Die Reaktionen von Parlament und Bevölkerung haben einen versuchten Coup des Präsidenten gestoppt. Das Drama von Seoul zeigt: Die südkoreanische Zivilgesellschaft lässt sich keinen Rückfall in den Autoritarismus bieten.
Spezialkräfte, die das Parlamentsgebäude stürmen, Militärhelikopter am Himmel von Seoul und Panzer auf den Strassen der Millionenstadt: Derartige Szenen hat das Land seit den bleiernen achtziger Jahren nicht mehr gesehen. Doch am Dienstagabend schien es plötzlich möglich, dass Südkorea in eine autoritäre Vergangenheit zurückfällt.
Überraschend und mit absurden Argumenten hatte der politisch isolierte Präsident Yoon das Kriegsrecht ausgerufen. Die Opposition soll angeblich von nordkoreanischen Kräften unterwandert worden sein. Die politischen Gegner nähmen den parlamentarischen Prozess als Geisel. Sie verwandelten die Nationalversammlung in ein Monster, das die Demokratie zerstöre. Yoon ereiferte sich über angebliche Staatsfeinde, die vernichtet werden müssten.
Hochgradiger Realitätsverlust
Mancher Zuschauer des Auftritts dürfte sich gefragt haben, was in Yoon gefahren ist. Die Ausrufung des Kriegsrechts mutete wie die Verzweiflungstat eines gescheiterten Präsidenten an. Seine Partei hatte die letzte Parlamentswahl verloren, das Budget der Regierung war am Widerstand der linken Opposition gescheitert. Yoon fühlt sich von politischen Gegnern bedrängt und hat sich mit Fehlleistungen und einer skandalträchtigen Ehefrau selbst in eine Ecke manövriert. Woche für Woche marschieren Menschenmassen zum Protest gegen das Präsidentenpaar auf.
Als früherer Generalstaatsanwalt kennt sich Yoon mit dem Recht aus. Dass er glauben konnte, sich mit Kriegsrecht aus der politischen Bredouille zu befreien, zeugt von hochgradigem Realitätsverlust. Erst nach sechs hochdramatischen Stunden krebste Yoon zurück. Das Parlament, mit Unterstützung auch konservativer Parteikollegen Yoons, hatte die autoritären Verirrungen des Staatsoberhaupts einstimmig zurückgewiesen.
Vor dem Parlament versammelten sich aufgebrachte Bürgerinnen und Bürger. Sie umstellten mutig die gepanzerten Militärfahrzeuge. In Erinnerung bleibt das Bild einer wütenden Politikerin, die einen schwer bewaffneten Soldaten energisch zurechtweist und ihm dann das Maschinengewehr zu entreissen versucht. Glücklicherweise verkrochen sich die Militärangehörigen wenig später wieder in ihren Kasernen.
Südkoreas Demokratie ist am Dienstag tatsächlich in Gefahr geraten – aber nicht aus den von Yoon behaupteten Gründen, sondern wegen seines unverantwortlichen Manövers. Seoul wird von dem bis zu den Zähnen bewaffneten Nachbarn im Norden bedroht. Kim Jong Uns Schreckensregime ergötzt sich an der Vorstellung, Südkorea zu vernichten. Die nordkoreanischen Generäle sammeln an der Seite russischer Truppen gerade wertvolle Kriegserfahrung. Gegen die Diktatur im Norden braucht es glaubwürdige militärische Abschreckung – aber gewiss keinen Coup.
Yoon Suk Yeol hat mit seinem Angriff auf die Demokratie jegliches Vertrauen der Bevölkerung verspielt. Das vom Parlament eingeleitete Amtsenthebungsverfahren ist daher nur folgerichtig. Allerdings hinterlässt auch das Militär einen zweifelhaften Eindruck. Statt sich sofort und unmissverständlich von Yoon zu distanzieren, verbot ein willfähriger General kurzerhand alle politische Aktivitäten und unterstellte die Medien der Zensur. Auch die Mitverschwörer Yoons müssen daher zur Verantwortung gezogen werden.
Das demokratische Südkorea zeigte in den letzten vier Jahrzehnten, zu welchen Leistungen ein freiheitliches System fähig ist. In der brandgefährlichen Nacht vom 4. Dezember bewiesen Parlament und Bevölkerung, dass sie sich die demokratischen Errungenschaften nicht wieder entreissen lassen. Sie senden damit ein wichtiges Signal aus – an jene Eliten in Seoul, die ihre autoritären Reflexe offensichtlich noch nicht abgelegt haben.