Sonntag, September 8

Der Erzähler in den umwerfenden Werken des polnischen Modernisten (1904–1969) schaltet und waltet in seinem Reich nach Gutsherrenart. Jetzt erscheint eine Werkausgabe.

Nicht genug, dass dieser Autor in seinen Büchern mit der Tür ins Haus fällt – er hört auch nicht auf damit. Nach der Eingangstür fällt er mit der Tür in die Zimmer, in die Speisekammer, die Kellerverschläge, den Dachboden. Witold Gombrowicz geht dann ab durch irgendein Fenster, sei es auch im zweiten Stock gelegen, und schreitet gut gelaunt, mit manchem Aperçu auf den Lippen, zur nächsten Grosstat. Willkommen in der Welt eines clownesk um sich schlagenden Philosophen, randvoll des juvenilen Geistes.

Das polnische Pantheon bewohnt der Zeitgenosse von Sartre und Czeslaw Milosz längst, obwohl seine Werke in Polen erst ab 1986 erscheinen konnten. Im deutschen Sprachraum tauchten seine Bücher alle paar Jahrzehnte auf wie Kometen. In den sechziger Jahren legte sie der Neske-Verlag vor, in den achtziger Jahren veröffentlichte Hanser eine dreizehnbändige Werkausgabe, nun publiziert Kampa alle Bücher des grossen und einsamen polnischen Avantgardisten. Gut die Hälfte ist erschienen, die übrigen folgen in den nächsten drei, vier Jahren.

«Finten, Spielchen und Haken»

Witold Gombrowicz’ Bücher besitzen anarchische Kraft. Gib alle Hoffnung auf, Leser, der du einkehrst in sie! Der Erzähler, oft wie der Autor geheissen, schaltet und waltet in seinem Reich nach Gutsherrenart, greift nach deiner kleinen Hand und lässt sie nicht mehr los: «Am Dienstag erwachte ich um jene Zeit ohne Seele und Inhalt . . .», so beginnt der wilde Roman «Ferdydurke» (1937). «Ich werde euch ein anderes meiner Abenteuer erzählen, wohl eines meiner fatalsten», verheisst der erste Satz des Romans «Pornographie» (1960). Der Auftakt von «Kosmos» (1965) scheint daran anzuknüpfen («Ich werde ein anderes, wunderlicheres Abenteuer erzählen. . .»), und «abenteuer in der argentinischen hauptstadt» kündigt auch der letzte Roman «Trans-Atlantik» (1970) an.

Die selbstausgestellten Cartes blanches bedeuten dem Leser knapp: Fasten your seatbelt!, die Achterbahnfahrt geht los. Voran, so heisst es im monumental-bösen «Tagebuch», mit «Finten, Spielchen und Haken».

Unter die Räder gerät bei Witold Gombrowicz die heilige Kuh des 20. Jahrhunderts, und zwar bevor sie in Auschwitz zeigt, wozu sie fähig ist: die Vernunft. Sein Kampfbegriff heisst – die Verehrung der Jugend erreicht in den 1920er Jahren erste Höhepunkte – schlicht: Unreife. «Ein Bewusstsein (. . .) sein, das Hosen trägt und telefoniert», das will er lieber nicht.

Gombrowicz’ Erzähler ziehen ohne Hosen zu Felde gegen die Reifen, gegen Identität, Disziplin, Loyalität, Ideologien, Religion, Nationalismus und was der geistigen Ramsch-Waren mehr sind. Im Debüt «Memoiren aus der Zeit des Reifens», veröffentlicht 1933 mit 29 Jahren, drängelt sich der Erzähler an der Opernkasse vor und wird grob wieder ans Ende der Schlange expediert: «Hier herrscht Ordnung. Europa!» Der zurechtgewiesene Unreife nimmt den Fehdehandschuh auf und setzt alles daran, das Leben des Zucht-, Ordnung- und Europarufers, eines Rechtsanwalts, zu zerstören.

Einige Jahre später, im Roman «Ferdydurke» (1937), reflektiert Gombrowicz über Vor- und Nachteile seines Kampfbegriffs. Der Verfechter der Unreife hat sich nämlich der Vertraulichkeiten von anderen Unreifen erwehren müssen, und weil der Mensch nun einmal durch den Blick der Mitmenschen auf ihn geformt werde, war er naiv, sobald einer ihn für naiv hielt, oder grün, «weil ein Unreifer (ihn) in sein eigenes Grün» tauchte. Dass die Menschen «einander Formen aufzwingen», habe er vor Sartre formuliert, behauptet Gombrowicz keck. Für ihn tragen die Menschen notwendig Masken, Authentizität ist unmöglich.

Verfechter der Unreife

Auch von der anderen Seite droht den Unreifen Gefahr. Die Reifen nähmen einen Angriff auf die Ordnung nämlich nur hin, wenn er im Namen reifer Ideale erfolge. Republik etwa statt Monarchie, ja, das bringe Bewegung! Witterten die Erwachsenen aber jene Unreife, die sie hinter sich gelassen haben, würden sie, so heisst es, die «Grünschnabel» und «Rotzbengel» «tothacken». Gombrowicz’ Figuren leben gefährlich.

«Ferdydurke» erregte Skandal in Polen und fand Bewunderer wie den mit Gombrowicz befreundeten Schriftsteller Bruno Schulz. Der Titel des Romans ist unerheblich für das Verständnis. Er benenne seine Bücher wie Hunde, so der Autor nonchalant, also nur, um sie zu unterscheiden. Fragmentarisch, voller Abschweifungen, Einschübe anderer Textarten, steiler Behauptungen und ihrer nicht weniger steilen Widerlegungen sind sie fast alle.

«Ferdydurke», sagt der recht redselige Erzähler warnend, sei nicht kohärent. Recht hat er, besser lässt man sich vom kraftvollen Ton mitreissen. Denn wenn bedrückt mitgeteilt wird, dass die Reifen aufbegehrende Unreife voller Ekel totschlügen, bleiben die mörderischen Instrumente nicht ungenannt. Sie heissen – o Schreck! – «Sarkasmus, Ironie und Spott». Streicht da einer die Segel, bevor es ernst wird? Weicht Gombrowicz ins Symbolische aus, oder beliebt er zu scherzen?

Wer weiss. Für Gombrowicz fliesst alles, sind die Grenzen künstlich. Die Reifen betrögen sich selbst, sagt er des Öfteren, wenn sie den «Rotzbengel» in sich austrieben. Das «Dunkle, Beschränkte und Dumme» sei weiterhin in ihnen präsent und genauso wichtig wie das «Gewandte, Erleuchtete und Subtile». Das Ich ist also auch bei Gombrowicz «nicht einmal Herr (. . .) im eigenen Haus». Doch anders als bei Freud residieren für ihn Dunkles und Dummes nicht im Unbewussten, sondern im Bewussten. Dunkles und Erleuchtetes, Dummes und Kluges sind untrennbar, und das macht seine Bücher unvorhersehbar. Ein poetisches Kraftgenie wirft Hohes und Niederes zusammen, auf dass es in der Kunst wie im Leben zugehe.

Erwartbares räumt er mit spürbarer Lust beiseite wie Sperrmüll. «Pornographie» (1960) erzählt von einem Mord, den die lüsternen Erwachsenen ersinnen, um den ihn treulich ausführenden Jugendlichen nahe zu sein. In «Kosmos» (1965) taumeln die Figuren zwischen zwei Beobachtungs- und Ereignisreihen hin und her: Tote Tiere, ein Ding und schliesslich auch ein toter Mensch baumeln von Hecken, Decken und Bäumen, während zwei Frauenmünder, ein verunstalteter und ein hübscher, manisch anziehen. Wo sind die «Verbindungen» zwischen den Details, wo ist das «System»? Auch die Libido hilft nicht, ist jedoch recht rege.

«Ferdydurke» ist die Suche nach einer nicht naiven Unreife, einem archimedischen Ort zwischen den Unreifen und den Reifen, von dem aus sich die Welt aus den Angeln heben und kräftig durchschütteln lässt. Moderne und Europa, Bildung und Kultur geraten dabei mit einigem Verabscheutem in Kontakt: mit dem «Poppo» etwa, der immer wieder im Roman aufblitzt.

Gombrowicz hat das Dazwischen in den Gesprächen mit Dominique de Roux («Eine Art Testament», 1968) als «seine eigentliche Heimat» bezeichnet. Er sei «in nichts verankert». Seine verarmte landadelige Familie habe sich «zwischen Litauen und Kongresspolen, zwischen Dorf und Industrie, zwischen der sogenannten besseren und der mittleren Schicht» befunden.

Als Justizreferendar in Warschau ging Gombrowicz die meiste Zeit einer soliden Neigung zur literarischen Bohème nach, als Exilant rutschte er endgültig ins Dazwischen: Mit einem polnischen Dampfer, dessen Jungfernfahrt Gombrowicz als Journalist begleitete, war er gerade in Buenos Aires angelangt, als die Deutschen Polen 1939 überfielen. Fast 24 Jahre blieb der Mann, dessen literarische Karriere mit zwei Büchern eben erst verheissungsvoll skandalös begonnen hatte, in Argentinien. Er schlug sich mit Gelegenheitsjobs durch, hungerte, sass dann in einer Bank seine Zeit ab und schrieb.

Die Wette galt

Im Dazwischen scheint Gombrowicz die Wirklichkeit unwirklich, die Kunst künstlich. Er parodiere beides, sagt er im Gesprächsband, der, wie könnte es anders sein, von ihm geschrieben wurde – sein Asthma hatte die Unterhaltung mit Dominique de Roux verhindert. 1963 war Gombrowicz nach Europa zurückgekehrt, um auf Einladung der Ford Foundation ein Jahr in Berlin zu verbringen. Dem mehr als 1000-seitigen «Tagebuch», das Gombrowicz für die polnische Exilzeitschrift «Kultura» seit 1953 führte, lässt sich entnehmen, dass es ein schwieriges Jahr für beide Seiten war. Gombrowicz flog dann nach Paris und reiste mit der jungen Studentin Marie-Rita Labrosse weiter in das südfranzösische Vence. Ein halbes Jahr vor seinem Tod aus Atemnot 1969 wird er sie heiraten.

Von den zahlreichen Männern, die er in den dunklen Ecken des Hafens von Buenos Aires und woanders aufsammelte, erzählt das intime Tagebuch «Kronos», das seine Witwe 2013 herausgab. Es wird in den nächsten Jahren bei Kampa folgen, wahrscheinlich begleitet von einem der Nachworte, in denen der einzig massgebliche Gombrowiczologe erklärt, wie das jeweilige Buch zu lesen ist. Sein Name: Witold Gombrowicz.

Neu und auf begeisternde Weise hat Kampa «Ferdydurke» von Rolf Fieguth übersetzen lassen. Die übrigen Bücher erscheinen in den noch immer frisch klingenden, durchgesehenen Hanser-Übersetzungen von Olaf Kühl und einmal von Renate Schmidgall. Nur in «Eine Art Testament» ist der etwas abgestandene «Sex-Appeal» zu finden.

Den unter Pseudonym verfassten Kriminalroman «Die Besessenen» will der Verleger Daniel Kampa in zwei Jahren bringen, möglichst mit einem Nachwort von Olga Tokarczuk. Gombrowicz war früh einer seiner Lieblingsautoren. Als ihm ein polnischer Mitstudent damals in Freiburg i. Ü. nicht glauben wollte, dass er einmal Gombrowicz verlegen werde, haben sie gewettet. Der Kontakt ist zwar abgerissen, aber die Wette, sagt Kampa zufrieden, habe er gewonnen. Wenn das nur nicht so reif klingen würde!

Bisher bei Kampa erschienene Titel von Witold Gombrowicz: Ferdydurke. Roman. Aus dem Polnischen von Rolf Fieguth. 368 S., Fr. 36.90. – Tagebuch 1953 bis 1969. Aus dem Polnischen von Olaf Kühl. 1162 S., Fr. 53.90. – Pornographie. Roman. Aus dem Polnischen von Renate Schmidgall. 250 S., Fr. 33.90. – Kosmos. Roman. Aus dem Polnischen von Olaf Kühl. 256 S., Fr. 34.90. – Eine Art Testament. Gespräche mit Dominique de Roux. Aus dem Polnischen von Walter Tiel und Rolf Fieguth. 204 S., Fr. 34.90. – Durch die Philosophie in 6 Stunden und 15 Minuten. Aus dem Französischen von Jutta Baden. Mit einem Vorwort von Francesco Matteo Cattaluccio. 136 S., Fr. 27.90. – Das Drama mit unserer Erotik. Aus dem Spanischen von Gisbert Haefs. 94 S., Fr. 26.90.

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