Dienstag, April 1

Wie riskant ist die direkte Demokratie? Hat das Volk schon einmal unverantwortlich entschieden? Und wie vertragen sich die Volksrechte mit dem geplanten EU-Abkommen? Ein Gespräch mit dem Professor Andreas Kley.

Herr Kley, das Volk hat Ja gesagt zur Initiative für eine 13. AHV-Rente und sorgt damit für grossen politischen Wirbel. Wie riskant ist die direkte Demokratie?

Die Volksinitiative in der Form des ausgearbeiteten Entwurfs wird gerne als «revolutionäres» oder radikaldemokratisches Recht bezeichnet. Man muss allerdings stets im Auge behalten, dass Bundesrat und Bundesversammlung und nicht das Volk eine angenommene Initiative umsetzen und ergänzend eingreifen, wenn diese wichtige Fragen offenlässt. Diese Arbeitsteilung vermindert das Risiko. Das gilt auch für die AHV-Vorlage, bei der nun die Finanzierung geregelt werden muss.

Im Ausland können die Politiker das Rentenalter heraufsetzen und die Altersvorsorge reformieren, bei uns legt sich das Volk quer. Wird die direkte Demokratie zum Problem?

Keineswegs. Die repräsentative Demokratie ist nicht besser als die direkte, und Politiker sind nicht intelligenter als das Volk, das sie ja wählt. Politiker sind machtorientiert, und solche Leute unterliegen entsprechenden Versuchungen. In keiner Demokratie gibt es objektive Sicherungen gegen Fehlentscheide. Es stellt sich nur die Frage, wer die politische Verantwortung für den letzten Entschied trägt: die Stimmberechtigten, die gewählten Parlamentarier oder ein Verfassungsgericht. Die Eidgenossenschaft vertraut den Parlamentariern.

Gibt es einen Volksentscheid, von dem Sie sagen würden, dass er unverantwortlich war?

Eigentlich nicht. Es gibt Abstimmungen, über die man den Kopf schütteln muss, wenn man sich eine lösungsorientierte Politik wünscht. Das Minarett- und das Burkaverbot sind fragwürdige Symbole mit kontraproduktiver Wirkung und gehörten abgeschafft.

Das Volk handelt übers Ganze gesehen aber nicht gefährlicher als 246 Parlamentarier oder sieben Bundesräte?

Fünf Millionen Stimmberechtigte gleichen sich gegenseitig aus, das ist etwas beschränkter bei den 246 Parlamentariern auch oft der Fall. Bei den sieben Bundesräten besteht bereits das Risiko gefährlicher Entscheide. Der Bundesrat hat beispielsweise während des Vollmachtenregimes 1940 die Todesstrafe eingeführt, nachdem die Bundesversammlung 1937 nach langer Diskussion die Todesstrafe – Kriegsfälle ausgenommen – abgeschafft hatte.

Im Parlament streitet man sich öfters über die Umsetzung von Volksinitiativen, aktuelles Beispiel ist jene für ein Tabakwerbeverbot. Wie frei ist das Parlament bei der Auslegung des Volkswillens?

Die Interpretation der Verfassung ist Sache der Bundesversammlung, diese hat einen von niemandem kontrollierten Spielraum. Sie entscheidet stets nach politischen und nicht nach verfassungsrechtlichen Gesichtspunkten. Die Parlamentarier berufen sich regelmässig nur dann auf die Verfassung, wenn es ihrem eigenen Anliegen dient. Wenn das nicht der Fall ist, sagen sie, es brauche eine pragmatische Lösung. Entscheidend ist, ob das Anliegen eine Mehrheit findet, unabhängig davon, was in der Verfassung steht. Das ist ernüchternd.

Parlamentarier sind eben Politiker.

Das stimmt. Aber sie haben auf die Verfassung und auf die Bundesgesetze ihren Eid abgelegt. Dieser Eid ist ernst zu nehmen, und er ist die allerletzte Sicherung.

Die Initiativkomitees ihrerseits versuchen, das Parlament zu umgehen. Indem sie wie bei der AHV-Initiative vorschreiben, wann die Reform in Kraft treten muss. Oder sie verlangen, dass der Bundesrat ihre Initiative innert einer gewissen Frist via Verordnung umsetzt. Funktioniert das?

Nicht unbedingt. Es kommt auf die Interessenlage an. Wenn Bundesrat und Parlament der Ansicht sind, man könne eine Initiative nicht in dieser Form umsetzen, dann kann man nichts machen. Das Politische kann das Rechtliche übersteuern.

Daneben gibt es Initiativen, die so präzis formuliert sind, dass man sie direkt anwenden kann – zum Beispiel das Minarettverbot.

Beim Minarettverbot kann niemand behaupten, es sei nicht direkt anwendbar – also: Juristen können das schon behaupten, aber eigentlich ist es klar. Die Durchsetzungsinitiative der SVP beispielsweise war ebenfalls präzis formuliert. Sie regelte detailliert, in welchen Fällen die Gerichte eine Landesverweisung aussprechen müssen, und hielt fest, dass diese Bestimmungen direkt anwendbar seien. Diese Feststellung allein reicht allerdings nicht. Damit eine Verfassungsnorm direkt anwendbar ist, braucht es eine passende Infrastruktur an schon bestehenden Normen.

Die formulierte Volksinitiative gibt es seit 1891, sie wurde gegen grosse Widerstände eingeführt. Hat man das Initiativrecht früher ernster genommen?

Am Anfang schon – wobei zu Beginn nur wenige Initiativen angenommen wurden. In der Zwischenkriegszeit fingen Bundesrat und Bundesversammlung an, die direkte Demokratie auszuschalten. Sie entledigten sich der Volksbegehren, indem sie sie während Jahren und Jahrzehnten einfach schubladisierten.

Und die Initiativen lagen dann bis in alle Ewigkeit in der Schublade?

Sie wurden 10 bis 44 Jahre später als zurückgezogen erklärt, nachdem man die überlebenden Mitglieder der Komitees konsultiert hatte. 1949 wollten Bundesrat und Parlament die Praxis des Schubladisierens sogar gesetzlich verankern, womit sie das Initiativrecht zu einem Petitionsrecht herabgestuft hätten. Dagegen wehrte sich der Zürcher Staatsrechtler Zaccaria Giacometti in einem fulminanten Aufsatz in der NZZ. Das Ansinnen kam nicht durch.

Die Auseinandersetzungen um das Initiativrecht sind also keine neue Erscheinung.

Nein, denn die Volksinitiative ist «ein Antrag aus dem Volk an das Volk». Gemäss dem ursprünglichen Konzept umgeht die Initiative die Bundesversammlung. Das Volksinitiativrecht kratzt an der Selbstherrlichkeit des Parlaments.

Wie beurteilen Sie die Höhe der Unterschriftenzahl? Sind 100 000 Unterschriften für eine Initiative nicht langsam etwas wenig?

Das ursprüngliche Verhältnis von Quorum und Zahl der Stimmberechtigten stimmt nicht mehr, aber das Sammeln ist schwieriger geworden. Auf der Strasse erreicht man die Leute heute nicht mehr. Eine Erhöhung der Zahl würde das Initiativrecht einschränken. Das Sammeln der Unterschriften ist eine grosse finanzielle und personelle Herausforderung und wird regelmässig unterschätzt.

Welches ist für Sie der krasseste Fall einer Initiative, die das Parlament nicht umgesetzt hat?

Es sind zwei: die Alpeninitiative von 1994 und die Masseneinwanderungsinitiative von 2014. Die erste wurde vom sachlichen Umfang her zu etwa 5 Prozent umgesetzt, und bei der zweiten sieht es noch viel schlechter aus. Bei der Alpenschutzinitiative hat man zwar einen grossen Aufwand betrieben mit Schwerverkehrsabgabe, Neat und Verlagerung auf die Schiene. Doch in der Realität ist man weit von dem entfernt, was in der Verfassung steht.

Der Alpenschutzartikel steht seit dreissig Jahren, der Zuwanderungsartikel seit zehn Jahren in der Verfassung. Der Wille, sie umzusetzen, fehlt. Wäre es da staatspolitisch nicht geboten, die beiden Artikel zu streichen?

Das sollte man tatsächlich tun. Man sollte dem Volk vorschlagen, die entsprechende Bestimmung entweder anzupassen oder aufzuheben. Es wäre ein guter Weg, um der Verfassung wieder mehr Gewicht zu geben. Wenn das Volk das aber verweigert, so entsteht eine politisch-rechtliche Aporie: Soll das Anliegen nun vollständig umgesetzt werden, oder kann man mit dem Widerspruch fortfahren? Die Politiker setzen sich nicht diesem Risiko aus.

Die erwähnten zwei Initiativen wurden nicht umgesetzt, weil sie gegen die bilateralen Verträge mit der EU verstossen. Wie soll man den Konflikt zwischen Initiativen und Völkerrecht lösen?

Beim zwingenden Völkerrecht hat man das Initiativrecht bereits an die Leine genommen, solche Initiativen werden für ungültig erklärt. Die bilateralen Verträge mit der EU sind kein zwingendes, aber faktisch doch ein sehr bedeutsames Völkerrecht. Da geraten sich zwei Rechtsordnungen in die Quere: auf der einen Seite die Verfassung, an die man sich halten muss, auf der anderen Seite die abgeschlossenen Verträge. Derzeit gibt es keine befriedigende Lösung für diese Fälle, man wurstelt sich durch.

Das Problem dürfte sich mit dem neuen geplanten Abkommen mit der EU verschärfen. In etlichen Bereichen, etwa der Zuwanderung, könnte die Schweiz keine eigenen Regeln mehr aufstellen.

Tatsächlich dürfte es in Zukunft weitere Konflikte geben. Ich sehe folgende Lösung: Das Parlament arbeitet gleichzeitig mit dem neuen EU-Abkommen eine Verfassungsrevision aus und schreibt ausdrücklich fest, dass die neuen Verträge gegenüber dem Landesrecht Vorrang haben und dass widersprechende Volksinitiativen nicht mehr möglich sein werden. Dasselbe gilt für das Referendum: Wenn die Schweiz neue EU-Richtlinien übernehmen muss, dann muss das Referendum begrenzt werden. Ich halte es für ein Gebot der Ehrlichkeit, der Bevölkerung zu sagen: Wenn die Schweiz sich in die EU teilintegrieren soll, dann müssen wir uns an die Abkommen halten. Beim EWR hat man bezüglich des zu übernehmenden Rechts die Referendumsdemokratie eingeschränkt.

Beim EWR war vorgesehen, die Volksrechte einzuschränken?

Der Bundesrat hatte eine Verfassungsnorm vorgeschlagen, die in einer Übergangsbestimmung das fakultative Referendum für notwendige Änderungen des Bundesrechts ausschloss. Wenn man Verfassung, Verträge und Demokratie ernst nimmt, ist das der richtige Weg: Die Politik soll offen sagen, was auf das Land zukommen wird, es gibt keine Überraschungen.

Braucht es Ihrer Ansicht nach für das neue EU-Abkommen das doppelte Mehr von Volk und Ständen?

Wenn man es mit einer Verfassungsrevision für eine Einschränkung der Volksrechte verbindet, braucht es eine obligatorische Abstimmung mit doppeltem Mehr.

Und wenn man das nicht macht?

Dann ist die Rechtslage unklar, da es widersprüchliche Präzedenzfälle gibt. Die Bundesversammlung hatte das Freihandelsabkommen von 1972 und den EWR von 1992 dem doppelten Mehr unterstellt, obwohl das die Bundesverfassung nicht vorsah. Das war deshalb fragwürdig, weil in der Schweiz jede Abstimmung eine Verfassungsgrundlage benötigt. Andere Verträge, etwa die Europäische Menschenrechtskonvention, die Verfassungsrang aufweist, hat man nicht dem doppelten Mehr unterstellt. Im Ergebnis bilden die zwei Präjudizien keine tragfähigen Rechtsgrundlagen für die Forderung des Doppelmehrs.

Kritischer Verfassungsrechtler

Andreas Kley ist seit 2005 Professor für öffentliches Recht, Verfassungsgeschichte und Rechtsphilosophie an der Universität Zürich. Er verfasste u.a. eine Geschichte des öffentlichen Rechts der Schweiz, eine Biografie über Zaccaria Giacometti sowie, zusammen mit den Professoren Nadja Braun Binder und Andreas Glaser, ein Handbuch über die demokratischen Rechte in Bund und Kantonen. Kley hält sich nicht zurück, wenn es darum geht, Probleme in den politischen Institutionen und im Verfassungsrecht zu benennen. So kritisierte er in den letzten Jahren Bundesrat und Parlament wiederholt wegen des ausufernden Griffs zum Notrecht beim Coronavirus, bei der Axpo-Unterstützung und der Credit Suisse. 

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