Die Zahl klinischer Studien mit der Crispr/Cas-Genschere steigt. In den derzeit ausgetüftelten Behandlungen wird ein übereifriges Gen ausgeschaltet. Auch chronische Infektionen lassen sich damit bekämpfen.
Ein einziger kleiner Fehler im Erbgut kann eine schwere, manchmal sogar tödliche Krankheit verursachen. Es gibt einige tausend solcher Erkrankungen, von denen viele bisher nicht geheilt werden konnten wie etwa das ererbte Angioödem, das zu anfallartigen Schwellungen in Organen führt. Doch nun gibt es Hoffnung: Forscher arbeiten an einem sehr präzisen Gegenmittel. Sie wollen mit der Genschere namens Crispr/Cas das Übel an der Wurzel packen und den Fehler direkt im Erbgut beseitigen.
Was wie eine kühne Vision tönt, wird immer mehr zur Realität. Die erste Genschere-Therapie gegen zwei Blutkrankheiten wurde 2023 zugelassen, eine davon ist die Sichelzellanämie. Weitere Crispr/Cas-Behandlungen stehen vor der Genehmigung. Zudem laufen weltweit rund hundert Studien, in denen eine Genschere-Therapie ausgetestet wird. Es gibt erste Hinweise, dass Menschen nach der Behandlung jahrelang beschwerdefrei leben.
Ein wichtiger Faktor für den schnellen Fortschritt waren Rückschläge – und eine Richtungsänderung. Ursprünglich wollten die Forscher mit Genscheren defekte Gene oder Genabschnitte aus dem Erbgut herausschneiden und dann gesunde einbauen. Das erwies sich als technisch (noch) zu schwierig. Als machbar stellte sich das Ausschalten von Genen heraus.
So funktioniert die Genschere
Crispr/Cas ist eine Kombination aus Schere und Steuerungsfaden. Cas ist die Schere. Damit sie nicht wahllos im Erbgut herumschnipselt, leitet der Crispr-Faden sie. In Gentherapien wird der Faden so gestaltet, dass er an dem Ort im Erbgut bindet, der von Forschern anvisiert wird.
Für das Ausschalten eines Gens macht man sich die zellulären Reparatursysteme zunutze. Hat die Cas-Schere geschnitten, nähen diese Systeme den DNA-Faden umgehend wieder zusammen. Da in diesem Fall Tempo wichtiger ist als Präzision, entstehen beim Flicken kleine Fehler. Somit funktioniert das anvisierte Gen nicht mehr.
Dieser Ansatz ist immer dann segensreich, wenn unerwünschte Veränderungen (Mutationen) in einem Gen zu einer Überproduktion eines Proteins oder einem falsch aufgebauten Protein führen. In vielen Fällen löst das gesundheitliche Störungen aus.
Ein typisches Beispiel ist die Therapie gegen TTR-Klumpen, die zu Schmerzen, Muskelschwäche und anderen Beschwerden führen. Durch Veränderungen im Gen namens TTR kommt es zu einer Ansammlung von Proteinbröckchen. Diese reichern sich im Gehirn oder im Herzen an. Mit Crispr/Cas wird das TTR-Gen ausgeschaltet. In den klinischen Studien zeigte sich, dass dadurch die Menge an TTR-Klumpen deutlich reduziert wurde. Sollten auch die Beschwerden der Patienten zurückgehen, könnte diese Therapie demnächst zugelassen werden.
Auch Entzündungen, die nicht enden wollen, können mit der Genschere eingedämmt werden. Hier werden Gene ausgeschaltet, die wegen Mutationen dauerhaft Entzündungsstimulatoren aktivieren.
«Derzeit werden Crispr/Cas-Therapien nur für jene Erbkrankheiten entwickelt, bei denen ein einziges Gen defekt ist», erklärt Fjodor Urnov, Genetiker an der University of California in Berkeley. «Alles andere ist noch viel zu komplex.»
Das Ziel ist, Zellen direkt im Körper zu behandeln
Eine noch nicht bewältigte Herausforderung ist, wie man Gendefekte direkt in einem Organ repariert. Die bereits zugelassene Crispr/Cas-Therapie hat es da etwas einfacher: Sie soll ein Gen in Blutzellen ausschalten. Dafür werden den Patienten Blutzellen entnommen und ausserhalb des Körpers in einer Petrischale behandelt. Nur die Zellen, bei denen die Veränderung wie gewünscht stattgefunden hat, werden dem Patienten wieder per Infusion verabreicht. «So kann man auch kontrollieren, ob die Genschere wirklich spezifisch aktiv war», erklärt der Molekularbiologe Jacob Corn, der an der ETH Zürich die Arbeitsweise des Crispr/Cas-Werkzeugs erforscht.
Therapien im Körper bieten jedoch zwei grosse Vorteile. Erstens fallen diverse für die Patienten sehr belastende Begleitbehandlungen weg. Zweitens können Zellen in einem intakten Gewebe bearbeitet werden. Veränderte Zellen müssen sich also nicht wieder in ihr altes Netzwerk integrieren. Das klappt ohnehin nur in sehr seltenen Fällen.
Angesichts der vielen Fortschritte sind Experten überzeugt, dass schon in absehbarer Zeit immer mehr Erbkrankheiten mit der Genschere bekämpft und manche sogar geheilt werden können. Zudem wird das Crispr/Cas-Werkzeug mittlerweile nicht mehr nur gegen Erbkrankheiten eingesetzt. So will man auch eine chronische Blasenentzündung, gegen die Antibiotika machtlos sind, beenden. Dafür wird das Crispr/Cas-Duo in die Bakterien eingeschleust. Dort stürzt es sich auf das Erbgut und zerhäckselt es. Die Bakterien sterben. Diese Therapie könnte bereits 2025 auf den Markt kommen.
Trotzdem werden Gentherapien in naher Zukunft keine Massenanwendung werden. Das liegt zum einen daran, dass die Genschere derzeit nur gegen eine Handvoll Krankheiten erprobt wird. Zum anderen sind die Kosten für eine Genschere-Therapie exorbitant hoch. Für die bereits zugelassene Therapie müssen mehr als zwei Millionen Dollar aufgebracht werden. Selbst wenn man bedenkt, dass voraussichtlich eine einzige Anwendung im Leben ausreicht, ist das für viele Patientinnen und Patienten beziehungsweise deren Krankenkassen unerschwinglich.
Zudem wecken Gentherapien Ängste. Die Vorstellung, dass dauerhafte Veränderungen am Erbgut erfolgen, ist für viele Menschen gruselig. Und das lässt auch die Frage nach Nebenwirkungen dringlicher erscheinen als etwa bei Pillen. Die Verunsicherung wurde noch geschürt, als bekanntwurde, dass sich die Genschere manchmal an eine falsche Stelle im Erbgut verirrt.
«Doch es ist noch gar nicht sicher, dass dies in jedem Fall schädlich ist», betont Corn. Sein Team erforscht derzeit, wie man die Genschere noch präziser machen könnte.
Ideal für individuelle Therapien unheilbarer Krankheiten
Mit der Genschere verbunden ist eine grosse Hoffnung: Sie könnte individuelle Therapien gegen sehr seltene Erkrankungen ermöglichen, für die es keine Medikamente gibt – und damit die Betroffenen von Pharmaunternehmen unabhängig machen. Viele genetisch bedingte Krankheiten betreffen weltweit nur wenige Menschen. Es lohnt sich für Firmen oft nicht, dafür Therapien zu entwickeln.
«Ich bekomme jeden Tag Briefe von verzweifelten Eltern, deren Kind wegen eines fatalen Gendefekts nur noch wenige Monate zu leben hat», berichtet Urnov. «Ich bin überzeugt: Hier müssen wir helfen.»
In Europa dürfen Mediziner für eigene Patienten mit schweren, unheilbaren Erkrankungen individuelle Therapien entwickeln. In vielen Fällen wären Gentherapien sehr gut geeignet, sind Corn und Urnov überzeugt. Die Werkzeuge seien billig und flexibel. Es sei künftig nur wenig zusätzliche Forschungsarbeit für eine bestimmte Krankheit nötig. Es müsste jeweils nur der Crispr-Faden angepasst werden, die anderen Komponenten seien sozusagen Standardzutaten. Eine individuell angepasste Therapie könnte in weniger als einem Jahr parat sein.
«Eine Gentherapie mit Crispr/Cas ist keine medizinische Hexerei, sondern Ingenieurskunst», betont Urnov. Nun müssen Ärztinnen, Forscher und Zulassungsbehörden sich trauen, individuelle Behandlungen zu ermöglichen.
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