaufleben. Der polnische Ministerpräsident forderte «die volle Mobilisierung der freien Welt, um der Ukraine in diesem Krieg zu helfen». Er habe genug von europäischen Politikern, die sagten, sie seien der Situation dort überdrüssig. «Polen wird alles tun, um die Siegeschancen der Ukraine zu vergrössern.»

Kiew war nach Brüssel erst das zweite ausländische Reiseziel des neuen Regierungschefs. Tusk wählte nicht Berlin, Paris oder Washington, sondern die ukrainische Hauptstadt bei seinem Vorhaben, die internationalen Bande nach acht Jahren rechtsnationaler Regierung wieder zu festigen. Die Wahl Kiews zeigt, wie zentral der Verteidigungskrieg des Nachbarlands gegen Russland für die Aussen- und Sicherheitspolitik Polens ist. Ohne eine freie Ukraine, so die Überzeugung in Warschau, ist man selbst akut gefährdet.

Polen kittet die Beziehung zu Kiew

Indem Tusk die Hilfe für die Ukraine zur Staatsräson erklärt, führt er die Politik der ehemaligen Regierungspartei Recht und Gerechtigkeit (PiS) im Grundsatz weiter. Dennoch hatten der Ministerpräsident und sein erfahrener Aussenminister Radoslaw Sikorski in den letzten Wochen alle Hände voll zu tun, um die beschädigte Beziehung zu Kiew zu kitten: Durch eine Mischung aus kurzsichtiger Politik und Wahlkampfgetöse hatte es die PiS zugelassen, dass aus lösbaren wirtschaftlichen Differenzen eine eigentliche Vertrauenskrise entstanden war.

Der Konflikt drehte sich um unwillkommene ukrainische Konkurrenz, welche die EU durch eine undurchdachte Liberalisierung 2022 geschaffen hatte. Um den Export von Landwirtschaftsprodukten trotz Russlands Blockade der ukrainischen Schwarzmeerhäfen zu ermöglichen, förderte Brüssel Transportkorridore auf dem Landweg. Die östlichen Mitgliedsländer wurden daraufhin von Getreide überschwemmt, gleichzeitig kamen Tausende von neuen ukrainischen Lastwagenfahrern auf den europäischen Markt.

Als in Polen Bauern und Trucker die Grenze blockierten, reagierte Warschau monatelang nicht. Führende Exponenten der PiS-Regierung verkündeten stattdessen das Ende der Waffenlieferungen und warfen der Ukraine mangelnde Dankbarkeit vor. Präsident Selenski warf dem Nachbarland hingegen «politisches Theater» vor, das lediglich Moskau zurück auf die Bühne bringe. Sein Land erlitt grosse wirtschaftliche Verluste und Engpässe auch bei der militärischen Versorgung.

Doch Tusk hat demonstriert, dass das Problem durch internationale Kooperation entschärft werden kann: Die Blockade der Bauern beendete er zumindest vorläufig durch politische Zugeständnisse und Geld, wobei die EU in Aussicht stellte, stark betroffenen Ländern zusätzliche Mittel zur Regulierung ihres Marktes zur Verfügung zu stellen. Auch die Lastwagenfahrer haben die Grenzübergänge nach Verhandlungen freigegeben.

Tusk sucht Sicherheit in Europa

Mit diesem Erfolg erreichte der liberalkonservative Politiker immerhin ein Etappenziel auf dem Weg zur angestrebten Führungsrolle in Europa. Dass dem ehemaligen EU-Rats-Präsidenten seine exzellenten Kontakte in die Hauptstädte helfen, ist klar. Diese Nähe macht ihn aber auch politisch verwundbar für Angriffe der PiS, die ihn konsequent als Lakaien Berlins oder Brüssels darstellt. Bezeichnenderweise hat Tusk Berlin bisher nicht besucht. Gleichzeitig teilt er heftig aus gegen «EU-Turbos» und gibt sich als Verteidiger von Polens nationalen Interessen innerhalb der Union.

Die innenpolitischen Zwänge und möglicherweise auch die eigene Überzeugung führen dazu, dass Tusk die Aussenpolitik seines Landes breiter aufzustellen versucht als während seiner letzten Amtszeit. Die Polen wissen aus leidvoller historischer Erfahrung, wie fragil die eigene Staatlichkeit ist. Die Unterstützung starker ausländischer Partner bleibt eine Lebensversicherung.

Im Unterschied zur PiS glaubt Tusk aber, dass nur eine starke europäische Struktur die Sicherheit seines Landes garantiert. Die Vorgängerregierung setzte in militärischen Fragen hingegen konsequent und fast ausschliesslich auf die USA. So rüstet Warschau seine stark wachsende Armee mit modernen amerikanischen Waffen im Wert Dutzender Milliarden auf.

Auch wenn der Preis dieser Geschäfte in der neuen Regierungskoalition für Diskussionen sorgt, hat Tusk angekündigt, sie nicht anzutasten. Dennoch wirkt die Nähe zu den Vereinigten Staaten nicht mehr so bedingungslos wie noch unter der PiS. Die inzwischen zur Selbstblockade mutierte Zurückhaltung Washingtons in der Ukraine-Politik ist Warschau nicht entgangen. Und über allem schwebt die Möglichkeit eines Wahlsiegs von Donald Trump im Herbst. Während die PiS in ihm einen ideologischen Verbündeten erkannte, sieht ihn Tusk als Bedrohung für die Sicherheit Polens und der Ukraine.

Verbündete im Baltikum und unter Europas Grossen

Weil sein militärisches und politisches Gewicht im Zuge des Ukraine-Krieges stark gewachsen ist, muss sich Polen heute intensiver denn je auch mit seiner eigenen Rolle für die europäische Sicherheit auseinandersetzen. Diese hat einerseits eine regionale Komponente: Das Land verfügt über die stärkste Armee Ostmitteleuropas und spielt als Basis sowie Drehkreuz für Militärgüter eine zentrale Rolle.

Weiter nördlich sieht Polen die baltischen Staaten als natürliche Verbündete. Als unmittelbare Nachbarn machten sie sich seit ihrer Unabhängigkeit nie Illusionen über die Bedrohung durch Russland. Tusk wollte im Dezember nach Tallinn reisen, um die Amtskollegen der Region zu treffen. Eine Corona-Erkrankung der estnischen Regierungschefin verhinderte den Besuch. Mit ihrem Nato-Beitritt sind auch Schweden und Finnland näher an diese Gruppe herangerückt.

Trotzdem wird Warschau nicht darum herumkommen, das in jüngerer Zeit arg strapazierte Verhältnis zu Frankreich und vor allem Deutschland zu klären. Ohne deren wirtschaftliches, militärisches und politisches Gewicht ist eine glaubwürdige Abschreckung Russlands durch die EU kaum denkbar.

Mit dem Weimarer Dreieck existiert seit 1991 ein etabliertes, wenn auch kaum mehr relevantes trilaterales Gesprächsformat. In der Vergangenheit erfüllte dieses die Erwartungen selten. Zu unterschiedlich waren die Positionen, gerade in der Russlandpolitik. Dazu kommt, dass vor allem Paris andere Vorstellungen über Europas «strategische Autonomie» und das Verhältnis zu den USA hat als Berlin und Warschau.

Die USA und Europas «strategische Autonomie»

Die weltanschaulichen Differenzen und acht Jahre PiS-Regierung stellen formidable Hindernisse auf dem Weg zu einer Wiederbelebung dar. Durch Moskaus Angriffskrieg haben sich die strategischen Perspektiven dieser Länder angenähert. Die grosse Frage lautet, wie tragfähig die neuen Gemeinsamkeiten sind und ob sie reichen, um das latente Misstrauen zu überwinden.

Manche Experten halten gerade wegen der vielen offenen Fragen in den Beziehungen untereinander den geteilten Fokus auf die Unterstützung der Ukraine für einen pragmatischen Weg. Polen und Deutschland sind die wichtigsten militärischen Partner Kiews innerhalb der EU. Und auch wenn sie die zentrale Rolle der USA nicht aufwiegen können, wäre eine stärkere Koordination ein wichtiges Zeichen dafür, dass Europa Verantwortung für die eigene Sicherheit übernimmt.

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