Dienstag, November 26

Hat die Nummer eins gedopt? Der Schiedsspruch des Sportgerichts steht aus, die Szene ist verunsichert. Denn eine Verurteilung von Jannik Sinner hätte weitreichende Konsequenzen.

Die Tennissaison strebt ihrem Ende entgegen. Am Sonntag werden die Titel an den beiden ATP-500-Turnieren von Basel und Wien vergeben. Danach folgt der eigentliche Schlussspurt mit dem letzten Masters-1000-Turnier in Paris-Bercy, den ATP-Finals in Turin und dem Davis-Cup-Finalturnier in Malaga, wo sich die Tennisszene noch einmal vor Rafael Nadal verbeugen wird.

Mit dem Abschied des 38-jährigen Mallorquiners geht im Männer-Tennis eine Ära zu Ende. Zwei Jahre nach Roger Federer zieht sich auch der zweite jener drei Spieler zurück, welche die vergangenen zwanzig Jahre auf der ATP-Tour geprägt haben. Auch das Ende der Karriere von Novak Djokovic scheint absehbar. Der Serbe ist 37 Jahre alt. Er blickt auf eine seiner schwächsten Saisons in den vergangenen Jahren zurück. Er gewann in Paris Olympiagold und schloss damit die letzte relevante Lücke, die es in seinem Palmarès noch gab. Vor einer Woche trat er beim Six Kings Slam, einer Exhibition in Riad, an und sagte am Rande jener Veranstaltung, sein Augenmerk habe in dieser Saison auf Olympia gelegen.

Djokovics Rechnung ging auf, doch er zahlte auch den Preis dafür. Es ist offen, ob der 24-fache Grand-Slam-Sieger die ATP-Finals in Turin (10. bis 17. November) bestreitet. Sofern er sich für diese überhaupt qualifiziert. Im sogenannten Race um die acht Startplätze belegt Djokovic momentan den sechsten Rang. Casper Ruud und Andrei Rublew bedrängen ihn. Doch Gefahr droht auch noch von anderen Konkurrenten.

In Turin wird sich ohnehin vieles, wenn nicht sogar alles um Jannik Sinner drehen. Der Südtiroler führt das Ranking an und ist der Dominator der Saison. Der 23-jährige Italiener hat 2024 65 seiner 71 Partien gewonnen. Er holte 7 Turniersiege, darunter jene an den Grand-Slam-Turnieren von Melbourne und dem US Open.

Der Schatten des Dopings

Sinner scheint dazu auserkoren, die Lücke zu schliessen, die sich hinter Federer, Nadal und Djokovic öffnete und lange nicht besetzt wurde. Bis vor kurzem galt er als perfekter Botschafter für den Tennissport. Er ist freundlich, umgänglich und professionell, und vor allem spielt er fast schon unanständig gut Tennis. Wenn da nur der Schatten des Dopings nicht wäre.

Im Sommer drang an die Öffentlichkeit, dass Sinner im Frühjahr am Turnier von Indian Wells und später auch bei einer Trainingskontrolle zweimal positiv auf das Steroid Clostebol getestet worden war. Gesperrt wurde er jedoch nicht. Offensichtlich konnte sein Umfeld den Antidopingbehörden relativ schlüssige Beweise vorlegen, dass die verbotene Substanz über die Hände des Physiotherapeuten in den Blutkreislauf des Tennisspielers gelangt ist. Ein unabhängiges Gericht sprach Sinner deshalb frei. Doch die Welt-Anti-Doping-Agentur (Wada) akzeptierte den Befund nicht, sondern legte Ende September Berufung beim internationalen Sportgericht in Lausanne (TAS) ein. Dessen Schiedsspruch steht noch aus.

Seitdem läuft die Tennistour nur noch unter Vorbehalt. Jedes Turnier, an dem Sinner seit den positiven Tests im Frühjahr teilgenommen, jeder Titel, den er gewonnen hat, ist nur unter Vorbehalt in der Wertung. Sollte der Sportgerichtshof der Argumentation der Wada folgen und Sinner doch sperren, wäre das ein riesiger Imageschaden für den Tennissport. Die Weltrangliste müsste neu geschrieben werden. 8000 seiner derzeit 11 920 Punkte würden gestrichen, dazu fallen ihm am Montag die 500 Punkte seines Turniersieges vor einem Jahr in Wien aus der Wertung – mit 3420 Punkten, die ihm noch blieben, fiele er im Ranking von Platz eins aus den Top Ten. Verlieren würde er auch den Grossteil der 12 Millionen Dollar Preisgeld, die er gewonnen hat.

Der Imageschaden für die ganze Tennisszene wäre umso grösser, als sie ohnehin nicht gerade im Ruf steht, entschieden gegen Dopingsünder vorzugehen. Herwig Straka ist Mitglied im Führungs-Board der ATP und einer der führenden Event- und Athletenbetreuer in Österreich. Der 58-jährige Grazer ist bekannt für ungewöhnliche Ideen. Einst veranstaltete er ein Tennisturnier auf dem Dach eines Einkaufszentrums. Mittlerweile führt er das ATP-500-Turnier in der Wiener Stadthalle, das in direkter Konkurrenz zu den Basler Swiss Indoors steht.

Straka ist direkt von den Vorwürfen rund um Sinner betroffen. Der Südtiroler hat sein Turnier vor einem Jahr gewonnen und wäre in diesem Herbst wohl ohne die Dopinggerüchte auch zur Titelverteidigung angetreten. Entsprechend zurückhaltend gibt sich Straka deshalb, wenn es um die Beurteilung des Falles geht. Im Prinzip gebe es zwei positive Tests und damit auch einen Dopingfall, sagt er. Deshalb verstehe er, dass gerade auch Konkurrenten des Südtirolers nun vehement auf eine Sanktionierung von Sinner pochen würden. «Doch ich bin auch Jurist. Es gibt kein Recht im Unrecht. Was ich damit sagen will: Von der Tatsache, dass ein Autofahrer zu schnell gefahren ist oder falsch parkiert hat und deswegen gebüsst worden ist, lässt sich nicht automatisch ein Recht ableiten, dass jeder, dem solches vorgeworfen wird, auch ebenso bestraft wird.» Offensichtlich habe Sinners Team schlüssig belegen können, dass die Substanz ohne Absicht und Wissen des Spielers in dessen Körper gelangt sei. «Deshalb kann das Urteil nach meinem Rechtsempfinden nur dann umgestossen werden, wenn dem Verfahren relevante Fehler nachgewiesen werden können.»

Straka hätte dem Wiener Publikum den Weltranglistenersten nur zu gerne in der Stadthalle präsentiert. Doch nicht nur dieser, sondern auch Sinners letztjähriger Finalgegner Daniil Medwedew sagte seine Teilnahme kurzfristig ab. Stattdessen nahmen beide an den sogenannten Six Kings Slams teil, die in der vergangenen Woche in Riad durchgeführt wurden und die Spieler mit hohen Antrittsgagen und Preisgeldern lockten. Sinner habe ihm schon frühzeitig signalisiert, dass er die Saison nicht ohne Pause durchspielen könne, sagt Straka. Ursprünglich hatte der Italiener vorgehabt, in der Woche vor dem Wiener Turnier zu pausieren. Doch dann kam das fast schon unanständige Angebot aus Saudiarabien, und die Österreicher blickten in die Röhre.

Thiems Abschied mit 31 Jahren

Die Swiss Indoors in Basel befinden sich in einer vergleichbaren Situation. Strakas Branchenkollege Roger Brennwald hatte sich aber nicht um Sinner, sondern um dessen grossen Konkurrenten Carlos Alcaraz bemüht, der die beiden anderen Major-Turniere (Roland-Garros, Wimbledon) gewonnen hat – ebenfalls vergeblich. Es gibt zwischen den beiden Veranstaltern ein stilles Übereinkommen, sich gegenseitig die Aushängeschilder nicht abzuwerben. Lange war die Szene klar geregelt: Basel warb mit seinem ehemaligen Balljungen Roger Federer, in Wien war Dominic Thiem das designierte Aushängeschild.

Die beiden lassen sich nur schwer miteinander vergleichen: Federer gewann zwanzig, Thiem gerade einmal einen Major-Titel. Doch sein Sieg beim US Open 2020 war nicht der Start der Karriere des Niederösterreichers, sondern schon fast deren Ende. Kurz darauf musste er sich am Handgelenk operieren lassen. Von dieser für einen Tennisspieler heiklen Verletzung erholte er sich nie mehr wirklich. Am vergangenen Dienstagabend bestritt er in der Wiener Stadthalle seinen letzten Match und wurde stimmungsvoll verabschiedet. Ausgelaugt von der jahrelangen Arbeit auf dem Platz fehlte ihm die Motivation, sich noch einmal zurückzukämpfen.

Ausgerechnet in diesem Augenblick, in dem die Bühne für neue Stars und unverbrauchte Gesichter frei wäre, wird der Tenniszirkus von einem Dopingskandal bedroht. Herwig Straka ist kein Träumer. Er kennt das Geschäft nicht nur als Veranstalter, sondern auch als Athletenvertreter. Er hat sich unter anderem um die Karrieren der Tennisspieler Thiem und Thomas Muster, des Eishockeyspielers Thomas Vanek oder des Abfahrers Armin Assinger gekümmert. Er sagt: «Ich weiss, dass man sich mit solchen Aussagen zurückhalten sollte. Doch ich würde die Hand dafür ins Feuer legen, dass Jannik Sinner nicht wissentlich gedopt hat.» Wenn er sich mit dieser Aussage nur nicht verbrennt.

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