Donnerstag, September 19

Mit den Prämienverbilligungen wird die Krankenkasse für Einkommensschwache vergünstigt. Dennoch haben viele eine private Krankenzusatzversicherung, wie NZZ-Recherchen zeigen.

Die Krankenkassen-Prämienverbilligungen sind eines der wichtigsten sozialpolitischen Instrumente in der Schweiz. Sie sorgen dafür, dass sich auch einkommensschwache Haushalte die obligatorische Grundversicherung leisten können. Rund 28 Prozent aller Versicherten erhalten eine individuelle Prämienverbilligung (IPV), das sind 2,4 Millionen Personen.

Die Ausgaben für die IPV haben wegen der steigenden Gesundheitskosten stark zugenommen, sie sind von 1,5 Milliarden (1996) auf 6 Milliarden Franken (2023) gewachsen. Rund die Hälfte dieser Sozialtransfers bezahlt der Bund, den Rest die Kantone, die im Schweizer Föderalismus für das Gesundheitswesen zuständig sind.

Umfrage unter Krankenversicherern

Das öffentliche Interesse an den Prämienverbilligungen ist gross. So hat jüngst der FDP-Nationalrat Marcel Dobler eine Interpellation an den Bundesrat eingereicht. Der Politiker wollte wissen, ob der Bund über Daten verfüge oder zu erheben gedenke, wie viele IPV-Bezüger gleichzeitig eine Krankenzusatzversicherung abgeschlossen haben. Der Bundesrat antwortete Ende August, es lägen keine solchen Daten vor und er halte eine vertiefte Analyse für unverhältnismässig aufwendig.

Doch Zusatzversicherungen dürften bei IPV-Bezügern weit verbreitet sein. Die NZZ hat acht grosse Krankenversicherungen angefragt, eine davon lieferte entsprechende Daten. Im gesamten Versichertenbestand dieses Anbieters hatten 76,7 Prozent der Personen neben der Grundversicherung eine Krankenzusatzversicherung. Dies entspricht dem schweizerischen Durchschnitt, der laut einer Analyse des Vergleichsdienstes Comparis bei 78 Prozent liegen dürfte.

Bei den IPV-Bezügern liegt die Quote nicht viel tiefer: Es hätten «aktuell 71 Prozent der Bezügerinnen und Bezüger einer Prämienverbilligung mindestens eine Zusatzversicherung», teilt der Krankenversicherer mit.

Wie repräsentativ diese Zahl für die Gesamtschweiz ist, lässt sich nicht sagen. Doch auch andere angefragte Krankenkassenexperten gehen davon aus, dass es sich nicht nur um ein Randphänomen handelt.

Selbst teure Spitalversicherungen werden nachgefragt

Warum leisten sich viele IPV-Bezüger nebenbei eine freiwillige Versicherung? Beim fraglichen Anbieter heisst es, dass es sich dabei «meist um kleine Zusatzversicherungen» handle. So könne eine Zusatzversicherung gerade für Personen, die in knappen finanziellen Verhältnissen lebten, sinnvoll sein. Ein Beispiel ist die Versicherung für Zahnkorrekturen bei Kindern, die häufig nötig werden und schnell mehrere tausend Franken kosten. Entsprechende Zusatzversicherungen für Kinder sind für weniger als 10 Franken pro Monat zu haben. Sie können als Absicherung gegen ein grosses Kostenrisiko dienen.

IPV-Bezüger schrecken womöglich auch davor zurück, eine bestehende Zusatzversicherung zu kündigen. Das liegt daran, dass es für den Eintritt in eine Zusatzversicherung eine Gesundheitsprüfung braucht. Wer einmal drin ist, bleibt dabei, um nicht das Risiko einzugehen, später keine Zusatzversicherung mehr zu bekommen.

Die Zahlen zeigen allerdings, dass sich IPV-Bezüger nicht nur kleine Zusatzversicherungen leisten. Beim fraglichen Anbieter haben 17 Prozent der Bezüger eine vergleichsweise teure Spital-Zusatzversicherung (Privat, Halbprivat oder Flex). Dieser Wert liegt nicht viel niedriger als der gesamtschweizerische Durchschnitt, den der Verband Santésuisse in einer Studie auf 20 Prozent veranschlagt hat. Spital-Zusatzversicherungen gelten als Luxuslösung, weil man sich damit vor allem grösseren Komfort während eines Spitalaufenthalts kauft.

Prämienverbilligungen womöglich zu grosszügig

Ist das Verhalten der IPV-Bezüger ein Problem? Das hängt von der Sichtweise ab. Ein liberaler Staat zeichnet sich dadurch aus, dass er seinen Bürgern keine Vorschriften darüber macht, wie sie ihr Geld verwenden dürfen. Die Prämienverbilligungen dienen in dieser Sicht dazu, niedrige Einkommen aufzustocken und finanzielle Härten zu vermeiden. Darüber hinaus interessiert es den Staat nicht, ob IPV-Bezüger mit dem zusätzlichen Geld Lebensmittel kaufen, ein Netflix-Abo lösen oder sich eine Kranken-Zusatzversicherung leisten. Diese Wahlfreiheit soll auch die Eigenverantwortung stärken.

Aus einer anderen Perspektive hingegen sind die Zusammenhänge heikel. Der Grundgedanke hinter den Prämienverbilligungen lautet, dass auch Menschen, die sich das sonst nicht leisten könnten, in den Genuss der umfangreichen Kranken-Grundversicherung kommen. Da wirkt es stossend, wenn sich die Bezüger mit den Transfers eine Zusatzdeckung kaufen, die alle anderen Versicherten privat finanzieren müssen. Offensichtlich haben manche Bezüger finanziellen Spielraum. Das kann darauf hindeuten, dass die Prämienverbilligungen zu grosszügig ausgestaltet sind.

Bezüger nutzen ihren Spielraum

Im grösseren Kontext geht es um die Frage, wie einkommensschwache Haushalte mit ihrer Situation umgehen. In der politischen Diskussion wird oft argumentiert, dass die Bezüger von Prämienverbilligungen finanziell knapp dran seien. Sie müssten deshalb beispielsweise darauf achten, dass sie ihre monatlichen Ausgaben möglichst minimierten.

Ein Beispiel dafür ist die obligatorische Krankenversicherung. Dort kann man die monatlichen Ausgaben klein halten, indem man die höchste Franchise von 2500 Franken wählt. Die monatliche Krankenkassenprämie ist dann am niedrigsten. Dafür geht man ein höheres Kostenrisiko ein, wenn man tatsächlich krank wird. Die Höhe der Prämienverbilligung ist unabhängig von der gewählten Franchise.

Allerdings verhalten sich IPV-Bezüger genau gegenteilig. Das zeigt eine neue Studie der Basler Ökonomen Stefan Felder, Stefan Meyer und Kurt Schmidheiny im Auftrag des Krankenversicherers Helsana. IPV-Bezüger haben laut der im September erschienenen Studie eine um 11 Prozentpunkte niedrigere Wahrscheinlichkeit als Nichtbezüger, die 2500er-Franchise zu wählen. Stattdessen nehmen sie häufiger die 300er-Franchise. Sie zahlen dann zwar eine höhere Prämie pro Monat. Dafür gehen sie kein Risiko ein, dass im Krankheitsfall hohe Kosten anfallen. Das macht die Ausgaben übers Jahr besser planbar.

IPV-Bezüger scheinen also keine passiven Transferempfänger zu sein. Sie nutzen ihren Spielraum, um sich von der Prämienverbilligung «etwas zu kaufen». Mit Blick auf die Krankenkassenfranchisen leisten sich viele eine grössere Planbarkeit ihrer Ausgaben. Bei den Zusatzversicherungen entscheidet sich ein grosser Teil dazu, Geld in eine zusätzliche medizinische Abdeckung zu investieren. Das wirft die Frage auf, wie bedarfsgerecht die Prämienverbilligungen in der Schweiz tatsächlich ausgerichtet werden.

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