Freitag, April 25

Für die PiS-Partei war die Geschichte eine fundamentale Ressource ihrer Ideologie und Machtpolitik. Gepflegt wurden identitäre Diskurse im Zeichen des polnischen Opfermythos. Die neue Regierung Tusk gibt nun entschlossen Gegensteuer.

Im Vergleich zu Polen, das an einer Überdosis blutiger Geschichte leidet, ist die Schweizer Geschichte nachgerade anämisch. Während hierzulande keine Universität das Fach «Schweizer Geschichte» anbietet, werden in Polen erbitterte Diskussionen darüber geführt, ob das Danziger Museum des Zweiten Weltkriegs zu wenig «polonozentristisch» sei. In den vergangenen acht Jahren setzte die PiS-Regierung die patriotische Geschichtspolitik als Machtressource ein. Identitäre Diskurse wurden gestärkt, der polnische Opfermythos dominierte die Erinnerungskultur, das staatliche Institut für nationales Gedenken (IPN) wurde auf eine nationalkonservative Linie gebracht.

Der Wahlsieg von Donald Tusks Bürgerkoalition im vergangenen Oktober hat nun Bewegung in das stagnierende Pathos aus Heroismus und Märtyrertum gebracht. Präsident Andrzej Duda versuchte zwar, diesen Paradigmenwechsel homöopathisch abzuwehren. Er verzögerte die Ernennung der neuen Regierung um zwei Monate bis zum 13. Dezember. Die symbolische Bedeutung dieser Punktlandung war klar: An diesem Tag wurde 1981 das Kriegsrecht ausgerufen. Dudas Signal an die Bevölkerung lautete: Tusks Regierung ist so schlimm wie das Kriegsrecht unter General Jaruzelski.

Liste der Sündenfälle

Allerdings schlug die liberale Elite schnell zurück. Im Februar veröffentlichten führende polnische Historiker, unter ihnen Barbara Engelking, Andrzej Friszke und Pawel Machcewicz, einen Brandbrief, in dem sie mit scharfen Worten die «Ignoranz, Propaganda und Langeweile» im IPN kritisierten. Sie wandten sich gegen das «enge ethnische Verständnis des katholischen polnischen Volkes», das der Arbeit des IPN zugrunde liege.

Die Liste der Sündenfälle, die sie dem IPN vorwerfen, ist lang. Ein Mitarbeiter des IPN in Breslau (Wroclaw) war früher Mitglied einer rechtsradikalen Organisation. Auf Fotos war dokumentiert, wie er den römischen Gruss ausführte. Als Historiker präsentierte er die sogenannte Heiligkreuz-Brigade als patriotische Organisation, obwohl sie mit den Nazis kollaborierte und die polnische Heimatarmee bekämpfte. Zwei weitere Mitarbeiter des IPN behaupteten, die polnischen Juden im Jahr 1939 seien nicht Opfer, sondern Täter gewesen und hätten in den Ghettos bis 1941 deutlich besser gelebt als die polnische Bevölkerung. Ein anderer Mitarbeiter trat mit Vorträgen zum Thema «Die bolschewistischen Wurzeln der Gender-Ideologie» auf.

Zweigstellen des IPN organisierten Schiesskurse für Jugendliche und boten pädagogische Kurse an, in denen Kinder im Sandkasten Attrappen menschlicher Knochen ausgruben und damit für die Opfer des braunen und roten Totalitarismus sensibilisiert werden sollten. Die Verfasser des offenen Briefes fordern das Zurückstutzen der Aktivitäten des IPN auf ein reines Archiv – allerdings wissen sie genau, dass der amtierende PiS-Präsident Andrzej Duda ihren Vorstoss mit einem Veto belegen würde.

Mittlerweile haben die Auseinandersetzungen über die historische Deutungshoheit sogar die Briefmarkenfront erreicht. Die polnische Post zog ein Wertzeichen zurück, das den antikommunistischen Widerstandskämpfer Hieronim Dekutowski ehren sollte. Dekutowski gehört zu den sogenannten verstossenen Soldaten, die nach der Installierung einer kommunistischen Regierung weiter für die polnische Unabhängigkeit kämpften.

Allerdings waren bei weitem nicht alle dieser Partisanen Heldengestalten. So ermordete Józef Kuraś polnische Juden und vertrieb ethnische Slowaken aus Südpolen. Romuald Rajs liess orthodoxe Weissrussen erschiessen, brannte von ihnen bewohnte Dörfer nieder und verriet nach seiner Verhaftung seine Mitkämpfer.

Das Thema der verstossenen Soldaten (natürlich ohne ihre Kriegsverbrechen) passte perfekt in das Beuteschema der PiS-Geschichtspolitiker. Die Partisanen kämpften gegen die Nationalsozialisten und die Sowjetkommunisten für einen polnisch-katholischen Staat. Damit präfigurieren sie die geistige Belagerungssituation zwischen der deutschen und der russischen Bedrohung, die das Selbstverständnis der PiS-Partei bis heute bestimmt.

Der Streit um die verstossenen Soldaten hat dank der Initiative von polnischen PiS-Vertretern im Europaparlament auch eine internationale Dimension erhalten. In der «Entschliessung zur Bedeutung des europäischen Geschichtsbewusstseins für die Zukunft Europas» vom September 2019 wurden Nazideutschland und Stalins Sowjetunion auf eine Stufe gestellt und als totalitäre Regime bezeichnet. Ausserdem sollte der 25. Mai zum Internationalen Tag der Helden des Kampfes gegen den Totalitarismus ausgerufen werden.

Das Datum wurde bestimmt durch den Tag der Hinrichtung von Rittmeister Witold Pilecki im kommunistischen Polen. Zuvor hatte er im KZ Auschwitz Informationen über den Holocaust gesammelt, später im Warschauer Aufstand gegen die deutschen Truppen Widerstand geleistet und schliesslich gegen die sowjetischen Besetzer gekämpft. 2023 kam der Film «Pileckis Bericht» in die polnischen Kinos. Der Titelheld wird als blutender Schmerzensmann präsentiert, der durch sein Leiden die polnische Nation erlöst.

Der Weltkrieg als zentrales Trauma

Der Zweite Weltkrieg gehört bis heute zu den zentralen Traumata der polnischen Gesellschaft. Andrzej Wajda hat die Urkatastrophe in der berühmten Eingangsszene zu seinem Film «Katyń» (2007) eingefangen. Auf einer Brücke stossen im September 1939 zwei Flüchtlingsgruppen aufeinander – die einen fliehen vor dem deutschen Überfall, die anderen vor dem sowjetischen Einmarsch. 1943 schlugen die Nazis den Aufstand im Warschauer Ghetto nieder, 1944 den Warschauer Aufstand und machten dabei die polnische Hauptstadt dem Erdboden gleich. Am anderen Ufer der Weichsel stand die Rote Armee und schaute tatenlos zu.

Zu Recht betrachten sich die Polen als Opfer des brutalen Kriegs und der Teilung Europas durch den Eisernen Vorhang. Allerdings schreckte im Jahr 2000 das Buch «Nachbarn» des Historikers Jan Tomasz Gross die ganze Nation auf. Im Juli 1941 hatten polnische Bewohner des Orts Jedwabne mehrere hundert jüdische Männer, Frauen und Kinder in einer Scheune eingesperrt und bei lebendigem Leib verbrannt. Der Massenmord geschah zwar unter der deutschen Besetzung, aber ohne direkten Zwang.

Die erste PiS-Regierung reagierte 2006 mit einer «Lex Gross», die den öffentlichen Vorwurf, die «polnische Nation» habe mit den Nationalsozialisten oder den Sowjetkommunisten kollaboriert, unter Strafe stellte. Das Gesetz wurde zwar schnell vom Verfassungsgericht kassiert. Allerdings wiederholte sich dieses Versteckspiel im Jahr 2012, als Präsident Obama ausgerechnet bei einer postumen Ehrung des Widerstandskämpfers Jan Karski von «polnischen Todeslagern» sprach.

Obama entschuldigte sich zwar für den Missgriff, der Schaden war aber angerichtet. 2018 verabschiedete das polnische Parlament ein Gesetz, das jeden, der die «polnische Nation» einer Mitschuld an den Naziverbrechen bezichtigt, mit einer Haftstrafe von bis zu drei Jahren bedrohte. Nach internationalen Protesten, vor allem aus den USA und Israel, wurde das Gesetz abgeändert.

Zu dieser Zeit war jedoch bereits ein anderes Thema aus den Tiefen der Geschichte emporgestiegen, nämlich das Massaker von Wolhynien von 1943. Ukrainische Nationalisten hatten damals mehrere zehntausend Polen ermordet. Das Thema gewann schnell Auftrieb in nationalkonservativen Kreisen. 2016 anerkannte der Sejm dieses Kriegsverbrechen als Genozid am polnischen Volk und beschädigte damit die Beziehungen zur Ukraine nachhaltig. Im selben Jahr kam der Film «Wolhynien» mit kaum erträglichen Gewaltszenen in die polnischen Kinos. Der polnische Opferstatus wurde hier noch einmal in drastischen Mordszenen beglaubigt.

Dasselbe gilt für den Film «Rote Mohnblumen» (2024) über den Einsatz eines polnischen Korps in der verlustreichen Schlacht bei Montecassino. Die Handlung hat eine einfache Botschaft: Der jugendliche Protagonist lehnt die sinnlose Schlächterei ab, verwandelt sich aber durch die Liebe zu einer tapferen Krankenschwester in einen Kriegshelden. Der polnische General Anders trägt seine militärische Verantwortung in die sorgenvollen Gesichtszüge gemeisselt und wandelt als Denkmal aus Fleisch und Blut durch die Kampfszenen.

Kofinanziert wurde der Film durch die patriotische polnische Nationalstiftung, die seit 2016 das Ansehen Polens im Ausland verbessern soll. Zahlreiche staatsnahe Firmen investierten in diese Institution. Viele PR-Aktionen der Nationalstiftung waren fragwürdig. So wurden Social-Media-Profile ohne Reichweite geschaffen. Liam Neeson las mit bedeutungsschwerer Miene eine vorformulierte Botschaft zum polnischen Freiheitskampf ab. Schliesslich wurde sogar eine Plakatkampagne für die umstrittene PiS-Justizreform organisiert.

Es gibt auch Differenzierung

Seit Februar herrscht offener Krieg zwischen der Nationalstiftung und dem Kulturministerium. Der neue Kulturminister Bartlomiej Sienkiewicz, ein streitbarer Urenkel des Literaturnobelpreisträgers Henryk Sienkiewicz, warf der Stiftung intransparentes Finanzgebaren und politisches Lobbying vor. Darauf trat der Stiftungsrat aus Protest in corpore zurück.

Mittlerweile gibt es auch differenziertere Geschichtsbetrachtungen im polnischen Kino. Der Film «Grodno 39» (2022) thematisiert die ethnischen Spannungen am Vorabend des Zweiten Weltkriegs. Ein jüdischer Junge wird von polnischen Faschisten bedrängt (auch die gab es). Nach dem Überfall der Rotarmisten werden aber alle Bewohner der Stadt, die der Konterrevolution verdächtigt werden, von den Russen erschossen.

«Weisser Mut» (2024) beschäftigt sich mit dem nationalsozialistischen Projekt des Goralenvolkes, das aus den Bewohnern der südpolnischen Tatra Nachfahren eines gotischen Stammes machen wollte. Der Film inszeniert den Konflikt der «Goralen» zwischen Kollaboration und Widerstand als Bruderzwist, in dem auch eine erotische Rivalität eine Rolle spielt. Beide Filme erheben sich über das traditionelle Opfernarrativ und beschäftigen sich mit dem, was Bartlomiej Sienkiewicz, selbst Historiker, die kollektive posttraumatische Belastungsstörung Polens nennt.

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