Sonntag, September 29

Den Engländern fehlt an der EM ein umsichtiger Gestalter im Spielaufbau. Deshalb ist ihre Offensive mit Phil Foden und Harry Kane bisher wirkungslos.

Die Kritik an der englischen Fussball-Nationalmannschaft hat in der Aufarbeitung des Remis gegen Dänemark eine Eigendynamik entwickelt, die den Kapitän Harry Kane fast nötigte, die als Anstifter der Aufregung fungierende britische Boulevardpresse zu beruhigen. «Don’t panic!», nur keine Panik, verfügte der Angreifer am Sonntag aus dem Team-Camp im Weimarer Land in Thüringen.

Die Expertenriege um die englischen Altinternationalen Gary Lineker und Alan Shearer, die immer urteilen, als hätte England seit dem WM-Sieg 1966 alle Turniere gewonnen und nicht verloren, hatten die beiden inspirationslosen Auftritte zu Turnierbeginn zerpflückt wie ein Erntehelfer ein reifes englisches Erdbeergut.

Sie fanden, die Leistung gegen Dänemark sei furchtbar und leblos gewesen – und der Trainer Gareth Southgate hole nicht genügend aus der Qualität der Spieler heraus. Der «Guardian» spottete, wer nach dem Spiel zusätzlich eine Nachbetrachtung des Geschehens durchgelesen habe, müsse geradezu ein Schotte sein. Die Schotten sind bekanntlich Englands Auld Enemy, der alte Feind.

Grosser Unmut über die bisherige Leistung

Angesichts des riesigen Unmuts stellt sich die Frage, wie die Empörung wohl ausgefallen wäre, wenn England gegen die Dänen verloren hätte. Das hat sich vermutlich auch der Trainer Gareth Southgate gedacht, als er beim 1:1 in der Schlussphase der Verlockung widerstand, mit einer offensiveren Ausrichtung auf Sieg zu spielen. Denn mit vier Punkten ist England quasi bereits vor dem letzten Gruppenspiel gegen Slowenien am Dienstagabend für die Achtelfinals qualifiziert.

Auch bei den vergangenen Turnieren taktierte Southgate auf diese Weise, um seinem Team die Last einer Blamage in einem Gruppenspiel zu ersparen. Der 53-Jährige hat nicht vergessen, dass das Nationalteam vor seinem Dienstantritt im Herbst 2016 zehn Jahre lang kein K.-o.-Spiel gewonnen hatte. In jener Ära handelte sich England 2014 ein WM-Vorrunden-Aus ein und 2016 eine EM-Blamage gegen Island; 2008 hatte sich die Nation nicht einmal für die EM qualifiziert.

REMEMBER what it was like to WEAR the shirt! | Harry Kane HITS BACK at Gary Lineker

In der Analyse der beiden EM-Spiele gegen Serbien und Dänemark fällt auf, dass die Three Lions keine Stabilität im Spiel fanden. Southgates Spieler dominierten zwar die Anfangsphase vielversprechend, verloren dann aber die Kontrolle und liessen sich in die Defensive drängen.

Das Muster legte ein altes Problem offen: Den Engländern fehlt ein Gestalter im Spielaufbau, der die Struktur und den Rhythmus vorgibt. Declan Rice ist in der Spielfeldmitte ein Abräumer, der umfunktionierte Rechtsverteidiger Trent Alexander-Arnold ein guter Passgeber, Jude Bellingham ein Allrounder und Phil Foden ein Freigeist. In anderen Ländern füllen Ausnahmekönner die Position des Taktgebers aus: Toni Kroos in Deutschland, Rodrigo in Spanien, Jorginho in Italien und Adrien Rabiot in Frankreich. England besass einst ebenfalls einen solchen Spieler, allerdings ist das 20 Jahre her, sein Name war Paul Scholes.

Um die fehlende Personalie zu kompensieren, spart Southgate die Position einfach ein – indem er aus einer kompakten Defensive heraus agieren lässt. An der EM 2021 setzte er auf den laufstarken Kalvin Phillips als Partner von Rice im Mittelfeld. Allerdings verlor Phillips nach seinem Wechsel zu Manchester City im Sommer 2022 sein Rendement. So war Southgate an der WM 2022 erneut auf der Suche nach einer Lösung, damals fand er sie im zweikampfstarken Jordan Henderson. Auch auf ihn muss Southgate nun verzichten. Der Routinier konnte sein Niveau nach den Transfers zu al-Ettifaq in Saudiarabien und Ajax Amsterdam nicht halten.

Im Vorfeld dieser EM spielte Southgate deshalb einige Optionen durch, am besten gefiel ihm jene mit Alexander-Arnold. Er liess ihn in der ersten EM-Partie in einem Dreier-Mittelfeld neben Bellingham und Rice spielen. In der zweiten Partie sicherten nur noch Rice und Alexander-Arnold ab, Bellingham rückte nach vorne. Als Reaktion auf die Passivität wechselte der Trainer in der zweiten Halbzeit jeweils den Pressing-Spezialisten Conor Gallagher für Alexander-Arnold ein. Nachdem sich keine der Ideen als zielführend erwies, sind Änderungen in der Startformation wohl unausweichlich.

Bekommen Mainoo und Wharton nun eine Chance?

Southgate könnte Bellingham zurückziehen oder den englischen EM-Neulingen Kobbie Mainoo und Adam Wharton eine Chance geben. Beide überzeugten zuletzt in ihren Klubs Manchester United und Crystal Palace. Doch wie auch immer sich der Trainer auf dieser neuralgischen Position entscheidet, sie wird letztlich nur im Verbund mit dem Gesamtgefüge funktionieren.

In der gegenwärtigen Statik kommen weder der linke Flügel Foden noch der Mittelstürmer Kane zur Geltung. Ihnen fehlt die Unterstützung von nachrückenden Spielern gegen kompakt verteidigende Gegner. Zudem sind die genannten Spieler allesamt exzellente Passgeber. Doch als Ballempfänger stand bisher zu oft nur der rechte Flügel Bukayo Saka zur Verfügung. Bisher haben sich weder Foden noch Bellingham im englischen Nationalteam zu Strategen entwickelt.

An den letzten Turnieren erwies sich für die Engländer jeweils die letzte Vorrundenpartie – auf Basis des quasi gesicherten Weiterkommens – als Befreiungsschlag. Auch diesmal hofft England wieder darauf.

Harry Kane konterte die Kritik der früheren Nationalspieler. Er sagte, sie seien selbst ein Teil der langen titellosen Vergangenheit des Landes und trügen mit ihren Meinungen eine Verantwortung. Nach der Presserunde schlug Kane auch noch gegen die Medien zurück – am Darts-Brett. Im Duell mit einem Reporter, der ihn herausgefordert hatte, warf Kane mit drei Pfeilen die Punktzahl 41. Sein Gegner kam nur auf 14.

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