Samstag, November 2

Er sympathisierte mit vielen ihrer Ideen, doch jetzt rechnet der Pop-Theoretiker und Buchautor Jens Balzer mit der woken Linken ab. Das Ausmass des Israel-Hasses sei verstörend, sagt er im Gespräch.

Jens Balzer gehört zu denen, die aus dem, was sie bewegt, Bücher schreiben. Deshalb blickt einer der führenden deutschen Pop-Theoretiker mit 55 schon auf ein breites Werk. Während andere Intellektuelle und Künstler sich lieber nicht mehr aussetzen beim Thema Nahostkonflikt, hat es Balzer auch diesmal gedrängt, seine Gedanken aufzuschreiben. Seinem schmalen Buch «After Woke» liegt die Enttäuschung über eine Szene zugrunde, der er sich bislang zugehörig fühlte.

Balzer hat in seinen Büchern die siebziger, achtziger und neunziger Jahre analysiert. Wenn er über Musik und Sprache schreibt, interessiert er sich genauso für den Schlager wie für Michel Foucault. Der Überfall der Hamas auf Israel bewog ihn zu seiner jetzigen Kritik an der linken Ideologie, die zwar Diversität propagiert, aber Andersdenkende ausgrenzt. All ihre Ideen entsorgt haben, das will er dennoch nicht.

Jens Balzer, Sie schreiben am Anfang Ihres Buchs: «Die palästinensischen Terrorist*innen überfallen ein Trance-Techno-Festival, das Supernova.» Die «Angreifer*innen» hätten gemordet und vergewaltigt. Ist das Ihr Ernst?

Mein Lektor und ich haben lange darüber nachgedacht und uns schliesslich dafür entschieden, konsequent zu gendern.

Die Terroristen, die das Massaker verübten, waren ausschliesslich Männer. Männer übten die sexualisierte Gewalt aus. Übertreiben Sie es nicht mit Ihrer, verzeihen Sie, Wokeness?

Unter den Frauen in Gaza hat es auch Täterinnen. Sie haben gejubelt, als die Terroristen die israelischen Geiseln nach Gaza brachten, sie haben sie in Empfang genommen. Die Geiseln waren bei Familien untergebracht, wo sie mit Palästinenserinnen zusammenlebten. Ich will die Frauen, Schwestern und Töchter der Hamas nicht aus der Verantwortung nehmen. Sie sind nicht bloss Opfer, nur weil sie in einer patriarchalen Gesellschaft leben.

Es scheint, als wollten Sie es sich mit der woken Linken nicht ganz verderben. Liegt im Genderstern auch ein Versöhnungsangebot?

Es ist eher ein Zeichen dafür, dass ich mich von den ursprünglichen Werten der woken Geistesgeschichte nicht verabschieden will. Der Begriff «woke» kommt aus der afroamerikanischen Geschichte. Er bedeutet: wachsam zu sein gegenüber Gefahren, die diskriminierten Menschen drohen. Damit verbunden ist die Fähigkeit zu Selbstkritik, dass man also wachsam gegenüber den eigenen Vorurteilen bleibt und dem möglicherweise verzerrten Blick auf die Welt. Diese Anliegen bleiben erstrebenswert. Nur hat sich ein Teil der Linken davon entfernt.

Diese woke Linke sei unfähig geworden, sich selbst zu hinterfragen, schreiben Sie. Sie zeige eine selektive Empathie, was sich nach dem Überfall der Hamas auf Israel besonders deutlich manifestiert habe. Fiel Ihnen diese Fehlentwicklung erst da auf?

Ein Teil der Linken ist schon vorher falsch abgebogen. Aber was nach dem 7. Oktober passierte, war verstörend. Da war zuerst diese klirrende Kälte gegenüber den Opfern. Postkoloniale Linke sahen in den Opfern «legitime Ziele» im Kampf um sogenannte Dekolonialisierung. Seither ist eine antizionistische und teilweise antisemitische Haltung im Kulturbetrieb in Deutschland normal geworden.

Wie stark leiden jüdische Kulturschaffende über ein Jahr später in Deutschland?

Es wurde sogar noch schlimmer. Das Ausmass der Boykotte ist gewaltig. Existenzen werden beschädigt und zum Teil vernichtet. Ich sprach neulich mit einer israelischen Kunstkritikerin, die von Berlin nach Palermo gezogen ist, weil sie den Antisemitismus hier nicht mehr aushält. Sie meint, dass es ihr seit dem 7. Oktober nicht mehr gelungen sei, in internationalen Kunstmagazinen Rezensionen von israelischen Künstlern unterzubringen.

Gerade haben über tausend Schriftsteller und Intellektuelle, unter ihnen Sally Rooney, Rachel Kushner und Annie Ernaux, zum Boykott israelischer Verlage und Kulturinstitute aufgerufen. Warum wirken solche Proteste immer auch so infantil?

Es ist eine Regression in binäre Schemata von Gut und Böse, Schwarz und Weiss, also in die Verhaltensweise des Kindes. Es gibt aber auch reale moralische Einschüchterungsversuche. In Berlin hat sich die Szene dermassen radikalisiert, dass Leute körperlich bedroht werden, auch in ihrer Privatsphäre. Man macht persönliche Daten und Wohnungsadressen ausfindig. Es gab den Farbbeutel-Anschlag auf das Haus des Kultursenators Joe Chialo. Diverse Antisemitismus-kritische Klubs und Kneipen werden angegriffen.

Sie kennen sich in der Klubszene aus. Der links-alternative Berliner Technoklub About Blank soll Hetze und Drohungen erleben allein deshalb, weil er im Nahostkonflikt nicht eindeutig gegen Israel Partei ergreift. Was passiert da gerade?

In diesem Klub hat man lange über die Positionierung diskutiert und beschlossen, für das Existenzrecht Israels einzustehen und den Terror der Hamas und des Hizbullah zu verurteilen. Das reicht schon, damit es heisst: Ihr seid faschistische Zionisten.

Auffällig ist die fehlende Solidarität der Klubszene mit den Opfern des Supernova-Musikfestivals, wo Hunderte von jungen Leuten bloss feiern und eine gute Zeit haben wollten. Schmerzt Sie das besonders?

Es ist enttäuschend. Schon in den vergangenen Jahrzehnten hat man gesehen, wie sich antisemitische Ressentiments ausbreiten in der Klubszene. Diese ist sehr divers, mit Expats von überall auf der Welt. Zumindest unmittelbar nach dem 7. Oktober hätte man innehalten müssen für einen Moment. Das war kein verdammter Befreiungskampf, sondern die Tat einer islamofaschistischen Terrorbande, die sexualisierte Gewalt als Mittel einsetzt. Doch was folgte, war dröhnendes Schweigen.

Dies von einer Szene, die sich sonst «love and peace» auf die Regenbogenfahne schreibt.

Die politische Utopie der Klubkultur ging immer dahin, den Dancefloor als Safe Space zu sehen. Das hat über Jahrzehnte gut funktioniert. Der Mythos Berlin in den 1990er Jahren war Techno. Techno war der Soundtrack der Wiedervereinigung für die Ost- und die Westjugend. Man tanzte im Klub Tresor, und es war völlig egal, wer von wo kommt. Diese Kultur ist ruiniert und komplett ins Gegenteil gekippt. Das ist umso ironischer, weil es inzwischen in jedem Klub ein Awareness-Team gibt, das zu höchster Sensibilität mahnt und dafür sorgt, dass sich niemand unwohl fühlt. Und nun wird plötzlich dem Hass freier Lauf gelassen.

Deutsche DJ liebten es einst, in Tel Aviv aufzulegen, der Stadt im Nahen Osten, die für ihre Toleranz und Offenheit bekannt ist. Wann wurde die Szene israelfeindlich?

Nach dem Arabischen Frühling 2010 kamen viele Musikerinnen und Musiker aus Tunesien und Marokko nach Berlin. Später die Geflüchteten aus Syrien. Sie wurden zu einer wichtigen Säule im Nachtleben. Das ist musikalisch interessant, keine Frage. Aber viele dieser Leute brachten die antiisraelische oder antisemitische Haltung ihrer Heimatländer mit, und sie trafen auf eine Generation junger Deutscher, denen das binäre Denken mancher Postkolonialisten – die Juden sind weisse Siedlerkolonialisten, die ein indigenes Volk unterdrücken – eine neue Möglichkeit bot, sich von der Geschichte der deutschen Schuld weisszuwaschen. Viele sind aber auch einfach nur Opportunisten. Antisemitismus hat ja noch nie ohne Mitläufertum funktioniert.

Auffällig ist die historische und geopolitische Ignoranz vieler Leute, die an Demos «From the river to the sea» skandieren.

Es kommt mir vor wie in den 1980er Jahren, als jeder auf dem Schulhof einen Anti-Atomkraft-Sticker trug, um dazuzugehören. Die Pop-Kultur und die Pop-Musik wurden schon immer politisch, indem sie in einfachen Gegensätzen denken. Man war gegen den Vietnamkrieg, und dabei war völlig klar, wer die Guten und die Bösen sind, obwohl es sich mit einem genaueren Blick auf die Geschichte wahrscheinlich komplizierter verhält. In ihren Pamphleten schreiben Gruppen wie Ravers for Palestine, wie dankbar sie seien, dass ihr künstlerisches Tun wieder politisiert worden sei. Darunter verstehen sie, Klubs zu boykottieren, die nicht ihre politischen Positionen teilen. Eine ganze Generation hat gerade ein politisches Erweckungserlebnis.

Die Palästinenser werden von der woken Linken als indigenes Volk verklärt. Woher kommt das?

Man scheint in der postkolonialen Theorie erkannt zu haben, dass es nichts wird mit der Globalisierung, deswegen sehnt man sich nach dem Authentischen, Reinen und Ursprünglichen und besinnt sich auf Blut und Boden zurück. Deshalb auch der Fimmel des linken Kulturbetriebs mit dem sogenannt Indigenen.

Sie sprechen vom moralischen Bankrott der woken Linken. Was bleibt da noch übrig?

Der Wunsch nach Dialog ist gross, nach einem freieren Denken und einer Kritik der binären Gegensätze. Das zeigen die Reaktionen auf mein Buch. Insofern ist nicht alles verloren. Mit Jürgen Habermas’ Diskursethik formuliert: Wie gestalten wir gesellschaftliche Diskurse weiterhin so, dass möglichst viele verschiedene Stimmen gleichberechtigt zu Wort kommen und sicht- und hörbar sind?

Hat sich eine Theorie wie der Postkolonialismus nicht diskreditiert mit seiner stereotypen Einteilung der Welt in Unterdrücker und Unterdrückte? Muss eine solche Ideologie wirklich gerettet werden?

Der Postkolonialismus richtete sich zunächst kritisch gegen den europäischen Kolonialismus. Das postkoloniale Denken darüber, wie verzerrt Kulturgeschichte erzählt wird, hat seine Berechtigung behalten. Viele deutsche Unternehmen haben nach wie vor ihre kolonialen Verstrickungen, die nicht hinreichend aufgearbeitet sind. Dahinter möchte ich nicht zurückgehen, auch wenn jetzt gewisse Leute sagen: «Alle Postkolonialen sind ohnehin antisemitisch, machen wir Schluss mit dem ganzen Quatsch.»

Meinen Sie damit den «Triumphalismus der Rechten», gegen den Sie sich ebenso wehren?

«Woke» wird ja inzwischen fast nur noch als Schimpfwort im Kulturkampf von rechts gebraucht. Konservative und reaktionäre Stimmen nutzen die Gelegenheit der intellektuellen Verwirrtheit nach dem 7. Oktober, um das Ende der Wokeness zu fordern. Selbstbestimmung und gesellschaftliche und politische Teilhabe von Minderheiten muss aber ein Ziel bleiben. Ausnahmslos. Deshalb sollte auch die woke Linke die Kritik, die sie an anderen anbringt, auf sich selber anwenden.

Was wäre so schlimm daran, wenn der Begriff «woke» verschwinden würde?

Meinetwegen kann der auch weg. Ich habe den Titel des Buches gewählt, weil er nach After Work klingt. Ich habe mir diesen einzigen Gag in einer verzweifelten Lage erlaubt. Ich plane aber tatsächlich eine After-Woke-Party. Das DJ-Team Eddi und Hannah Arendt ist schon gebucht.

Jens Balzer: After Woke. Verlag Matthes & Seitz, Berlin 2024. 105 S., Fr. 18.90. – Am 6. November stellt der Autor sein Buch im «Kaufleuten» in Zürich vor.

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