Dienstag, Oktober 15

Der militant-extremistische Hizbullah hält Libanon in Geiselhaft. Seine Schwächung trägt aber kaum dazu bei, die politische Krise im Land zu entschärfen.

Wirtschaftskrise, Währungszerfall, wachsende Armut: Wenn vom Staatszerfall in Libanon die Rede ist, wird meist der Hizbullah dafür verantwortlich gemacht. Die schiitische Partei mit angeschlossener Miliz ist Teil der Regierung, überall im Land präsent, prägt Gesellschaft und Politik – und hat den jüngsten Krieg mit Israel provoziert. Darunter leidet das ganze Land. Dass die Führungsriege des Hizbullah nun durch israelische Bomben so gut wie ausgeschaltet wurde, ist für viele ein Grund zum Aufatmen. Doch an der politischen Krise in Libanon wird das wenig ändern.

Auch die anderen Parteien – jeweils dominiert von Christen, Drusen, Sunniten, um nur einige Gruppen in dem multireligiösen Land zu nennen – tragen dazu bei, Libanon zugrunde zu richten. Einer Formel entsprechend müssen die grössten Konfessionen in politischen Ämtern repräsentiert sein; der Proporz der Religionen ist in der Verfassung verankert. Das hat in der Vergangenheit immer wieder zu politischem Stillstand geführt: Ohne echten Wettbewerb stehen sich die verschiedenen Minderheiten oft gegenseitig im Weg.

Dennoch gelingt es den politischen Kontrahenten in gewissen Bereichen, sich jenseits der konfessionellen Trennlinien zu einigen: zum Beispiel, wenn es darum geht, sich zu bereichern. Dann schanzen sich die Mächtigsten im Land die dicksten Brocken gegenseitig zu – meist auf Kosten der Bevölkerung. In Beirut wurden Wolkenkratzer in verbotener Höhe gebaut und Hotels an Orten, die für das Gemeinwesen bestimmt waren. Weil die wichtigsten Politiker hinter diesen Projekten stecken, blieb der Protest dagegen ungehört.

Als die libanesische Regierung 2019 Steuern unter anderem auf Whatsapp-Telefongespräche einführen wollte, platzte vielen Libanesen der Kragen. Personen aus allen religiösen und politischen Gruppen versammelten sich auf der Strasse und demonstrierten gegen die gesamte politische Führung. Der sunnitische Ministerpräsident Saad Hariri, der zuvor zusammen mit dem Hizbullah regiert hatte, trat kurz darauf zurück.

Doch die geforderten Reformen blieben aus. Nach Angriffen der schiitischen Milizen Hizbullah und Amal auf die Protestierenden kam es immer wieder zu gewaltsamen Auseinandersetzungen – bis die gigantische Explosion von Hunderten Tonnen Ammoniumnitrat im Hafen von Beirut im August 2020 das ganze Land erschütterte. Die Wut auf die Verantwortlichen wuchs weiter. Doch die Kraft vieler Menschen reichte nicht für andauernde Proteste.

Manche haben allerdings gar kein Interesse an einem alternativen politischen System, das nicht an Konfessionen gebunden ist. Denn viele Menschen in Libanon haben nie einen funktionierenden Staat erlebt, der alle Bürger gleich behandelt. Deshalb verlassen sie sich lieber auf ihre Familien, ihre Nachbarschaft oder die Anführer ihrer konfessionellen Gruppen. Denn die helfen ihren Anhängern oft mit Kontakten oder finanziell – erwarten als Gegenleistung aber auch Unterstützung für ihre Politik.

Wer in Libanon etwas erreichen will, braucht «wasta», was übersetzt so viel heisst wie «Verbindungen» oder «Vetternwirtschaft». Das gilt seit Generationen und für die ganze Gesellschaft. Mithilfe guter Kontakte lassen sich Türen öffnen, Verfahren beschleunigen, Prozesse abwenden. Wer kann, nutzt solche Verbindungen. Darauf verzichten wollen nur wenige.

Durch die Schwächung des Hizbullah verändert sich deshalb nicht automatisch das politische System. Das Grundproblem bleibt bestehen: eine mächtige politische Elite, die es sich auf Kosten der Bevölkerung bequem macht – und ihr Geld und ihren Einfluss von Generation zu Generation weitergibt. Seit Jahrzehnten sind in Libanon dieselben Familien an der Macht.

Diese Struktur können nur die Libanesen selbst verändern: indem sie ihre politische Führung davonjagen und – unabhängig von ihrer Familie oder ihrer Konfession – sich politisch organisieren. Das würde für viele bedeuten, auf traditionellen Schutz zu verzichten, bevor ein funktionierender Staat aufgebaut ist. Der schwierigste Kampf steht den Libanesen noch bevor.

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