Sonntag, November 24

Die Lage in der Ukraine ist vertrackt: Keiner der beiden Kriegsparteien gelingt ein entscheidender Vorstoss, beiden mangelt es an Truppen und Material. Derweil macht ein «Siegesplan» von Wolodimir Selenski von sich reden, der politischen Sprengstoff birgt.

Verwaiste Autos säumen beide Seiten der Strasse am Stadtrand von Charkiw. Ihre Besitzer wurden aus dem Wagen herausgezerrt und direkt vor Ort mobilisiert. Einigen gelang es indes, rechtzeitig hinauszuspringen, sich in die Büsche zu schlagen und zu entkommen.

In allen ukrainischen Städten finden auf der Suche nach kampffähigen Männern Massenrazzien statt. Tausende von Einsatzkräften blockieren Strassen, stürmen Cafés und Restaurants, erwischen Leute auf der Strasse, in öffentlichen Verkehrsmitteln, am Ausgang der U-Bahn, kurz, überall da, wo immer die Jagd Erfolg verheisst.

200 000 neue Männer müssen der Armee jetzt zufliessen, aber nur 20 000 wurden bisher mobilisiert, also werden die Razzien weitergehen. Menschenjäger werden aus der Westukraine nach Charkiw geschickt, und Menschenjäger aus Charkiw grasen den Westen ab. Damit soll wohl verhindert werden, dass das Militär Bestechungsgelder annimmt, denn Männer, die auf der Strasse aufgegriffen werden, sind bereit, jedes Geld zu zahlen, um loszukommen. Wenn man sich aber an einem neuen Ort in fremder Umgebung bewegt, ist die Annahme von Bestechungsgeldern weitaus schwieriger.

Düstere Lage

Vor diesem dramatischen Hintergrund wird die katastrophale Steuererhöhung gerne übersehen. Katastrophal, weil sie nicht nur die Leute verarmen lässt, sondern auch kleine Unternehmen vernichtet. Viele von ihnen haben bereits zu schliessen begonnen.

Inzwischen sieht es auch an der Front schlecht aus. Allein in den letzten zwei Monaten hat die Ukraine fünfeinhalb Mal mehr Land verloren als im gesamten Jahr 2023. In der Region Kursk befinden wir uns auf dem Rückzug. Russland ist dort mit einer 50 000 Mann starken Armee aufmarschiert. Noch spricht niemand darüber, was passieren wird, wenn diese Horde die ukrainische Grenze erreicht. Die Horde wird nicht stehen bleiben. Sie wird versuchen, entweder nach Süden oder nach Westen, in Richtung Kiew, vorzustossen.

Bis Ende des Monats werden rund 11 000 Soldaten aus Nordkorea bereit sein, aufseiten Russlands in der Ukraine den Kampf aufzunehmen. Die Russen könnten bald eine weitere Offensive im Süden der Ukraine, in der Region Saporischja, starten. Inzwischen hört man immer öfter, dass auch Frauen und junge Männer ab achtzehn mobilisiert werden sollen, und kürzlich kam die Idee auf, auch ältere Männer an die Front zu schicken . . .

Vor diesem düsteren Hintergrund hat Präsident Selenski am 16. Oktober seinen Plan zur Beendigung des Krieges vorgestellt.

Der erste und vielleicht wichtigste Punkt besteht darin, dass die Ukraine «jetzt» in die Nato aufgenommen werden soll.

Der zweite Punkt besteht in der unumkehrbaren Stärkung der ukrainischen Verteidigung, wozu auch gehört, dass die westlichen Unterstützer die Beschränkungen für den Einsatz von Langstreckenwaffen auf russischem Gebiet aufheben.

In Punkt drei fordert die Ukraine, in Betracht zu ziehen, dass ein umfassendes nichtnukleares strategisches Abschreckungspaket auf ihrem Boden stationiert werde.

Es gibt noch zwei weitere Punkte, aber die ersten drei zeigen bereits, dass der Plan nicht ganz realistisch ist: Der Westen wird sich viel Zeit lassen, uns irgendwohin einzuladen, er wird uns nicht viel mehr erlauben als jetzt, und nichts wird ernsthaft in Betracht gezogen werden.

Im Vergleich zu anderen Vorstössen sieht Selenskis Plan jedoch gar nicht so schlecht aus. Schliesslich dürfte der «Friedensplan» eines wiedergewählten Präsidenten Trump darin bestehen, Putin alles zu geben, was er will. Diese Strategie wird nicht funktionieren, denn je mehr ein Diktator schluckt, desto grösser wird sein Appetit. Kamala Harris dagegen wird Putin wahrscheinlich zeigen wollen, dass der kollektive Westen nicht aufhören wird, die Ukraine zu unterstützen. Dies aber hat Putin noch nie aufgehalten, und so wird es auch diesmal sein. Und Putin selbst hat auch eine Art Plan, denn er behauptet, dass alles nach Plan laufe. Aber niemand hat diesen Plan jemals gesehen.

Zwei Informationsbomben

Gleich am folgenden Tag, dem 17. Oktober, sagte Selenski auf einer Pressekonferenz in Brüssel etwas, das die Anwesenden ebenso erschreckte wie verblüffte: «Wer hat auf Atomwaffen verzichtet? Alle? Nein. Die Ukraine. Und wer kämpft heute? Die Ukraine. – Entweder wird die Ukraine Atomwaffen haben, und das wird unser Schutz sein, oder wir sollten von einem Verteidigungsbündnis gestützt werden. Abgesehen von der Nato kennen wir heute kein Bündnis, welches das leisten kann.»

Im Schach nennt man diese Taktik eine Gabel: entweder Nato oder Atomwaffen.

Etwa zur gleichen Zeit detonierte eine weitere Informationsbombe: Die Ukraine verfüge über die Ressourcen und das Wissen zum Bau von Atomwaffen und könne notfalls innerhalb von Wochen eine Bombe herstellen, soll ein ungenannter ukrainischer Beamter gegenüber der «Bild»-Zeitung gesagt haben.

Der Hauptgrund, warum der Westen der Ukraine so unzureichend hilft, ist die Angst vor einer weiteren Eskalation des Krieges.

Dabei lohnt es sich, genauer darauf zu achten, was als Eskalation bezeichnet wird. Die Entsendung von nordkoreanischen Truppen in die Ukraine ist keine Eskalation. Iranische Drohnen und ballistische Raketen sind keine Eskalation. Die Sprengung des Kachowka-Staudamms stellt keine Eskalation dar.

Die Annexion ukrainischer Gebiete durch Russland ist keine Eskalation. Die Zerstörung des ukrainischen Energiesystems auch keine. Aber Angriffe auf russische Ölraffinerien gelten als Eskalation. Ukrainische Raketen über russischem Gebiet sind eine Eskalation. Eskalation ist, wenn etwas Russland stärker schadet, und das ist es, wovor die Welt Angst hat. Wenn etwas die Ukraine hart trifft, handelt es sich nicht um eine Eskalation, und die Welt lässt es geschehen.

Die ganze Diskrepanz besteht nur aus einem Grund: Russland kann den Rest der Welt schwer schädigen, die Ukraine nicht. Der Bär kann zubeissen, das Futter des Bären aber nicht.

Oder etwa doch?

Wenn Psychopathen regieren

Kann die Ukraine wirklich innerhalb von vierzehn Tagen Atomwaffen bauen? Wir besitzen fünfzehn Kernreaktoren. Wir haben die notwendige Technologie und unsere eigenen Oppenheimers, die genau wissen, wie man Atomwaffen fabriziert. Worüber wir aber nicht verfügen, ist eine Urananreicherungsanlage. Es würde mindestens zehn Jahre brauchen und hundert Milliarden Dollar kosten, eine solche von Grund auf zu bauen, um waffenfähiges Uran zu produzieren und eine vollständig autarke Kernwaffenproduktion zu starten. Selenskis Äusserungen hängen in der Luft und belegen vor allem seine Verzweiflung darüber, dass uns nicht der Nato-Beitritt angeboten wird.

Putin hat einmal gesagt: «Wozu brauchen wir eine Welt, in der es kein Russland gibt?» Was übersetzt heisst, dass es für ihn in Ordnung ist, die ganze Welt zu zerstören.

Selenskis Worte über die Atomwaffen könnten etwa dasselbe bedeutet haben: Wozu brauchen wir eine Welt, in der die Ukraine nicht dabei ist? – Weil Atomwaffen für zwei sich bekriegende Länder den Weg in die Hölle pflastern. Oder eher: drei kriegführende Länder, denn Nordkorea ist jetzt auch in den Krieg verwickelt und verfügt über Atomwaffen.

Wenn das Land, gegen dessen Invasion wir kämpfen, von einem Psychopathen regiert wird, heisst das nicht, dass wir auch Psychopathen sein sollten.

Auf einer weiteren Pressekonferenz in Brüssel sprach Selenski weniger über den Bau von Atomwaffen als vielmehr über den Beitritt der Ukraine zur Nato und über das Budapester Memorandum.

Das Budapester Memorandum, das im Dezember 1994 von den Staats- und Regierungschefs der Ukraine, Russlands, des Vereinigten Königreichs und der USA unterzeichnet wurde, sah unter anderem Folgendes vor: die Achtung und Wahrung der Unabhängigkeit und der territorialen Integrität der Ukraine, das Verbot der Anwendung von Gewalt gegen die Ukraine sowie den Verzicht auf wirtschaftlichen Zwang.

Im Gegenzug gab die Ukraine ihre Atomwaffen auf, die sie von der Sowjetunion geerbt hatte (das drittgrösste Atomwaffenarsenal der Welt nach Russland und den Vereinigten Staaten). So wurde sie vom guten oder vom üblen Willen der Garantiestaaten des Budapester Memorandums abhängig.

Russland hat mehrfach gegen das Memorandum verstossen: 2003 durch den Versuch, die ukrainische Insel Tusla zu erobern; 2014 durch die Besetzung der Krim sowie durch die Unterstützung des Separatismus in Charkiw, Odessa und anderen Regionen der Ukraine; sodann durch die Organisation eines bewaffneten «russischen» Aufstandes im Donbass und die Stationierung von eigenen Truppen ebenda und den Krieg in der Ostukraine; schliesslich mit der Durchführung einer umfassenden Invasion im Februar 2022.

Die Ukraine hat derweil viermal versucht, Konsultationen mit den Garantiestaaten des Budapester Memorandums einzuberufen, jedoch vergeblich. Auf einmal stellte sich heraus, dass das Memorandum bloss ein unverbindliches Dokument war. Für die Unterzeichnung dieses Stücks Papier, das rechtlich niemanden bindet, gab die Ukraine etwa 1900 nukleare Sprengköpfe für strategische Raketen und taktische Atomwaffen sowie Trägersysteme für Atomwaffen auf und wurde gegenüber ihrem nördlichen Nachbarn wehrlos.

Aber auch wenn der Wortlaut des Budapester Memorandums niemanden bindet, so tut dies doch sein Geist.

Auf dem Weg in die Hölle

Offenbar braucht die Ukraine Atomwaffen, damit sie nicht angegriffen wird. Jetzt ist es zu spät, solche zu bauen. Wir befinden uns bereits im Würgegriff von Russland, deshalb können wir jetzt auch nicht in die Nato, Atomwaffen sind keine reale Option, also können wir nur heldenhaft und schmerzvoll sterben, indem wir zuerst alle Männer, dann alle Frauen, dann die älteren Männer und die Kinder an die Front schicken, während der kollektive Westen zuschaut und alles tut, um eine Eskalation zu verhindern.

Aber es geht nicht allein um den nuklearen Status der Ukraine. Es ist nicht schwer, zu erraten, womit Putin den nordkoreanischen Diktator für seine Dienste bezahlen wird. Sicherlich nicht mit Lebensmitteln, und auch nicht mit Dollar. Nicht mit Panzern, viele hat er nicht mehr. Es ist klar, welche Art von Technologie Nordkorea, Iran, aber auch andere russlandtreue Länder vom Kreml wollen.

Die drastischste Eskalation hat bereits stattgefunden – 2014, als niemand Russland daran hinderte, die Krim zu besetzen. Damals fand der erste Verstoss gegen den Geist des Budapester Memorandums statt. Vielleicht war das der Zeitpunkt, an dem allen Ländern hätte klarwerden müssen, dass sie sich am besten eigene Atomwaffen zulegen sollten beziehungsweise vorhandene auf keinen Fall würden aufgeben dürfen, egal, welche Garantien die Mitglieder des Atomklubs abgaben: Die grossen Länder würden alle betrügen, so wie sie die Ukraine betrogen haben. Die gesamte globale Politik der Nichtverbreitung von Kernwaffen, die seit 1967 mühsam aufgebaut worden war, ging hier den Bach runter. Krim, 2014. Alles, was wir jetzt sehen, sind die Konsequenzen.

Im Zentrum von Charkiw irrt derweil ein verängstigter Hund zwischen den Häusern herum und schleift seine Leine hinter sich her. Der Mann, der sich auf die Strasse wagte, um mit ihm Gassi zu gehen, war sogleich ergriffen und mobilisiert worden, und der Hund blieb seinem Schicksal überlassen. Jetzt findet er nicht mehr zurück in sein sicheres Zuhause.

Genauso wenig wie der gesamte Planet, der seit 2014 den abschüssigen Weg in die Hölle zu begehen scheint. Selenskis Atomwaffenidee, die so viele erschreckt oder verwirrt hat, war nur eine weitere Etappe auf diesem düsteren Weg.

Sergei Gerasimow lebt als Schriftsteller in der Grossstadt Charkiw, die nach wie vor von den Russen beschossen wird. – Aus dem Englischen von A. Bn.

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