Sonntag, Dezember 1

Plötzlich ist es wieder da, das Notrecht. Das Parlament will damit ein einzelnes Stahlwerk retten, obwohl von Systemrelevanz nicht die Rede sein kann.

Stahlarbeiter in ihren silbernen, feuerfesten Arbeitskleidern sind eine imposante Erscheinung. Sie arbeiten – im Wortsinne – im Schweisse ihres Angesichts. Kein Wunder, dass ihnen grosse Sympathien entgegengebracht werden. Das gilt auch im Bundeshaus, wo morgen Montag die Wintersession beginnt. Ein Thema dabei: die staatliche Stützung der Stahlbranche. Ein Stahlwerk zu retten, fühlt sich gut an – und doch wäre es falsch und kurzsichtig. Aber der Reihe nach.

Begonnen hat alles vor rund zwei Jahren, als die Stahlbranche in eine Krise schlitterte. Auch ein Werk der AFV Beltrame Group im solothurnischen Gerlafingen mit rund 540 Mitarbeitenden geriet in Schieflage. Das rüttelte Bundesbern auf. Wohl noch gewöhnt an die drastischen Covid-19-Massnahmen und die Credit-Suisse-Krise, packte man gleich den Vorschlaghammer aus. In einer Motion wurde nicht weniger gefordert, als «das Stahlwerk zu retten, gegebenenfalls mit Notrecht».

Von Systemrelevanz kann keine Rede sein

Es ist eine drastische Wortwahl. Notrecht – die bewusste Aushebelung demokratischer und rechtsstaatlicher Prozesse – sollte selbstredend nur bei absoluten Ausnahmesituationen zum Zug kommen. Zu denken ist an die Abwehr schwerwiegender Störungen der öffentlichen Ordnung oder der inneren oder äusseren Sicherheit. Kaum jemand kann ernsthaft behaupten, der Konkurs einer Tochtergesellschaft eines italienischen Stahlkonzerns falle in diese Kategorie.

Dass ausgerechnet Vertreter des Gesetzgebers sich in einer Motion zu solchen Notrechts-Forderungen hinreissen lassen, ist bedenklich. Es untergräbt das Vertrauen in eine stabile Rechtsordnung. Natürlich könnte man das als Aussetzer in der Hitze des Gefechts abtun. Doch das zugrunde liegende Narrativ hält sich bis heute: nämlich, dass ein einzelnes Stahlwerk «systemrelevant» sein kann.

Es ist ein Argument, das bereits mehrfach widerlegt wurde, denn die Schweiz wäre bei einem Konkurs keineswegs von Versorgungsengpässen betroffen. Es gibt mehr als ein Dutzend Stahlhütten im grenznahen Ausland, die noch so froh sind, ihre Produkte in die Schweiz zu liefern. Und auch das ökologische Argument verfängt nicht, denn die Transportwege sind je nach Standort des Schweizer Verbrauchers erst noch kürzer.

Sogar Industrievertreter lehnen Staatshilfe ab

Vor diesem Hintergrund überrascht es nicht, dass es ausserhalb des Parlamentes kaum Anhänger einer Rettungspolitik gibt. So wehrt sich nicht nur der Bundesrat gegen die staatliche Stützung von privaten Firmen. Für einmal herrscht in der Öffentlichkeit grosse Einigkeit: Der Staat soll keine Stahlwerke retten. Vom «Tages-Anzeiger» zur NZZ, von den Universitäten zu den Think-Tanks: Alle raten unisono vor solchen Eingriffen ab. Ja selbst Swissmem, der Verband der Industrie, spricht sich explizit gegen eine solche Industriepolitik aus.

Für das langfristige Wohlergehen der Schweiz ist das ein gutes Zeichen. Vielen Menschen im Land ist bewusst, dass gute Wirtschaftspolitik nicht darin bestehen kann, ausgewählte Firmen zu retten. Dass sogar die Interessenvertreter der Industrie den Blick auf das grosse Ganze behalten, muss man ihnen hoch anrechnen. In den Nachbarländern kennen Industrievertreter keine solche Zurückhaltung – und Anschauungsunterricht in Sachen gute Wirtschaftspolitik bieten diese derzeit keineswegs.

Der Blick ins Ausland zeigt überdies: Die Stahlindustrie befindet sich weltweit in einer Krise, die zu einer Anpassung der Kapazitäten an die geringere Nachfrage führen muss. So hat vor wenigen Tagen Deutschlands grösster Stahlhersteller ThyssenKrupp bekanntgegeben, dass bis zum Jahr 2030 rund 5000 Stellen in der Stahlsparte wegfallen werden. Es sind somit keineswegs nur die hohen Strompreise in der Schweiz, die für die hiesigen Stahlwerke ein Problem darstellen.

Auf die Schweiz warten grosse Herausforderungen

Dessen ungeachtet werden in den nächsten Wochen im Bundeshaus wieder die üblichen Argumente für die Rettung von Stahlwerken vorgebracht werden. Dass diese verfangen, dürfte wohl auch mit einer gewissen Nostalgie zu tun haben. Stahlwerke sind ein Symbol für die Blütezeit der Industrialisierung, und viele assoziieren damit «die gute alte Zeit» – die Bilder von Stahlarbeitern in ihren silbernen Mänteln vor den Schmelzöfen bewegen uns.

Diese Nostalgie ist zwar nachvollziehbar, doch weder war früher alles besser, noch wird die kurzfristige Rettung eines Stahlwerks diese Zeit wiederbringen. Die Zukunft liegt vor uns, und hier warten grosse Herausforderungen auf die Schweiz, sei es die alternde Gesellschaft, sei es der digitale Wandel. Viel Zukunftsweisendes gäbe es in der anstehenden Wintersession anzupacken – die Rettung eines Stahlwerks gehört nicht dazu.

Jürg Müller ist Direktor des liberalen Think-Tanks Avenir Suisse.

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